Die Wahrung der Würde des Menschen in der gedolmetschten Kommunikation

Die Wahrung der Würde des Menschen in der gedolmetschten Kommunikation – eine Annäherung aus philosophischer und rechtlicher Sicht

Beitrag zum Band „Dolmetschen als Dienst am Menschen“ (2021)

Der Beitrag untersucht, welche Rolle der Begriff der Würde für das Dolmetschen im öffentlichen Raum spielt. Am Beginn steht eine kurze philosophische Annäherung an den Begriff der Würde, der der Arbeit von Mira Kadrić folgt. Daran schließt eine rechtliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Würde an. Gezeigt wird, dass es sich bei der Würde um einen grundlegenden Baustein des europäischen Verfassungsrechts handelt, der immer öfter in Richtlinien der Europäischen Union bearbeitet wird. Schließlich erfolgt die Anwendung der philosophisch-rechtlichen Grundlagen auf das konkrete Setting des Gerichts- und Behördendolmetschens.

„Sprachen und Identitäten sind bewegliche Annahmen, die sich politisch und gesellschaftlich ständig verändern und neu konstruieren. Der Umgang mit ihnen hat Symbolcharakter, er ist Maßstab für den Reifegrad einer Gesellschaft.“ (Kadrić 2012:25)

1 Die Würde im Werk von Mira Kadrić

So alt wie die Universitäten ist auch das Bestreben, mit der Wissenschaft dem Menschen zu dienen. Die Hochschulen bekennen sich seit jeher zu einem gesellschaftlichen Auftrag. Heute finden wir das ausdrückliche Bekenntnis dazu in ähnlichen Formulierungen in vielen Satzungen von Hochschulen. Wissenschaft und Forschung sollen demnach zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen beitragen.

Mira Kadrić (2016) hat dieses Streben, mit der Wissenschaft dem Menschen zu dienen, als Titel eines Aufsatzes gewählt („Dolmetschen als Dienst am Menschen“) und verbindet es für den Bereich der Dolmetschwissenschaft und Dolmetschdidaktik mit dem Bemühen um die Wahrung der Würde des Menschen (Kadrić 2016:107). Sie geht davon aus, dass die Wahrung der Würde grundsätzlich in allen gedolmetschten Situationen eine Rolle spielt; bei der Dolmetschung im öffentlichen Raum, etwa in medizinischen, psychosozialen und rechtlichen Settings (Kadrić 2016:110). Das Bewusstsein um die Bedeutung der Würde bei der translatorischen Tätigkeit beschäftigt Kadrić insbesondere im Zusammenhang mit der Ausbildung – sie sieht die didaktische Herausforderung darin, angehenden TranslatorInnen eine Haltung im Umgang mit Menschen zu vermitteln, die die Wahrung der Würde in gedolmetschten Kommunikationsprozessen sicherstellt (Kadrić 2016:111 und 115).[1]

Dieser Beitrag will den Gedanken der Bedeutung der Würde für die gedolmetschte Gerichts- und Behördenkommunikation weiterführen und insbesondere den bisher wenig erörterten rechtlichen Aspekt der Würde untersuchen. Die Wahrung der Würde des Menschen in der gedolmetschten Kommunikation weiterlesen

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Österreich, die angezählte Republik (falter 4/2022)

Eine leicht gekürzte Fassung des nachfolgenden Textes erschien in der Zeitschrift falter Nr 4/2022 vom 26.1.2022

Im Grunde genommen könnten wir ja zufrieden sein. Österreich verfügt über eine starke Zivilgesellschaft, eine leistungsfähige Privatwirtschaft und zahllose hochkompetente Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, die eines der immer noch besten Gesundheits-, Justiz- und Bildungssysteme der Welt aufrechterhalten. Verfassungsgerichtshof und Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sind entschlossene Verteidiger des Rechtsstaats. Die Hauptstadt Wien ist weltoffen, bunt, bestverwaltet, die Wissenschaft ist gut aufgestellt. Es gibt so viele gute und gut ausgebildete Journalistinnen und Journalisten wie nie zuvor. Und dennoch ist die Gesamtentwicklung des Landes ungünstig; Evaluierungen und laufend neue Aufdeckungen belegen das, was längst spürbar ist. Für das Ausland wird die Krise der Republik durch das Postenkarussell der letzten Monate sichtbar.

Die Probleme bestehen nicht erst seit der Ära Kurz. Die Verwaltung schwächelt schon länger. Die Pandemiebekämpfung und schlechte Klimadaten machen es sichtbar. Parteibuchwirtschaft und Netzwerkpolitik bringen oft fachlich unzureichend qualifizierte Personen in Schlüsselpositionen der Republik, die die Loyalität zu einer Partei über die zum Gesetz stellen. So kommt es, dass Akten und Handys geschreddert werden, dass Beamte Sammelbriefe unterzeichnen, in denen sie bestätigen (müssen), nichts Bedenkliches in ihrem Ministerium wahrgenommen zu haben. Das Finanzministerium bezahlt aus Steuergeldern Studien, in denen abgefragt wird, welches Tier zu welchem Politiker passt. Beamte fügen sich. Wie soll es anders sein, wenn die Politik die Respektlosigkeit gegenüber den Institutionen vorlebt? Wenn Minister dem Parlament Akten nicht liefern, wenn die Besetzung höchster Parlamentsposten nur mehr Planspielen folgt, ohne jede demokratiepolitische Sensibilität? Wenn Regierungsmitglieder in einem offenen Brief erklären, ausschließlich einem bestimmten Mann als Kanzler dienen zu wollen (was für eine bizarre Idee!), und in den nächsten Wochen aber unter gleich zwei anderen Kanzlern weiterarbeiten?

Der Blick nach Deutschland oder Italien macht neidvoll. Angesichts der großen Herausforderungen der Pandemie und der Klimakatastrophe bestimmen in diesen Ländern Sachpolitik und gemeinsame Anstrengung die Diskussion. In Italien hat Regierungschef Mario Draghi das Land wirtschaftlich, klimapolitisch und in Sachen Pandemiebekämpfung an die europäische Spitze geführt. Das deutsche Regierungsprogramm enthält ein kraftvolles Plädoyer für eine menschlichere Flüchtlingspolitik.

Anders in Österreich. Die aktuelle politische Krise, die sich in strafrechtlichen Ermittlungen gegen zahlreiche führende (Ex)Politiker, in Rücktritten und in der täglichen Regierungspolitik manifestiert, ist keine Momentaufnahme, sondern Ergebnis tiefgehender struktureller Defizite und einer jahrzehntelang abgewirtschafteten politischen, behördlichen und medialen Kultur. Dabei galt Österreich noch in den 1970er-Jahren als eine Insel der Seligen. Hier zu leben bedeutete lange Zeit Sicherheit, bedeutete frei von Gewalt und staatlicher Bedrohung zu leben, in Wohlstand und in einem Land, das immer mehr Menschen ein immer besseres Leben bieten will.

Heute bestimmen zunehmend Provinzialität, Korruption, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit das Land. Kurzfristig durchbrochen vom EU-Beitritt 1995 wendet sich Österreich seit Mitte der 1980er-Jahre in einer Endlosschleife in stets gleichem Muster Populisten zu, vermeintlichen Heilsbringern, die die Hoffnungen naturgemäß enttäuschen. All diese Prozesse bleiben unreflektiert, unaufgearbeitet. Haider war der Prototyp für die an Intellektualität und Charisma nicht an ihn heranreichenden Wiedergänger Grasser, Strache und Kurz. Ihre unangemessen hohe Bedeutung für das politische Leben konnten sie alle nur in einer von Medien miterzeugten Spektakelkultur erhalten, in der es selten um Sachfragen geht. Aus den letzten Jahren ist keine einzige einprägsame Rede eines österreichischen Regierungsmitglieds (die Übergangsregierung 2019 ausgenommen) erinnerlich, keine einzige große Idee der Regierung für das Land, keine Vision.

Österreich entwickelt sich hin zu einem labilen staatlichen Gebilde. Vielfach unzureichend qualifizierte Personen in Entscheidungsfunktionen lassen die Kompetenz der Fachbeamtenschaft zu oft ungenutzt. Die Bevölkerung spürt die Krise intuitiv und sucht ihr Heil bei Rattenfängern. Medien treiben die Selbstüberschätzung des Landes durch Schönfärberei an. Bierzeltevents der Landeshauptmann-Partei im oberöstereichischen Wahlkampf, bei denen ohne Masken Schlachtgesänge intoniert wurden, während andere Staaten an der Abschwächung der vierten Pandemiewelle arbeiteten, versinnbildlichen das Dilemma.

Mangels politischer Substanz wurde für den Kreis um Sebastian Kurz autoritär angelegtes Regieren zur einzigen Hoffnung, sich die Macht längerfristig zu erhalten – insofern bestand nie ein Unterschied zu Trump, Orban oder Berlusconi. Dass Österreich eine autoritäre Regierung nach dem Vorbild Ungarns und Polens erspart geblieben ist, ist einzig einer Reihe von Zufällen zu verdanken. Das begann mit dem knappen Wahlerfolg Van der Bellens; wer kann sicher sein, dass ein anderer Bundespräsident ein Exekutionsverfahren gegen einen Minister eingeleitet hätte, als dieser dem Parlament Akten verweigerte? Oder der Zufall des Ibiza-Videos: gäbe es dieses Video nicht, dann wüssten wir nichts von all den strafrechtlich und ethisch bedenklichen Manipulationen, nichts von den Eingriffen in die Arbeit der Staatsanwaltschaften, nichts von gefälschten Umfragen und von gelenkten Postenbesetzungen. Kurz würde weiterhin mit einem Innenminister Kickl regieren, die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wäre wohl bereits zerschlagen, so wie es Regierungsmitglieder in Aussicht gestellt hatten. Oder: Hätten StaatsanwältInnen der WKStA nicht in den Stunden nach Erscheinen des Videos die Brisanz der Situation erfasst und die Verdachtslagen juristisch unanfechtbar ausformuliert, wären alle heute so wichtigen Ermittlungen vom Justizministerium im Keim erstickt worden. Oder: wäre vor einigen Jahren die Leitung der WKStA neu besetzt worden oder hätten die Regierungsparteien Justiz- und Innenministerium untereinander anders verteilt – sehr viel spricht dafür, dass man alle brisanten Verfahren frühzeitig politisch gestoppt hätte. Aktuell überdecken die unbeirrte Arbeit von WKStA und Rechnungshof den weitgehenden Zusammenbruch der übrigen Kontrollsysteme des Landes.

Mit dem Regierungswechsel von ÖVP/FPÖ zu ÖVP/Grünen hat sich weit weniger verändert als erwartet. Zu bestimmend war die Person Kurz mit ihrer zunehmenden strafrechtlichen Bredouille: die Attacken auf Parlamentarismus und Justiz nahmen zu, um die „Familie“ zu retten. Noch im Frühjahr 2021 schlug die türkis-grüne Bundesregierung vor, Hausdurchsuchungen bei politisch brisanten Korruptionsverfahren zu verbieten. Nachdem die Zerschlagung der WKStA am öffentlichen Widerstand gescheitert war, versuchte man das Strafrecht so zu demolieren, dass es der Politik künftig nicht mehr gefährlich werden kann. Wäre das durch öffentlichen Aufschrei gestoppte Gesetzesprojekt durchgegangen, hätten die Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt im Sommer 2021 nicht stattfinden können.

Nach vier Jahren Kanzlerschaft Kurz steht die Republik vor einem Scherbenhaufen. International geriet das Land in eine Außenseiterposition. Kurz hat das Land aus Europas Mitte inhaltlich und atmosphärisch in die Visegrad-Gruppe geführt. Die Chuzpe der neuen österreichischen Politik besteht darin, sich laufend zu etwas zu bekennen und das Gegenteil zu tun. Sich zu Europa zu bekennen, aber immer nur die Rosinen aus dem europäischen Kuchen zu picken. Sich als große Regierungspartei zur Unabhängigkeit der Justiz zu bekennen und im Hintergrund um die Einstellung von Verfahren zu bemühen und Staatsanwaltschaften unter Druck zu setzen. Neueste im Medium Zackzack veröffentlichte Chats zeigen, mit welcher Unverfrorenheit man vor einigen Jahren versuchte, die sensibelsten Posten der Justiz politisch verlässlichen Personen zukommen zu lassen und unabhängige Beamte aus den Machtpositionen zu drängen. Der Unterschied zu früher: es besteht der Verdacht, dass es nicht nur um eine Jobvergabe unter Freunden ging, sondern um den Bau eines Schutzschirms für eine Regierungspartei – Verfahren laufen und werden es klären, es gilt die Unschuldsvermutung.

Chuzpe ist es auch, permanent von der Bedeutung des Kampfes gegen den Antisemitismus zu sprechen (unterstrichen durch die Geste des Hissens der israelischen Fahne), aber jemanden zum Innenminister zu machen, der sich zu Amtsbeginn für eigene antisemitisch konnotierte Aussagen entschuldigen muss. Die Besetzung des Innenministeriums mit dem Unterstützer eines Dollfuss-Museums machte aber zugleich auf ein Grundproblem der Zweiten Republik aufmerksam: der Nationalsozialismus wurde zwar spät und mangelhaft, aber doch aufgearbeitet, nicht aber Austrofaschismus und Bürgerkrieg und das dadurch ramponierte Verhältnis zwischen sozialdemokratisch und christlich-sozial gesinnten Bevölkerungsgruppen. Das schlägt sich bis heute darin nieder, dass Teile der ÖVP lieber rechtsextrem regieren als gemeinsam mit der SPÖ. Gleichzeitig zeigt sich beim Innenministerium, dass Schlüsselpositionen der Republik nicht nach Eignung, sondern nach absurden, nämlich rein regional-parteipolitischen Kriterien besetzt werden. Das hält auf Dauer kein Gemeinwesen aus.

Der beklagenswerte Zustand des Landes lässt sich nicht der ÖVP allein und ihrer langen Regierungszeit zuschreiben. Die Verantwortung trifft auch den Regierungspartner, der in keinem Bereich irgendwelche roten Linien erkennen lässt, die dem Machterhalt nicht geopfert würden. Seit Jahren verweigert Österreich die aktive Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen (als eines von nur vier EU-Ländern). Einer in Lebensgefahr befindlichen afghanischen Wissenschaftlerin wurde von Österreich kürzlich Hilfe zugesagt, die Zusage gebrochen. Der demokratiepolitische Schaden, dass eine ehemalige Kontroll- und Menschenrechtspartei sofort nach Regierungseintritt den Niedergang des Landes mitverwaltet und einen zynischen Politzugang mitträgt, ist enorm. Teilerfolge in der Justiz- und Klimapolitik rechtfertigen diesen Preis nicht. Der Parlamentarismus wird mit jedem Tag geschwächt, an dem Abgeordnete gegen ihre Überzeugungen stimmen.

Die Bilanz der Opposition fällt kaum besser aus: die größte Oppositionspartei auf Bundesebene ist seit Jahren praktisch im Koma, die zweitgrößte hetzt just in einer Pandemie gegen Wissenschaft und Medizin. Einzig die kleinste Oppositionspartei ist gut aufgestellt. All diese Faktoren, verbunden mit grassierender Korruption, machen Österreich zu einem demokratiepolitischen Sanierungsfall. Die Medien lösen auch nach den Erfahrungen der Ära Kurz die Verhaberung mit der Politik nicht. So werden im Personenkarussell laufend überforderte Regionalpolitiker zu tauglichen Regierungsmitgliedern schöngeschrieben. Das Spiel ist mittlerweile zur intellektuellen Zumutung geworden. Aufdeckungen sind zu einem guten Teil der Investigativarbeit deutscher Medien und eben Zufällen zu verdanken, wenn etwa regierungsnahen Beamten beim Bootfahren die Mobiltelefone ins Wasser fallen und die brisanten Daten im Zuge der Wiederherstellung an Medien gespielt werden.

Die Ursachen der österreichischen Misere führen auch zu den Lösungen. Es gilt an vielen Punkten anzusetzen. Etwa beim öffentlichen Dienst: Die Schwächung des Beamtenethos hat viel mit der Befristung der Verträge der Sektionschefs in den Ministerien und der damit einhergehenden Willfährigkeit vieler Spitzenbeamter zu tun, die um ihre Vertragsverlängerung laufen. Dazu kam die Einsetzung politischer Generalsekretäre in den Ministerien. All das gilt es zu überdenken. Der Wechsel von Mitarbeitern politischer Parteien in Ministersekretariate und von dort weiter direkt in Spitzenpositionen der Verwaltung schädigt den öffentlichen Dienst massiv; eine restriktive gesetzliche Lösung tut hier Not, die Ministerbüros und Informationsabteilungen der Ministerien sind auf einige wenige Planstellen zu beschränken. Finanz-, Innen- und Justizministerium sollten die zahlreichen Missstände intern aufarbeiten und so eine neue Fehler- und Kontrollkultur entwickeln und ein Beamtenethos neu aufbauen. In und außerhalb des öffentlichen Dienstes gilt es die Zivilcourage zu stärken.

Transparenz ist grundsätzlich ein wichtiges Qualitätssicherungselement der Verwaltung. Österreich könnte, orientiert an skandinavischen Vorbildern, Auftrags-, Studien- und Jobvergaben von Bund, Ländern und Gemeinden wie überhaupt alle Verwaltungsakten öffentlich machen. Ausnahmen wären nur für einige wenige Bereiche der Sicherheitsverwaltung nötig. Diese Transparenz wirkt auf alle Formen der Freunderlwirtschaft und Hinterzimmerabsprachen abschreckend. Die Einführung von Liveübertragungen aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und von öffentlichen Hearings für Spitzenpositionen im öffentlichen Dienst ist überfällig.

Ein strafrechtliches Antikorruptionspaket ist angekündigt und wichtig. Vor allem aber bedarf es eines politischen Willens, die Ressourcen neu zu verteilen – immer noch arbeitet etwa die Richterin des Buwog-Verfahrens allein an einem Großverfahren und Urteil, während die Riege der Verteidigung aus einer wohl höheren zweistelligen Zahl von Juristen besteht. Würde man den Richterinnen und Richtern von Großverfahren nur zwei oder drei juristische Sachbearbeiter zuteilen, dann wären die Verfahren schneller und die Urteile rasch ausgefertigt. Die WKStA benötigt Weisungsfreiheit in ihren Ermittlungen und ein eigenes justizpolizeiliches Ermittlerteam, um die Abhängigkeit der Justiz von der Polizei und damit vom Innenministerium zu reduzieren.

Österreichs aktuelle Schwächen liegen aber auch maßgeblich in der Inseratenkorruption und in einem Parlamentarismus begründet, der sich als Erfüllungsgehilfe von Regierungswünschen versteht. Die Rezepte zur Stärkung des Qualitätsjournalismus liegen auf dem Tisch: die Gelder für Regierungsinserate müssten gestrichen oder radikal gekürzt, die zu riesigen Propagandaabteilungen gewordenen Medienstellen mancher Ministerien aufgelöst werden. Frei werdende Gelder könnten einer Medienförderung zufließen, die sich an Qualitätskriterien wie der Zahl journalistischer Ausbildungsplätze, der Größe von Investigativ- und Kulturredaktionen uä orientiert. Mehr Ressourcen für einzelne Abgeordneten, damit diese eigenständig recherchieren und mehr Mitarbeiter beschäftigen können, würden das Parlament stärken. Ein großer zentraler Unterstützungsdienst des Parlaments könnte ein Gegengewicht zu den übermächtigen Ressourcen der Regierung bilden. Die Pandemie hat schließlich gezeigt, dass der Föderalismus in seiner jetzigen Form die Republik lähmt und beschädigt und einer grundsätzlichen Reform bedarf.

Expertinnen und Experten haben in den letzten Jahren viele Reformvorschläge zur Stärkung von Rechtsstaat und Demokratie vorgelegt, zuletzt im Rahmen des Rechtsstaats- und Antikorruptions-Volksbegehrens. All diese Ideen gälte es aufzugreifen, in einen Reformkonvent unter Leitung einer oder eines anerkannten Elder States(wo)man einfließen zu lassen. Dann wäre noch im Laufe dieses Jahres der Beschluss eines Demokratiereformgesetzes realistisch. Mit einem solchen Reformpaket und einem Wechsel vom Mittelmaß zu kompetenten Führungskräften in Politik, Verwaltung und Medien könnte Österreich, das sich zu Jahresbeginn 2022 als angezählte Republik präsentiert, die Trendwende zurück in Europas moderne Mitte schaffen.

Oliver Scheiber ist Jurist und einer der Proponenten des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens. Er gibt hier seine persönliche Ansicht wieder.

 

 

 

 

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Staatsbürgerschafts-, Fremden- und Asylrecht neu aufsetzen

Eine berührende profil-Titelgeschichte (profil 1/2022) von Edith Meinhart über Tina, Ana & Mari dokumentiert die Absurdität österreichischer Staatsbürgerschafts-, Fremden- und Asylpolitik.
Sieht man sich die einzelnen Abschiebungen hinter den statistischen Zahlen an, dann stößt man auf unzählige solcher Fälle und Biographien. Die Republik verursacht völlig unnötig so viel an menschlichem Leid. Diese Politik ist unethisch und sie ist auch rechtlich nicht geboten. Sie ist gesamtwirtschaftlich unsinnig, weil Ausbildungskosten verloren gehen und Österreich junge, ehrgeizige Menschen braucht. Sie ist unmenschlich, weil sie Menschen Kindheit und Jugend zerstört. Die Mitschülerinnen und Mitschüler erleben den Staat als zynischen, destruktiven Machtapparat, auch das können wir nicht wollen.
Österreich hat eine der rigidesten Staatsbürgerschaftsregelungen der Welt und eine zunehmend zynische Fremdenrechtspraxis. Das System sollte völlig neu aufgesetzt werden, denn die Fremdenfeindlichkeit ist längst zum Selbstzweck geworden.
https://www.profil.at/oesterreich/kinderabschiebung-der-fall-tina/401865041
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Standard-Blog Mut zum Recht: Alle Beiträge 2020/2021

Seit Dezember 2020 habe ich die Möglichkeit, für den Standard zu bloggen. Die bisher publizierten Beiträge sind hier zusammengefasst – die Original-Seiten des Standard enthalten zahlreiche thematische Links zu den Beiträgen.

Ich danke dem Standard-Team für die unkomplizierte Zusammenarbeit!

Standard-Seite:

  • https://www.derstandard.at/recht/blog-mut-zum-recht

Beiträge:

NEUER BLOG: MUT ZUM RECHT!

Mutige Rechtsanwendung: Der Richter, der den Diktator anklagte

Baltasar Garzón erließ Ende der 90er-Jahre einen internationalen Haftbefehl gegen Chiles ehemaligen Diktator Augusto Pinochet

Das Recht gilt als trocken, Juristinnen und Juristen oft als langweilig. Und tatsächlich gibt es Rechtsbereiche, die sind unsexy. Die Beschäftigung mit dem Recht an sich kann aber spannend sein. Das Recht bestimmt unsere Gesellschaft, und wer etwas verändern, verbessern will, der ist nicht selten auf rechtliche Mittel angewiesen – Klagen, Anträge, Beschwerden. Das Recht bietet uns Möglichkeiten, Tools, Werkzeuge, um die Dinge zu verändern. Das gilt für konkrete Sachverhalte, das Leben des Einzelnen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes – das Rechtsleben reicht von der Anzeige gegen den lauten Nachbarn über den Obsorgeantrag bis hin zum Volksbegehren. Empowerment gelingt oft im Wege des Rechts. Dass die Rechtswissenschaft diesen Aspekt selten betont, dass Behörden wie Bürgerinnen und Bürger sich mit eingeübtem Verwalten zufriedengeben, ist die andere Seite. Aber das muss ja nicht so bleiben.

Der Richter und der Diktator

Beginnen wir zu recherchieren, stoßen wir schnell auf Rolemodels, die uns zeigen, was das Recht so kann. Auf Baltasar Garzón zum Beispiel.

Garzón ist eine der herausragenden Richterpersönlichkeiten der Gegenwart. Als Untersuchungsrichter in Spanien griff er aus eigener Initiative zahlreiche Fälle auf. Er tat, was jedes andere Justizsystem der Welt auch hätte tun können – unter Berufung auf das Weltstrafrecht erließ er einen Haftbefehl gegen den früheren Diktator Chiles, Augusto Pinochet, wegen Folter und Ermordung spanischer Staatsangehöriger (Pinochet hielt sich in Großbritannien auf, das seine Rückreise nach Chile ermöglichte).

2012 wurde über Garzón ein elfjähriges Berufsverbot wegen Rechtsbeugung verhängt. Heute berät er Julian Assange in Rechtsfragen.
Foto: EPA/NEIL HALL

Garzón initiierte zahlreiche weitere spektakuläre Ermittlungen – unter anderem gegen die Führung der früheren Militärdiktatur Argentiniens, gegen Mitglieder der Terrororganisation Al-Kaida, aber auch gegen Verantwortliche des US-Anhaltelagers Guantánamo wegen des Verdachts der Folter. Gegen den früheren Ministerpräsidenten Italiens, Silvio Berlusconi, strengte Garzón ein Korruptionsverfahren an. Als Garzón begann, wegen Verbrechen der Franco-Diktatur zu ermitteln, fiel er in Spanien in Ungnade – er wechselte schließlich zum Internationalen Strafgerichtshof. Seine Leistungen wurden mit 21 Ehrendoktoraten, bis auf eines alle von nichtspanischen Universitäten verliehen, gewürdigt. (Oliver Scheiber, 9.12.2020)

MUT ZUM RECHT!

Gesunkene Schiffe und Social-Media-Kraken: Vorbilder im Rechtsbereich

Max Schrems gegen Facebook oder der Prozess gegen Udo Proksch – auch in Österreich gibt es außergewöhnliche Rechtsverfahren

Im letzten Blogbeitrag war von Baltasar Garzón die Rede, dem spanischen Untersuchungsrichter, der gegen lateinamerikanische Diktatoren, gegen Berlusconi und die Täter des Franco-Regimes ermittelt hatte. Sehen wir uns in Österreich um, dann stoßen wir auf gar nicht wenige Juristinnen und Juristen, die oft im Alleingang aus gewohnten Bahnen ausbrechen und zur Rechtsentwicklung beitragen oder juristische Durchbrüche bewirken.

Schiff versenkt!

Etwas länger zurück liegt das sogenannte Lucona-Verfahren. Ende der 1980er-Jahre erhob die Staatsanwaltschaft Wien Anklage gegen Udo Proksch, Liebling der Wiener Szene und eng verbunden mit roten Regierungskreisen. Die Anklage warf ihm mehrfachen Mord vor – Proksch sollte einen Versicherungsbetrug begangen haben, indem er ein hoch versichertes Schiff, die Lucona, vorsätzlich zum Untergang gebracht hätte. Freilich lag zu Beginn der Hauptverhandlung nur eine Indizienkette vor, denn das Schiff war bis dahin weder gesucht noch gefunden worden. Der Richter der Hauptverhandlung, Hans-Christian Leiningen-Westerburg, holte nach, was die Staatsanwaltschaft verabsäumt hatte: Er beauftragte die US-Firma Oceaneering mit der Suche nach dem Schiff, fuhr selbst am Suchschiff mit und tatsächlich – nach einigen Wochen fand man die Lucona am Boden des Indischen Ozeans, die Sprengung des Schiffes war bewiesen. Damit war der Prozessausgang vorgegeben, Proksch wurde wegen Mordes verurteilt.

Einsprachig zu schnell gefahren

Von der Justiz zur Anwaltschaft: Seit 1955 sollten in Kärntens zweisprachigen Gemeinden slowenisch-deutsche Ortstafeln stehen, Österreich kam dieser Verpflichtung lange nicht nach. Vor rund 20 Jahren erhielt der Kärntner Rechtsanwalt Rudi Vouk, Angehöriger der slowenischen Volksgruppe, ein Strafmandat wegen Schnellverfahrens im Ortsgebiet einer zweisprachigen Gemeinde. Das brachte ihn auf eine Idee: Er bekämpfte das Strafmandat mit dem Argument, die einsprachige Ortstafel sei eine nicht gehörig kundgemachte Verordnung, das Ortsgebiet hätte zweisprachig ausgeschildert sein müssen, um eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h festzulegen. Er sei, so argumentierte Vouk, 60 km/h gefahren, wo er von Rechts wegen 100 km/h hätte fahren dürfen. Nach vielen Jahren landete der Fall beim Verfassungsgerichtshof, der entschied: Die Ortstafel hat zweisprachig zu sein – was die Republik Österreich noch immer nicht zur Umsetzung der Verpflichtung aus dem Staatsvertrag veranlasste.

Gegen die Datenkraken

Eine wahre David-Goliath-Geschichte sind die Verfahren, die der österreichische Jurist Max Schrems in den letzten zehn Jahren gegen den Facebook-Konzern angestrengt hat. 2015 hob der Europäische Gerichtshof über Betreiben von Schrems das Abkommen zum Datentransfer aus der EU in die USA auf (Safe-Harbor-Abkommen); im Sommer 2020 kippte der Europäische Gerichtshof die EU-US-Datenschutzvereinbarung „Privacy Shield“. Diese Verfahren haben ganz maßgeblich zur Sensibilisierung für die von Facebook praktizierte Weitergabe und Verwertung privater Daten beigetragen und sie etwas eingedämmt.

Max Schrems kämpft seit zehn Jahren gegen Facebook und dessen Daten-Policy.
Foto: EPA/JULIEN WARNAND

Die Reihe ließe sich fortsetzen; beharrliche und kreative Anwendung des Rechts bewirkt oft über das Einzelverfahren hinausgehende gesellschaftliche Fortschritte und Korrekturen. So wie der Weg zur Gleichheit nicht nur über Gesetze, sondern auch viele Klagen, Verfahren und Urteile führt, so wird etwa die Klimakrise neue Wege erfordern, innerhalb und außerhalb des Rechts. Und Persönlichkeiten mit Kreativität und Mut. (Oliver Scheiber, 16.12.2020)

MUT ZUM RECHT!

Was bedeutet es, im Gefängnis zu sein?

Heute ist man nicht nur von der Familie oder Freunden getrennt, sondern auch von der digitalen Welt ausgeschlossen

Wir alle fühlen uns im Lockdown eingesperrt. Nicht ins Café oder Gasthaus dürfen, kein Zusammensein mit Freundinnen und Freunden, keine Möglichkeit, ins Theater zu gehen oder ins Ausland zu reisen. Obwohl viele von uns zur Arbeit gehen und wir Spaziergänge machen, fühlt es sich doch nach einer starken Beschränkung an. Social Media und Smartphone bekommen noch mehr Bedeutung als in gewöhnlichen Zeiten.

Apropos Smartphone: Wenn wir unser Smartphone verlegen, bringt uns das schnell aus der Fassung. Suchen wir es eine Viertelstunde lang vergeblich, macht das die meisten von uns nervös. Haben wir das Handy zu Hause vergessen, dann stört das in der Regel unseren Tagesablauf im Job oder auf der Uni: Kontaktdaten sind nicht zur Hand, wir können Nachrichten von Kollegen, Kindern, Partnern, Eltern nicht empfangen.

Eingesperrt

Hält man sich all das vor Augen, wird schnell klar, was eine Haftstrafe heute bedeutet: eingesperrt in einen kleinen Raum, im besten Fall in eine Wohngemeinschaft. Für Monate. Oder Jahre, manchmal viele Jahre. Abnabelung von der Welt, vor allem von der eigenen Welt, der Familie, von Freundinnen und Freunden. Rund 9.000 Menschen sind in Österreich in Haft, rund 2.000 davon in Untersuchungshaft, der Rest als verurteilte Täterinnen und Täter im Strafvollzug oder im Maßnahmenvollzug für psychisch kranke Straftäterinnen und Straftäter.

Gefängnis bedeutet, eingesperrt zu sein. In den einzelnen Justizanstalten herrschen unterschiedliche Bedingungen, allein aufgrund der räumlichen Gegebenheiten. Sehr verbreitet ist die Unterbringung in Mehrbettzellen, obwohl Europaratsstandards ein Recht auf Einzelunterbringung vorsehen. Untertags gibt es öfter die Möglichkeit, sich in einem größeren Gangbereich frei zu bewegen. Der Personalmangel der Justizanstalten führt aber zu langen Einschlusszeiten – viele Insassen sind also 16 Stunden am Tag in der Zelle eingeschlossen. Das bedeutet, die meiste Zeit auf engem Raum zu verbringen – Fernsehkonsum wird zur Hauptablenkung und Hauptbeschäftigung. Das Abendessen wird oft am späten Nachmittag ausgegeben, das Licht zu früh abgedreht.

Justizanstalt Wien-Simmering.
Foto: Robert Newald(Robert Newald Photo)/derstandard

Ausgeschlossen vom Internet

Immer wieder werden Smartphones in die Gefängnisse geschmuggelt. Die Regel aber ist: Gefängnisinsassen haben weder Smartphone noch Internetzugang. Damit entfällt das, was sonst zu unser aller Leben gehört: Fotos der Kinder und Partner zu erhalten, auf Social Media mitzuverfolgen, was Freunde und Angehörige so machen. Es entfällt die Möglichkeit, Onlinemedien zu konsumieren oder sich im Internet fortzubilden, vielleicht sogar ein Fernstudium zu absolvieren. Auf diese Weise unterscheiden sich das Leben in und außerhalb des Gefängnisses noch stärker voneinander, als das in früheren Zeiten der Fall war: Zum Abgeschnittensein von der realen Welt mit ihrer hohen Geschwindigkeit und Mobilität kommt noch der Ausschluss aus der digitalen Welt. Häftlinge müssen so zwangsläufig den Anschluss verlieren: an ihre Familie, ihre Partner, an die Entwicklung der Welt. All das macht den Wiedereinstieg in den Alltag nach der Haftentlassung unnötig schwierig. An den Feiertagen wird das deutlich: irgendwann ein kurzer persönlicher Besuch im Gefängnis, aber keine Möglichkeit, SMS zu empfangen, Smileys zu schicken, über Video zu telefonieren. Kein E-Mail, kein Whatsapp, kein Facebook oder Insta.

Diese Rahmenbedingungen erschweren die Resozialisierung und erhöhen die Rückfallgefahr. Erste Staaten haben das erkannt und überlegen, wie man, die Missbrauchsgefahr gering haltend, Häftlingen den Zugang zu Internet und Smartphone ermöglichen kann. Die Schweiz und Frankreich arbeiten an Pilotprojekten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht kein allgemeines Recht auf Internetzugang für Häftlinge, gewährt den Zugang aber in begründeten Einzelfällen. Jedoch: Die Rechtsprechung ist wohl im Fluss. (Oliver Scheiber, 8.1.2021)

MUT ZUM RECHT!

Abhängige Staatsanwaltschaften: Das schwächliche System

Es braucht unabhängige Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, um gegen Korruption vorgehen zu können

Eine gemeinsame Recherche von STANDARD, „Profil“ und „ZiB 2“ brachte vergangene Woche neue Turbulenzen innerhalb des Justizsystems zutage. Das sind schlechte Nachrichten, denn erfolgreiche Korruptionsverfolgung braucht vor allem Ruhe und Entschlossenheit innerhalb der Strafverfolgung.

Die aktuellen Kalamitäten, die sich nun seit Jahren aufbauen und auch öffentlich ausgebreitet werden, sind in der Struktur des österreichischen Staatsanwaltschaftssystems angelegt. Dass sie erst jetzt so öffentlich werden, ist allein dem Geschick früherer Funktionsträger zuzuschreiben.

Berichte nach oben

Worum geht es? Richterinnen und Richter sind unabhängig; sie müssen niemandem berichten und sind an keine Weisungen gebunden. Ganz anders ist es bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten: Sie sind weisungsgebunden, eine lange Kette prüfender Stellen steht über ihnen. Am Ende der Weisungskette steht der Justizminister. Ermittelt eine Staatsanwältin etwa gegen den Finanzminister und plant Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen, Festnahmen, dann ist sie bei diesen Ermittlungen an Weisungen des Justizministers gebunden – und muss laufend alle Schritte nach oben berichten, was zu erheblichen Verzögerungen führt und auch viel Raum für das Hinausdringen von Informationen aufmacht. Vor allem die vielen Berichte in politisch heiklen Causen demotivieren Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und binden Ressourcen, die für die Ermittlungen gebraucht würden. Eine der stärksten österreichischen Staatsanwältinnen hat vor kurzem das Handtuch geworfen – wenig verwunderlich.

Zur Weisungsgebundenheit kommt ein zweiter Punkt, der in der Diskussion meist übersehen wird: Das Justizministerium entscheidet auch über die Karrieren von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten. Junge Staatsanwältinnen und Staatsanwälte werden, wenn sie nicht mit Naivität geschlagen sind, gemischte Gefühle haben, wenn sie gegen Parteikollegen oder Regierungspartner des aktuellen Justizministers ermitteln.

Das Justizministerium muss den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Glaubwürdigkeit wieder herstellen

Die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaften vom Justizminister beziehungsweise der Justizministerin schwächt das System der öffentlichen Anklage, ganz besonders naturgemäß im Bereich der Verfolgung von Korruption und Wirtschaftskriminalität. Eine Weisungsgebundenheit gegenüber der Politik gibt es außer in Österreich nur mehr in Deutschland; dort arbeitet man an einer Reform. Alle anderen EU-Mitglieder haben ihren Staatsanwaltschaften bereits mehr politische Unabhängigkeit eingeräumt – mit dem österreichischen System wäre ein EU-Beitritt heute nicht mehr denkbar, es entspricht nicht mehr rechtsstaatlichen Standards.

Das aktuelle Regierungsprogramm will den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen – die aktuellen Vorgänge zeigen, es ist fünf vor zwölf. Die Regierung muss, will sie in der Korruptionsbekämpfung glaubwürdig bleiben, rasch handeln. Es gibt unterschiedliche Vorbilder für eine Reform, bis hin zum italienischen Modell, das am weitesten geht und unter dem Aspekt entschlossener Ermittlungen gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität am überzeugendsten ist: völlig unabhängige Staatsanwaltschaften. Diese Unabhängigkeit hat es Italiens Staatsanwaltschaften ermöglicht, dass vor wenigen Tagen der größte Mafiaprozess seit mehr als 30 Jahren starten konnte. Der bekannte Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri klagte mehr als 350 Mafiosi an. Die Kontrolle der Staatsanwaltschaften ist auch in einem solchen Modell garantiert: Denn das gesamte staatsanwaltschaftliche Handeln steht immer unter der Kontrolle der Gerichte. Es braucht keine Bürokratien, die engagierten Ermittlerinnen und Ermittlern Hölzer zwischen die Beine werfen und sie an die Leine nehmen. (Oliver Scheiber, 20.1.2021)

MUT ZUM RECHT!

Abhängige Staatsanwaltschaften: Das schwächliche System

Es braucht unabhängige Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, um gegen Korruption vorgehen zu können

Eine gemeinsame Recherche von STANDARD, „Profil“ und „ZiB 2“ brachte vergangene Woche neue Turbulenzen innerhalb des Justizsystems zutage. Das sind schlechte Nachrichten, denn erfolgreiche Korruptionsverfolgung braucht vor allem Ruhe und Entschlossenheit innerhalb der Strafverfolgung.

Die aktuellen Kalamitäten, die sich nun seit Jahren aufbauen und auch öffentlich ausgebreitet werden, sind in der Struktur des österreichischen Staatsanwaltschaftssystems angelegt. Dass sie erst jetzt so öffentlich werden, ist allein dem Geschick früherer Funktionsträger zuzuschreiben.

Berichte nach oben

Worum geht es? Richterinnen und Richter sind unabhängig; sie müssen niemandem berichten und sind an keine Weisungen gebunden. Ganz anders ist es bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten: Sie sind weisungsgebunden, eine lange Kette prüfender Stellen steht über ihnen. Am Ende der Weisungskette steht der Justizminister. Ermittelt eine Staatsanwältin etwa gegen den Finanzminister und plant Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen, Festnahmen, dann ist sie bei diesen Ermittlungen an Weisungen des Justizministers gebunden – und muss laufend alle Schritte nach oben berichten, was zu erheblichen Verzögerungen führt und auch viel Raum für das Hinausdringen von Informationen aufmacht. Vor allem die vielen Berichte in politisch heiklen Causen demotivieren Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und binden Ressourcen, die für die Ermittlungen gebraucht würden. Eine der stärksten österreichischen Staatsanwältinnen hat vor kurzem das Handtuch geworfen – wenig verwunderlich.

Zur Weisungsgebundenheit kommt ein zweiter Punkt, der in der Diskussion meist übersehen wird: Das Justizministerium entscheidet auch über die Karrieren von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten. Junge Staatsanwältinnen und Staatsanwälte werden, wenn sie nicht mit Naivität geschlagen sind, gemischte Gefühle haben, wenn sie gegen Parteikollegen oder Regierungspartner des aktuellen Justizministers ermitteln.

Das Justizministerium muss den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Glaubwürdigkeit wieder herstellen

Die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaften vom Justizminister beziehungsweise der Justizministerin schwächt das System der öffentlichen Anklage, ganz besonders naturgemäß im Bereich der Verfolgung von Korruption und Wirtschaftskriminalität. Eine Weisungsgebundenheit gegenüber der Politik gibt es außer in Österreich nur mehr in Deutschland; dort arbeitet man an einer Reform. Alle anderen EU-Mitglieder haben ihren Staatsanwaltschaften bereits mehr politische Unabhängigkeit eingeräumt – mit dem österreichischen System wäre ein EU-Beitritt heute nicht mehr denkbar, es entspricht nicht mehr rechtsstaatlichen Standards.

Das aktuelle Regierungsprogramm will den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen – die aktuellen Vorgänge zeigen, es ist fünf vor zwölf. Die Regierung muss, will sie in der Korruptionsbekämpfung glaubwürdig bleiben, rasch handeln. Es gibt unterschiedliche Vorbilder für eine Reform, bis hin zum italienischen Modell, das am weitesten geht und unter dem Aspekt entschlossener Ermittlungen gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität am überzeugendsten ist: völlig unabhängige Staatsanwaltschaften. Diese Unabhängigkeit hat es Italiens Staatsanwaltschaften ermöglicht, dass vor wenigen Tagen der größte Mafiaprozess seit mehr als 30 Jahren starten konnte. Der bekannte Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri klagte mehr als 350 Mafiosi an. Die Kontrolle der Staatsanwaltschaften ist auch in einem solchen Modell garantiert: Denn das gesamte staatsanwaltschaftliche Handeln steht immer unter der Kontrolle der Gerichte. Es braucht keine Bürokratien, die engagierten Ermittlerinnen und Ermittlern Hölzer zwischen die Beine werfen und sie an die Leine nehmen. (Oliver Scheiber, 20.1.2021)

MUT ZUM RECHT!

Wo bleibt eine unabhängige Kontrolle der Polizei?

Vorwürfe gegen polizeiliches Handeln führen kaum zu Verurteilungen. Es fehlt eine unabhängige Kontrollinstanz in Österreich

Anfang dieses Jahres starb eine Wiener Pensionistin in ihrer Wohnung durch Schüsse von Wega-Beamten. Was genau passiert ist, werden Ermittlungen zeigen. Die meisten Berichte stimmen darin überein, dass die Frau psychisch krank und pflegebedürftig war und sehr zurückgezogen in ihrer Wohnung lebte. Als ihre Pflegerin an einem der ersten Jännertage zur Wohnung der Frau kam, öffnete die Pensionistin mit einem Messer in der Hand. Die Heimhilfe verständigte die Polizei. Die lokalen Polizeibehörden zogen die Wega bei. Nach Polizeiangaben öffnete die Frau auch der Polizei mit dem Messer in der Hand und attackierte Beamte, woraufhin tödliche Schüsse fielen. Es erinnert an Szenarien, wie wir sie aus den USA kennen und kritisieren.

Es gibt für den Staat kaum schlimmere Szenarien, als wenn Bürgerinnen oder Bürger durch Waffengewalt sterben. Der aktuelle Fall erinnert uns an ganz allgemeine Fragestellungen: Wie soll unsere Polizei ausgebildet und ausgestattet sein, welche Strategien verfolgt sie, und wie wird sie kontrolliert?

Vorbild und Eskalation

Die österreichische Polizei leistet in vielen Bereichen exzellente Arbeit. Im Bereich der häuslichen Gewalt sind spezialisierte Beamtinnen und Beamte rasch vor Ort, das Modell des österreichischen Gewaltschutzgesetzes war vielen anderen Staaten bereits ein Vorbild. Von einem aufgeklärten und menschenrechtlich geprägten Zugang her sind Polizeistrategien zu bevorzugen, die auf gute Ausbildung, gute Kommunikation und deeskalierende Zugänge der Polizei setzen. Das umfasst etwa auch Fragen der Uniform, der Farbgestaltung von Uniformen und so weiter – Studien zeigen, welchen Einfluss Uniform und Auftreten der Polizei haben. Sowohl im lokalen Bereich, also in der Grätzelarbeit, als auch zum Beispiel bei Demonstrationen bewähren sich deeskalierende Polizeistrategien.

Bei allen Tendenzen zur Aufrüstung und Militarisierung von Polizeibehörden sollten wir stutzig werden – sie setzen meist eine Eskalationsspirale in Gang, die zu einer hohen Zahl an Zwischenfällen und Gewalt führt. Evaluiert man den aktuellen Fall der getöteten Pensionistin, so scheint die Schlüsselentscheidung jene gewesen zu sein, die Sondereinheit Wega beizuziehen. Man wird sich fragen müssen, ob nicht, in Kenntnis der Tatsache, dass die Frau psychisch krank war, die Beiziehung eines psychologischen Diensts naheliegender gewesen wäre als die Einbindung der Wega. Denn die Frau war in ihrer Wohnung, es gab keinerlei dringenden Handlungsbedarf.

Waffengewalt führt unweigerlich zu einer Diskussion über die Ausbildung und die Kontrolle der Polizei in Österreich.
Foto: APA/WOLFGANG SPITZBART

Mehr Effizienz und Sensibilität bei der Kontrolle der Polizei

Damit sind wir beim Thema der Kontrolle polizeilichen Handelns. Bei dem Thema tritt man in Österreich seit Jahrzehnten auf der Stelle. Nur eine sehr geringe Zahl von Vorwürfen gegen die Polizei führt zu Verurteilungen – internationale Stellen haben oftmals gerügt, dass es an einer unabhängigen Untersuchungsstelle fehlt. Die Politik konnte sich bisher nicht entschließen, polizeiliches Handeln von rechtlich und faktisch unabhängigen Organen untersuchen zu lassen – vor allem in den wichtigen ersten Stunden und Tagen nach einem Zwischenfall. Das aktuelle Regierungsprogramm sieht immerhin schon die „Ausarbeitung einer Reform des Rechtsschutzes mit dem Ziel der europa- und verfassungsrechtlich geforderten Unabhängigkeit der Kontrollinstanz“ vor. Im gegenständlichen Fall wurde die Untersuchung des Vorfalls von der Wiener Polizei an steirische Polizeibehörden abgegeben. Eine ganz andere Qualität und Vertrauensbasis hätte es zum Beispiel, wenn die zuständigen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte von der ersten Stunde an die Ermittlungen übernommen und Vernehmungen selbst geführt hätten – die österreichische Strafprozessordnung würde dies jetzt schon erlauben und nahelegen.

Und auch wenn es die Frau nicht mehr ins Leben zurückholt und nur ein Nebenaspekt sein mag: Dass die Polizeispitze nach einem solchen Vorfall kein Wort des Bedauerns und des Beileids findet, vielmehr eine psychisch kranke alte Frau via Pressearbeit zur „Täterin“ stigmatisiert, passt nicht zu unserer Republik und tut weh. (Oliver Scheiber, 25.1.2021)

MUT ZUM RECHT!

Gefährlicher Spitzensport: Wo die Vernunft auslässt, muss der Gesetzgeber eingreifen

Beim Hahnenkammrennen setzen die Verantwortlichen auf Spektakel statt auf Sicherheit. Gesetze sollen die Sportler schützen

Das traditionelle Hahnenkammrennen in Kitzbühel hat dieses Jahr mehrere schwer verletzte Sportler gefordert. Dass das so kam, geht auf grobe Fahrlässigkeiten zurück – es ist Zeit, einen Schutz der Sportlerinnen und Sportler auf gesetzlicher Ebene anzudenken.

Was ist passiert? Die Streif ist eine der spektakulärsten Skirennstrecken der Welt. Doch Steilhang und Mausefalle reichen nicht aus, der Sprung kurz vor dem Ziel wird zur weiteren Schlüsselstelle ausgebaut. Bereits 2008 und 2009 forderte der Zielsprung mit dem US-Amerikaner Scott Macartney und dem Schweizer Daniel Albrecht zwei Opfer. Beide Sportler erlitten ein Schädel-Hirn-Trauma, Albrecht lag mit Lungenquetschungen drei Wochen im Koma.

2021 fand das Hahnenkammrennen ohne Publikum vor Ort statt, es wurde zum reinen Fernsehereignis. Man kann streiten, ob die Durchführung von Sportereignissen während des Lockdowns sinnvoll ist, es gibt gute Argumente dafür und dagegen. Bereits im Training zur Abfahrt warnten die weltbesten Abfahrer nach dem Abschwingen vor den Gefahren des Zielsprungs. Der Franzose Johan Clarey stürzte im Training bei einer Geschwindigkeit von rund 140 km/h als Erster am Zielsprung, blieb aber unverletzt. Spitzenathlet Dominik Paris meinte nach dem Training: „Kurz vor dem Absprung ist eine ganz leichte Welle. Wenn man da vorspringt, bekommt man Luft von unten, und es wird ziemlich hoch. Da wird man ein bisschen abtragen müssen. Wenn man im Rennen mit Vollgas hinfährt, dann wird das zu weit.“ Der Österreicher Max Franz schloss sich ihm an: „Mir war gestern der Zielsprung schon zu weit. Sie haben aber gesagt, sie haben was dran gemacht. … Bei diesem Sprung wird es gefährlich. …Weit springen können wir, aber solche Sachen dürfen nicht passieren.“

Das Rennen selbst am Freitag musste nach Stürzen mehrmals unterbrochen werden. Nach dreieinhalb Stunden sind erst 28 Läufer im Ziel, und der Bewerb wird abgebrochen. Der US-Amerikaner Ryan Cochran-Siegle und der Schweizer Urs Kryenbühl wurden nach schweren Stürzen mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen, Kryenbühl war am Zielsprung verunglückt.

Florian Schieder auf der Streif, die in diesem Jahr wieder einige Verletzte forderte.
Foto: AFP/JOE KLAMAR

Schutz der Spitzensportler

Medien schrieben: „Wieder einmal war die Streif ihrem Ruf als weltweit gefährlichste Strecke gerecht geworden.“

Zurück bleibt ein schaler Nachgeschmack. Sportereignisse ohne Publikum vor Ort haben ohnedies etwas Gespenstisches. In diesem Rahmen, inmitten des Lockdowns, wirkt das Aufbereiten der Strecken für ein Spektakel mit immer höheren Geschwindigkeiten und weiteren Sprüngen und damit für mehr Risiko und mehr Gefahren für die Sportler noch absurder. Die Sportler hatten im Vorfeld deutlicher als sonst vor den Gefahren gewarnt, die Topleute hatten das Risiko übereinstimmend als zu hoch eingeschätzt und lagen richtig. Die Gier der Verantwortlichen nach spektakulären Fernsehbildern und damit höheren Quoten und noch besseren Vermarktungsmöglichkeiten in Zukunft war offenbar stärker – es wäre ja kein großes Problem gewesen, den Zielsprung abzugraben oder durch die Kurssetzung davor die Geschwindigkeit deutlich herabzusetzen.

Man kann nicht alles gesetzlich regeln und beschränken. Schon gar nicht im Sport, wo sich Menschen bewusst einem Risiko aussetzen. Aber im Spitzensport wird häufig zu leichtfertig mit Leben und Gesundheit der sportlichen Akteurinnen und Akteure umgegangen. Ganz offenkundig ist der Druck auf die Sportlerinnen und Sportler so hoch, dass sie ihre Experteneinschätzungen gegen die wirtschaftlichen Interessen nicht durchsetzen können. Deshalb sollte der Gesetzgeber auch hier eingreifen. Es geht darum, Leben und Gesundheit der Sportler zu schützen, aber auch für die Öffentlichkeit und gerade die Jugend ein Signal zu setzen, dass den Risiken für Leben und Gesundheit grundsätzlich, auch in diesem öffentlichen Rahmen der Großveranstaltung, Grenzen gesetzt sind. Die rechtliche Ausgestaltung muss man sich gemeinsam überlegen, denkbar ist vieles. Von einem gesetzlichen Mitsprache- und Entscheidungsrecht der Sportlerinnen und Sportler bis hin zur Fixierung von Höchstgeschwindigkeiten – es gibt kein Recht der Veranstalter, Sponsoren und Zuseherschaft auf Geschwindigkeiten über 100 km/h. Auch in der Formel 1 ist es schon vor vielen Jahren gelungen, durch das strikte Reglement mehr Sicherheit zu schaffen und die Zahl der schweren Unfälle zu verringern.

Da es in den Skiverbänden dieses Verantwortungsgefühl offenkundig nicht gibt, ist nun der Gesetzgeber am Zug. (Oliver Scheiber, 28.1.2021)

MUT ZUM RECHT!

Klimafragen landen immer öfter vor Gericht

Sechs Jugendliche klagten 33 Staaten an, dass sie zu wenig gegen die Klimakrise unternehmen und die Gesundheit und Zukunft einer ganzen Generation aufs Spiel setzen

Der Klimawandel wird in Zukunft immer öfter Thema vor Gericht sein. In einigen deutschen Gemeinden haben Bürger bereits auf dem Rechtsweg Tempobeschränkungen im Straßenverkehr durchgesetzt, um die Luftqualität zu verbessern und die Erreichung der Klimaziele zu fördern. In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof vor kurzem die erste große Klimaklage von Wissenschaftern und Bürgern abgewiesen. Nun gibt es eine spannende Entscheidung eines französischen Berufungsgerichts, die einen starken Bezug zum Umweltthema aufweist – das Gericht verbot die Abschiebung eines an Asthma leidenden Mannes nach Bangladesch. Begründet wurde das damit, dass die Städte Bangladeschs zu den Orten mit der schlechtesten Luftqualität weltweit zählen und der Mann dort eine sehr geringe Lebenserwartung haben könnte.

Die Jungen klagen die Staaten an

Schauplatzwechsel zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Für viele überraschend hat der EGMR ein Verfahren zu Klimafragen zugelassen und nicht vorab zurückgewiesen. Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Beschwerdeführer vor dem EGMR sind sechs portugiesische Staatsangehörige zwischen acht und 21 Jahren. Die Kläger wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen 33 Staaten, neben Portugal zählt auch Österreich zu den beklagten Staaten. Die 33 beklagten Staaten sind jene europäische Staaten, die zwar das Übereinkommen von Paris zur Eindämmung des Klimawandels ratifiziert haben, aber die dort vorgegebenen Ziele bisher verfehlen. Die Kläger führen aus, dass sie wegen der Nichterreichung des im Pariser Übereinkommen definierten Ziels der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius und in weiterer Folge der maßgeblichen Emissionsminderung in ihrem Recht auf Leben und auf Privatleben verletzt würden. Die Klimaerwärmung treffe besonders ihre Generation, sie seien dadurch auch im Verhältnis zu den älteren Generationen diskriminiert.

Portugal wird immer öfter von verheerenden Bränden heimgesucht.
Foto: AP Photo/Sergio Azenha

Die Kläger erklären in ihrem Antrag, dass die Schadstoffemissionen zur Klimaerwärmung beitragen, die wiederum die jährlich in Portugal in der Nähe ihrer Wohnorte auftretenden Waldbrände mitverursachen. Die Waldbrände bedeuteten Gesundheitsgefährdungen für sie und würden bei ihnen tatsächlich zu Schlafproblemen, Allergien und Atemproblemen führen. Zeitweise seien die Schulen in der warmen Jahreszeit wegen der Brände geschlossen, auch ein Aufenthalt im Freien sei nicht möglich. Mehrere Beschwerdeführer geben an, dass infolge des Klimawandels der Anbau von Gemüse auf den Feldern ihrer Familien nicht mehr möglich sei.

Die Beschwerdeführer argumentieren rechtlich damit, dass die Europäische Menschenrechtskonvention im Lichte der UN-Kinderrechtskonvention auszulegen sei. Die 33 europäischen Staaten würden durch das Unterlassen von Maßnahmen zur Reduktion der Schadstoffemissionen eine Verletzung der aus der EMRK abzuleitenden staatlichen Gewährleistungspflichten begehen. Die Beschwerdeführer geben an, ihr Anliegen sei vor dem Hintergrund der steigenden Klimaerwärmung von so hoher Dringlichkeit, dass sie den Gerichtshof ersuchen, ihnen nicht die Ausschöpfung aller Instanzen in den 33 Staaten aufzuerlegen – das wäre normalerweise Voraussetzung für die Anrufung des Straßburger Gerichtshofs. Die Kläger geben an, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammten und dass der Rechtsweg in 33 Staaten für sie eine zu hohe Bürde wäre. Der EGMR müsse den Schutz vor den Regierungen übernehmen und die Beschwerdeführer vor den Bedrohungen des Klimawandels schützen.

All diese Verfahren bietet einen Hinweis darauf, welche vielfältigen Facetten Umwelt- und Klimathemen in Zukunft auch in rechtlicher Hinsicht haben werden. Die Universität Graz hat dem Rechnung getragen, indem sie im Jahr 2020 erstmals eine Professur für Klimarecht eingerichtet hat. (Oliver Scheiber, 18.2.2021)

MUT ZUM RECHT!

Türkei tritt aus Istanbul-Konvention aus: Rückbau der Menschenrechtsordnung

Das Infragestellen zentraler Grundrechte ist immer ein Angriff auf Demokratie, Zivilisation und Frieden

Der Aufbau einer gemeinsamen Menschenrechtsordnung war nach 1945 Europas Konsequenz aus Faschismus und Krieg. Die zentrale Rolle kam dabei zunächst dem Europarat zu, in dessen Rahmen die Europäische Menschenrechtskonvention ausgearbeitet wurde. Sie wurde 1950 in Rom unterzeichnet und ist bis heute das zentrale europäische Menschenrechtsdokument. Im Laufe der Jahrzehnte haben der Europarat und die Europäische Union den europäischen Menschenrechtsbestand laufend abgesichert und weiter ausgebaut. Der Europarat hat auf den Gebieten des Menschenhandels, der Terrorismus- und Korruptionsbekämpfung oder des Schutzes von Kindern und Frauen wichtige Übereinkommen ausgearbeitet.

Bekämpfung der Gewalt an Frauen

Die sogenannte Istanbul-Konvention ist eines der wichtigsten Übereinkommen des Europarats. Sie wurde im Jahr 2011 als „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ von 13 Staaten, darunter Österreich, in Istanbul unterzeichnet. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich darin verbindlich zur umfassenden Bekämpfung aller Formen von Gewalt an Frauen. Die Konvention befasst sich mit Präventionsmaßnahmen, mit dem Opferschutz und mit Vorgaben für die Strafverfolgungsbehörden. Unter anderem hat die Konvention zum Ausbau von Opferschutzeinrichtungen in vielen europäischen Staaten geführt.

Einen besonderen Fokus legt die Konvention auf den Bereich häusliche Gewalt und fordert auf, die zum Schutz vor häuslicher Gewalt enthaltenen Verpflichtungen auch auf Kinder und Männer anzuwenden.

Aktivistinnen und Aktivisten demonstrieren gegen den Ausstieg der Türkei.
Foto: REUTERS/Murad Sezer

Ähnlich anderen Europaratsübereinkommen kennt auch die Istanbul-Konvention ein Evaluierungssystem. Ein Komitee von internationalen Expertinnen und Experten, kurz GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence) genannt, überprüft regelmäßig die Umsetzung der Verpflichtungen durch die Unterzeichnerstaaten.

Ein schwerer Schlag

Während sowohl Europäische Union als auch Europarat den Ausbau der Menschenrechte in diversen Regelungen laufend vorantreiben, kommen die Menschenrechte in Europa seit einigen Jahren erstmals seit 1945 stark unter Druck. Maßgebliche politische Kräfte stellen quer durch Europa, auch in Österreich, zentrale Menschenrechte und Regelwerke infrage: einmal die Genfer Flüchtlingskonvention, dann die Menschenrechtskonvention, dann die Istanbul-Konvention. Ein Schönreden hilft da nicht: Das Infragestellen zentraler Grundrechte ist immer ein Angriff auf Demokratie, Zivilisation und Friedensordnung in Europa.

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist ein schwerer Schlag für die Menschenrechtslage nicht nur in der Türkei, sondern in ganz Europa. Seit Sommer 2020 läuft eine ähnliche Diskussion in Polen; in der Verbindung mit dem Abtreibungsverbot läuft die Diskussion in Polen ganz klar auf eine Schlechterstellung der Frau in der Gesellschaft und einen Rückbau der Rechte der Frau hinaus. Rechtlich ist die Situation in Polen freilich anders als in der Türkei; selbst bei einem Austritt Polens aus der Istanbul-Konvention bleibt Polen doch an den EU-Rechtsbestand gebunden, der Frauen vielerlei Schutz gewährt und gerichtlich durchsetzbar ist. (Oliver Scheiber, 26.3.2021)

MUT ZUM RECHT

Vom Ausbau zur Verteidigung unseres Rechtsstaats

Rechtsstaat und Demokratie können auch in stabilen Staaten mit gefestigten Institutionen ins Rutschen kommen können – und zwar schnell

In letzter Zeit mehrten sich die Mahnungen, mit dem Rechtsstaat sorgsamer umzugehen. Nicht verwunderlich, denn immer öfter wurden in Österreich zuletzt Grundsäulen des Staates infrage gestellt. Die verspäteten Aktenlieferungen des Finanzministeriums an das Parlament, erst unter dem Druck der Exekution durch den Bundespräsidenten vollzogen, lieferten ein anschauliches Beispiel.

Ab 1945 erlebte Österreich, ganz im Einklang mit der freien westlichen Welt, den Aufbau und immer weiteren Ausbau des modernen Rechtsstaats. Der Rechtsstaat – eng verbunden mit dem demokratischen System, mit dem System der Trennung der drei Staatsgewalten (Verwaltung, Gesetzgebung, Justiz) und den Menschenrechten – bedeutet die strikte Bindung aller Institutionen an das Recht: Die gesamte Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze handeln (Legalitätsprinzip), die unabhängigen Gerichte legen die Gesetze aus, und auch das Parlament als Gesetzgeber bewegt sich nur in einem rechtlichen Rahmen, nämlich dem der Verfassung – soll die Verfassung in ihrem Kern verändert werden, so geht das nur im Wege einer Volksabstimmung.

Infragestellung der Rechtsstaatlichkeit

Die Phase des Auf- und Ausbaus des Rechtsstaats ist irgendwann vor einiger Zeit in eine Phase der Verteidigung des Rechtsstaats übergegangen – in Österreich, aber auch in vielen anderen Staaten. Ein Politikertypus mit autokratischen Zügen gewinnt an Einfluss und stellt bisherige rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten infrage. Der frühere italienische Ministerpräsident lieferte sich ein jahrelanges Match mit der Justiz, deren Unabhängigkeit er brechen wollte – letztlich erfolglos. In Polen und Ungarn konnten die Regierungen zentrale Teile des Justizwesens unter Kontrolle bringen – die für Demokratie und Rechtsstaat wichtige Gewaltenteilung ist aufgehoben. Der letzte US-Präsident Donald Trump legte sich mit nahezu allen anderen staatlichen Institutionen an – und führte das Land in seinen letzten Tagen an den Rand des Bürgerkriegs, wenn man sich an den Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 erinnert.

Der Sturm auf das Kapitol zeigte, wie schnell der Rechtsstaat bedroht werden kann.
Foto: EPA/MICHAEL REYNOLDS

Das Beispiel USA zeigt uns, dass Rechtsstaat und Demokratie auch in an sich stabilen Staaten mit gefestigten Institutionen ins Rutschen kommen können, und zwar schnell. Und das Beispiel Trump weist uns auf einen weiteren wichtigen Umstand hin: Die beste Verfassung, das beste Rechtssystem, die stärksten Institutionen helfen wenig, wenn zentrale Akteure des Staates über keine demokratische und rechtsstaatliche Gesinnung verfügen. Unser ganzes gesellschaftliches System vertraut darauf, dass sich Amtsträger wechselseitig respektieren und Entscheidungen wechselseitig anerkennen. Darum ist es so gefährlich, wenn Mitglieder der Bundesregierung einen Ausschuss des Parlaments mit der Löwinger-Bühne vergleichen oder einer Aufforderung des Verfassungsgerichtshofs nicht unverzüglich Folge leisten: Es fehlt ihnen am Respekt vor der verfassungsrechtlichen Grundordnung. (Oliver Scheiber, 31.5.2021)

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