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Filmfestspiele von Venedig: Emanuele Crialeses „L`immensità“

 

Vor 90 Jahren fanden die Filmfestspiele am Lido erstmals statt, einige Male fiel das Festival aus, so feiert man dieses Jahr die 79. Ausgabe. Vier italienische Filme sind im Hauptwettbewerb, darunter der neue Film von Emanuele Crialese, „L`immensità“ (Unermesslichkeit), starbesetzt mit Penelope Cruz in einer der beiden Hauptrollen.

Emanuele Crialese, 1965 in Rom geboren, hat in Italien und New York studiert. Für seine Filme nimmt er sich Zeit, bei Festivals tritt er zurückhaltend auf. Am 4. September hat er seinen neuen Film „L`immensità“ in Venedig präsentiert, das dritte Mal, dass er mit einem Werk im Hauptbewerb von Venedig aufscheint. L`immensità ist ein autobiografischer Film, mit dem Crialese seine sehr persönliche Geschichte öffentlich macht. Crialese wuchs in Rom in einer bürgerlichen Familie als Mädchen Emanuela auf, fühlte sich aber immer als Bub und wechselte das Geschlecht. Was bisher nur ein engerer Kreis wusste, machte Crialese mit dem Film und einer Reihe von Interviews in diesen Tagen allgemein bekannt.

L`immensità die Geschichte eines Paares in Rom in den 1970er-Jahren. Zwischen Clara und Felice gibt es keine Gefühle mehr, mit seinen drei Kindern lebt das bürgerliche Paar in einer großzügigen Wohnung in einem Hochhaus in Rom. Adriana, das älteste Kind, etwa 12 oder 13 Jahre alt, ist das Alter Ego von Regisseur Crialese; sie fühlt sich als Bub und stellt sich selbst mit dem männlichen italienischen Vornamen Andrea vor.

Adriana und ihre Mutter, Clara, gespielt von Penelope Cruz, sind die Hauptfiguren des Films: Komplizinnen und Verbündete in ihrem Unglück. Beide sind sie Gefangene, die Mutter in der Ehe mit ihrem gefühlskalten, gewalttätigen Mann, darüber hinaus in der bürgerlichen Scheinwelt. Eine Trennung kommt für Ehemann Felice nicht in Frage, auch nicht als seine junge Sekretärin von ihm ein Kind erwartet und in ihrer Verzweiflung ausgerechnet Clara um Hilfe bittet. Clara ersehnt die Trennung, doch sie hat dafür keinen Plan und keine Perspektive. Der Tochter Adriana, die Andrea sein möchte, ist sie die lebensnotwendige Stütze, indem sie sie einfach „Adri“ ruft. Clara und Adri verstehen und beschützen einander.

Innerhalb der großen bürgerlichen Familie wird Clara allein dadurch, dass sie ihre Kinder nie ohrfeigt, zur Außenseiterin und Verrückten. Mit den von ihr liebevoll umsorgten Kindern flüchtet sie sich in eine Scheinwelt, zu Raffaella Carrà tanzend decken Mutter und Kinder den Tisch. Als die Kinder mit ihren Cousins und Cousinen in ein unterirdisches Labyrinth steigen und danach von den versammelten Eltern bestraft werden sollen, rettet Clara die Situation, indem sie ein Spiel mit dem Gartenschlauch beginnt.

Crialese gelingt mit L`immensità eine berührende Erzählung über familiäres Unglück und die Abhängigkeit und das Leid vieler Frauen in den 1970er-Jahren. Dieses Leid bestehe in ähnlicher Form auch heute noch für Millionen Frauen, erklärte Hauptdarstellerin Cruz am Lido: für diese Frauen und für Regisseur Crialese habe sie an dem Film mitwirken wollen.

L`ìmmensità ist ein einfühlsamer, zärtlicher Film, vieles wird offen gesagt, vieles wird nur angedeutet. Der Film legt bürgerliche Scheinheiligkeit offen, ohne zu einer bösen Abrechnung zu geraten. Er zeigt die Verachtung der bürgerlichen Welt für die Armen in einem Strang der Erzählung, als sich Adri mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der benachbarten Armensiedlung anfreundet. Es bleibt offen, ob es Arbeiterinnen und Arbeiter oder Roma sind, die da in Baracken hausen und doch täglich fröhlich zusammensitzen; und es bleibt wohl bewusst offen, weil die bürgerliche Gesellschaft beide Gruppen gleichermaßen verachtet, Arbeiter wie Roma. Als Clara nicht mehr weiter kann und zur Erholung ins Krankenhaus muss, da untersagt Clara Adri für die Dauer ihrer Abwesenheit die Ausbrüche zur neuen Freundin; wohl aus Angst, und gleichzeitig macht sie, deren Träume alle gescheitert sind, damit auch der Tochter den einzigen aktuellen Traum zunichte.

L`immensità fängt die Atmosphäre der 1970er-Jahre perfekt ein. Der Film enthält auch eine Hommage an Patty Bravo und vor allem an die erst kürzlich verstorbene Sängerin und Entertainerin Raffaella Carrà, eine Ikone der italienischen Lesben- und Schwulenszene. Penélope Cruz berichtet in Interviews, wie sie als Kind in Spanien im Park zu Liedern Carràs tanzte; jetzt spielt sie in ihren Tagträumen in L`immensità ihr einstiges Vorbild. Und auch an Sophia Loren denkt man beim Spiel von Cruz oft, wie auch italienische Zeitungen anmerken.

L`immensità ist getragen von einem starken Drehbuch und vom großartigen Spiel der Hauptdarstellerinnen. Penélope Cruz vermag als Clara mit kleinsten mimischen Mitteln ganz viel zu sagen. Die Darstellerin Adris, die 13-jährige Luana Giuliani, hat Crialese bei Motorradrennen entdeckt, an dem Giuliani als einziges Mädchen unter Burschen teilnahm.

L`immensità ist italienisches Kino in seinem besten Sinn, voll Empathie, Menschlichkeit, voller Träume und Tagträume, die den Menschen die letzte Rettung sind. Der Film mag seine Kraft und Wirkung auch aus dem Vertrauen der Protagonisten und Protagonistinnen ineinander beziehen, wie es sich im unprätentiösen und natürlichen Auftreten von Crialese, Cruz und den weiteren Schauspielerinnen und Schauspielern am Festival spiegelte. So gelingt es dem Team, in und außerhalb des Films dann doch wieder Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln.

Fotos: Corriere della Sera, Il Gazzettino