Eine leicht gekürzte Fassung des nachfolgenden Textes erschien in der Zeitschrift falter Nr 4/2022 vom 26.1.2022
Im Grunde genommen könnten wir ja zufrieden sein. Österreich verfügt über eine starke Zivilgesellschaft, eine leistungsfähige Privatwirtschaft und zahllose hochkompetente Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, die eines der immer noch besten Gesundheits-, Justiz- und Bildungssysteme der Welt aufrechterhalten. Verfassungsgerichtshof und Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sind entschlossene Verteidiger des Rechtsstaats. Die Hauptstadt Wien ist weltoffen, bunt, bestverwaltet, die Wissenschaft ist gut aufgestellt. Es gibt so viele gute und gut ausgebildete Journalistinnen und Journalisten wie nie zuvor. Und dennoch ist die Gesamtentwicklung des Landes ungünstig; Evaluierungen und laufend neue Aufdeckungen belegen das, was längst spürbar ist. Für das Ausland wird die Krise der Republik durch das Postenkarussell der letzten Monate sichtbar.
Die Probleme bestehen nicht erst seit der Ära Kurz. Die Verwaltung schwächelt schon länger. Die Pandemiebekämpfung und schlechte Klimadaten machen es sichtbar. Parteibuchwirtschaft und Netzwerkpolitik bringen oft fachlich unzureichend qualifizierte Personen in Schlüsselpositionen der Republik, die die Loyalität zu einer Partei über die zum Gesetz stellen. So kommt es, dass Akten und Handys geschreddert werden, dass Beamte Sammelbriefe unterzeichnen, in denen sie bestätigen (müssen), nichts Bedenkliches in ihrem Ministerium wahrgenommen zu haben. Das Finanzministerium bezahlt aus Steuergeldern Studien, in denen abgefragt wird, welches Tier zu welchem Politiker passt. Beamte fügen sich. Wie soll es anders sein, wenn die Politik die Respektlosigkeit gegenüber den Institutionen vorlebt? Wenn Minister dem Parlament Akten nicht liefern, wenn die Besetzung höchster Parlamentsposten nur mehr Planspielen folgt, ohne jede demokratiepolitische Sensibilität? Wenn Regierungsmitglieder in einem offenen Brief erklären, ausschließlich einem bestimmten Mann als Kanzler dienen zu wollen (was für eine bizarre Idee!), und in den nächsten Wochen aber unter gleich zwei anderen Kanzlern weiterarbeiten?
Der Blick nach Deutschland oder Italien macht neidvoll. Angesichts der großen Herausforderungen der Pandemie und der Klimakatastrophe bestimmen in diesen Ländern Sachpolitik und gemeinsame Anstrengung die Diskussion. In Italien hat Regierungschef Mario Draghi das Land wirtschaftlich, klimapolitisch und in Sachen Pandemiebekämpfung an die europäische Spitze geführt. Das deutsche Regierungsprogramm enthält ein kraftvolles Plädoyer für eine menschlichere Flüchtlingspolitik.
Anders in Österreich. Die aktuelle politische Krise, die sich in strafrechtlichen Ermittlungen gegen zahlreiche führende (Ex)Politiker, in Rücktritten und in der täglichen Regierungspolitik manifestiert, ist keine Momentaufnahme, sondern Ergebnis tiefgehender struktureller Defizite und einer jahrzehntelang abgewirtschafteten politischen, behördlichen und medialen Kultur. Dabei galt Österreich noch in den 1970er-Jahren als eine Insel der Seligen. Hier zu leben bedeutete lange Zeit Sicherheit, bedeutete frei von Gewalt und staatlicher Bedrohung zu leben, in Wohlstand und in einem Land, das immer mehr Menschen ein immer besseres Leben bieten will.
Heute bestimmen zunehmend Provinzialität, Korruption, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit das Land. Kurzfristig durchbrochen vom EU-Beitritt 1995 wendet sich Österreich seit Mitte der 1980er-Jahre in einer Endlosschleife in stets gleichem Muster Populisten zu, vermeintlichen Heilsbringern, die die Hoffnungen naturgemäß enttäuschen. All diese Prozesse bleiben unreflektiert, unaufgearbeitet. Haider war der Prototyp für die an Intellektualität und Charisma nicht an ihn heranreichenden Wiedergänger Grasser, Strache und Kurz. Ihre unangemessen hohe Bedeutung für das politische Leben konnten sie alle nur in einer von Medien miterzeugten Spektakelkultur erhalten, in der es selten um Sachfragen geht. Aus den letzten Jahren ist keine einzige einprägsame Rede eines österreichischen Regierungsmitglieds (die Übergangsregierung 2019 ausgenommen) erinnerlich, keine einzige große Idee der Regierung für das Land, keine Vision.
Österreich entwickelt sich hin zu einem labilen staatlichen Gebilde. Vielfach unzureichend qualifizierte Personen in Entscheidungsfunktionen lassen die Kompetenz der Fachbeamtenschaft zu oft ungenutzt. Die Bevölkerung spürt die Krise intuitiv und sucht ihr Heil bei Rattenfängern. Medien treiben die Selbstüberschätzung des Landes durch Schönfärberei an. Bierzeltevents der Landeshauptmann-Partei im oberöstereichischen Wahlkampf, bei denen ohne Masken Schlachtgesänge intoniert wurden, während andere Staaten an der Abschwächung der vierten Pandemiewelle arbeiteten, versinnbildlichen das Dilemma.
Mangels politischer Substanz wurde für den Kreis um Sebastian Kurz autoritär angelegtes Regieren zur einzigen Hoffnung, sich die Macht längerfristig zu erhalten – insofern bestand nie ein Unterschied zu Trump, Orban oder Berlusconi. Dass Österreich eine autoritäre Regierung nach dem Vorbild Ungarns und Polens erspart geblieben ist, ist einzig einer Reihe von Zufällen zu verdanken. Das begann mit dem knappen Wahlerfolg Van der Bellens; wer kann sicher sein, dass ein anderer Bundespräsident ein Exekutionsverfahren gegen einen Minister eingeleitet hätte, als dieser dem Parlament Akten verweigerte? Oder der Zufall des Ibiza-Videos: gäbe es dieses Video nicht, dann wüssten wir nichts von all den strafrechtlich und ethisch bedenklichen Manipulationen, nichts von den Eingriffen in die Arbeit der Staatsanwaltschaften, nichts von gefälschten Umfragen und von gelenkten Postenbesetzungen. Kurz würde weiterhin mit einem Innenminister Kickl regieren, die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wäre wohl bereits zerschlagen, so wie es Regierungsmitglieder in Aussicht gestellt hatten. Oder: Hätten StaatsanwältInnen der WKStA nicht in den Stunden nach Erscheinen des Videos die Brisanz der Situation erfasst und die Verdachtslagen juristisch unanfechtbar ausformuliert, wären alle heute so wichtigen Ermittlungen vom Justizministerium im Keim erstickt worden. Oder: wäre vor einigen Jahren die Leitung der WKStA neu besetzt worden oder hätten die Regierungsparteien Justiz- und Innenministerium untereinander anders verteilt – sehr viel spricht dafür, dass man alle brisanten Verfahren frühzeitig politisch gestoppt hätte. Aktuell überdecken die unbeirrte Arbeit von WKStA und Rechnungshof den weitgehenden Zusammenbruch der übrigen Kontrollsysteme des Landes.
Mit dem Regierungswechsel von ÖVP/FPÖ zu ÖVP/Grünen hat sich weit weniger verändert als erwartet. Zu bestimmend war die Person Kurz mit ihrer zunehmenden strafrechtlichen Bredouille: die Attacken auf Parlamentarismus und Justiz nahmen zu, um die „Familie“ zu retten. Noch im Frühjahr 2021 schlug die türkis-grüne Bundesregierung vor, Hausdurchsuchungen bei politisch brisanten Korruptionsverfahren zu verbieten. Nachdem die Zerschlagung der WKStA am öffentlichen Widerstand gescheitert war, versuchte man das Strafrecht so zu demolieren, dass es der Politik künftig nicht mehr gefährlich werden kann. Wäre das durch öffentlichen Aufschrei gestoppte Gesetzesprojekt durchgegangen, hätten die Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt im Sommer 2021 nicht stattfinden können.
Nach vier Jahren Kanzlerschaft Kurz steht die Republik vor einem Scherbenhaufen. International geriet das Land in eine Außenseiterposition. Kurz hat das Land aus Europas Mitte inhaltlich und atmosphärisch in die Visegrad-Gruppe geführt. Die Chuzpe der neuen österreichischen Politik besteht darin, sich laufend zu etwas zu bekennen und das Gegenteil zu tun. Sich zu Europa zu bekennen, aber immer nur die Rosinen aus dem europäischen Kuchen zu picken. Sich als große Regierungspartei zur Unabhängigkeit der Justiz zu bekennen und im Hintergrund um die Einstellung von Verfahren zu bemühen und Staatsanwaltschaften unter Druck zu setzen. Neueste im Medium Zackzack veröffentlichte Chats zeigen, mit welcher Unverfrorenheit man vor einigen Jahren versuchte, die sensibelsten Posten der Justiz politisch verlässlichen Personen zukommen zu lassen und unabhängige Beamte aus den Machtpositionen zu drängen. Der Unterschied zu früher: es besteht der Verdacht, dass es nicht nur um eine Jobvergabe unter Freunden ging, sondern um den Bau eines Schutzschirms für eine Regierungspartei – Verfahren laufen und werden es klären, es gilt die Unschuldsvermutung.
Chuzpe ist es auch, permanent von der Bedeutung des Kampfes gegen den Antisemitismus zu sprechen (unterstrichen durch die Geste des Hissens der israelischen Fahne), aber jemanden zum Innenminister zu machen, der sich zu Amtsbeginn für eigene antisemitisch konnotierte Aussagen entschuldigen muss. Die Besetzung des Innenministeriums mit dem Unterstützer eines Dollfuss-Museums machte aber zugleich auf ein Grundproblem der Zweiten Republik aufmerksam: der Nationalsozialismus wurde zwar spät und mangelhaft, aber doch aufgearbeitet, nicht aber Austrofaschismus und Bürgerkrieg und das dadurch ramponierte Verhältnis zwischen sozialdemokratisch und christlich-sozial gesinnten Bevölkerungsgruppen. Das schlägt sich bis heute darin nieder, dass Teile der ÖVP lieber rechtsextrem regieren als gemeinsam mit der SPÖ. Gleichzeitig zeigt sich beim Innenministerium, dass Schlüsselpositionen der Republik nicht nach Eignung, sondern nach absurden, nämlich rein regional-parteipolitischen Kriterien besetzt werden. Das hält auf Dauer kein Gemeinwesen aus.
Der beklagenswerte Zustand des Landes lässt sich nicht der ÖVP allein und ihrer langen Regierungszeit zuschreiben. Die Verantwortung trifft auch den Regierungspartner, der in keinem Bereich irgendwelche roten Linien erkennen lässt, die dem Machterhalt nicht geopfert würden. Seit Jahren verweigert Österreich die aktive Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen (als eines von nur vier EU-Ländern). Einer in Lebensgefahr befindlichen afghanischen Wissenschaftlerin wurde von Österreich kürzlich Hilfe zugesagt, die Zusage gebrochen. Der demokratiepolitische Schaden, dass eine ehemalige Kontroll- und Menschenrechtspartei sofort nach Regierungseintritt den Niedergang des Landes mitverwaltet und einen zynischen Politzugang mitträgt, ist enorm. Teilerfolge in der Justiz- und Klimapolitik rechtfertigen diesen Preis nicht. Der Parlamentarismus wird mit jedem Tag geschwächt, an dem Abgeordnete gegen ihre Überzeugungen stimmen.
Die Bilanz der Opposition fällt kaum besser aus: die größte Oppositionspartei auf Bundesebene ist seit Jahren praktisch im Koma, die zweitgrößte hetzt just in einer Pandemie gegen Wissenschaft und Medizin. Einzig die kleinste Oppositionspartei ist gut aufgestellt. All diese Faktoren, verbunden mit grassierender Korruption, machen Österreich zu einem demokratiepolitischen Sanierungsfall. Die Medien lösen auch nach den Erfahrungen der Ära Kurz die Verhaberung mit der Politik nicht. So werden im Personenkarussell laufend überforderte Regionalpolitiker zu tauglichen Regierungsmitgliedern schöngeschrieben. Das Spiel ist mittlerweile zur intellektuellen Zumutung geworden. Aufdeckungen sind zu einem guten Teil der Investigativarbeit deutscher Medien und eben Zufällen zu verdanken, wenn etwa regierungsnahen Beamten beim Bootfahren die Mobiltelefone ins Wasser fallen und die brisanten Daten im Zuge der Wiederherstellung an Medien gespielt werden.
Die Ursachen der österreichischen Misere führen auch zu den Lösungen. Es gilt an vielen Punkten anzusetzen. Etwa beim öffentlichen Dienst: Die Schwächung des Beamtenethos hat viel mit der Befristung der Verträge der Sektionschefs in den Ministerien und der damit einhergehenden Willfährigkeit vieler Spitzenbeamter zu tun, die um ihre Vertragsverlängerung laufen. Dazu kam die Einsetzung politischer Generalsekretäre in den Ministerien. All das gilt es zu überdenken. Der Wechsel von Mitarbeitern politischer Parteien in Ministersekretariate und von dort weiter direkt in Spitzenpositionen der Verwaltung schädigt den öffentlichen Dienst massiv; eine restriktive gesetzliche Lösung tut hier Not, die Ministerbüros und Informationsabteilungen der Ministerien sind auf einige wenige Planstellen zu beschränken. Finanz-, Innen- und Justizministerium sollten die zahlreichen Missstände intern aufarbeiten und so eine neue Fehler- und Kontrollkultur entwickeln und ein Beamtenethos neu aufbauen. In und außerhalb des öffentlichen Dienstes gilt es die Zivilcourage zu stärken.
Transparenz ist grundsätzlich ein wichtiges Qualitätssicherungselement der Verwaltung. Österreich könnte, orientiert an skandinavischen Vorbildern, Auftrags-, Studien- und Jobvergaben von Bund, Ländern und Gemeinden wie überhaupt alle Verwaltungsakten öffentlich machen. Ausnahmen wären nur für einige wenige Bereiche der Sicherheitsverwaltung nötig. Diese Transparenz wirkt auf alle Formen der Freunderlwirtschaft und Hinterzimmerabsprachen abschreckend. Die Einführung von Liveübertragungen aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und von öffentlichen Hearings für Spitzenpositionen im öffentlichen Dienst ist überfällig.
Ein strafrechtliches Antikorruptionspaket ist angekündigt und wichtig. Vor allem aber bedarf es eines politischen Willens, die Ressourcen neu zu verteilen – immer noch arbeitet etwa die Richterin des Buwog-Verfahrens allein an einem Großverfahren und Urteil, während die Riege der Verteidigung aus einer wohl höheren zweistelligen Zahl von Juristen besteht. Würde man den Richterinnen und Richtern von Großverfahren nur zwei oder drei juristische Sachbearbeiter zuteilen, dann wären die Verfahren schneller und die Urteile rasch ausgefertigt. Die WKStA benötigt Weisungsfreiheit in ihren Ermittlungen und ein eigenes justizpolizeiliches Ermittlerteam, um die Abhängigkeit der Justiz von der Polizei und damit vom Innenministerium zu reduzieren.
Österreichs aktuelle Schwächen liegen aber auch maßgeblich in der Inseratenkorruption und in einem Parlamentarismus begründet, der sich als Erfüllungsgehilfe von Regierungswünschen versteht. Die Rezepte zur Stärkung des Qualitätsjournalismus liegen auf dem Tisch: die Gelder für Regierungsinserate müssten gestrichen oder radikal gekürzt, die zu riesigen Propagandaabteilungen gewordenen Medienstellen mancher Ministerien aufgelöst werden. Frei werdende Gelder könnten einer Medienförderung zufließen, die sich an Qualitätskriterien wie der Zahl journalistischer Ausbildungsplätze, der Größe von Investigativ- und Kulturredaktionen uä orientiert. Mehr Ressourcen für einzelne Abgeordneten, damit diese eigenständig recherchieren und mehr Mitarbeiter beschäftigen können, würden das Parlament stärken. Ein großer zentraler Unterstützungsdienst des Parlaments könnte ein Gegengewicht zu den übermächtigen Ressourcen der Regierung bilden. Die Pandemie hat schließlich gezeigt, dass der Föderalismus in seiner jetzigen Form die Republik lähmt und beschädigt und einer grundsätzlichen Reform bedarf.
Expertinnen und Experten haben in den letzten Jahren viele Reformvorschläge zur Stärkung von Rechtsstaat und Demokratie vorgelegt, zuletzt im Rahmen des Rechtsstaats- und Antikorruptions-Volksbegehrens. All diese Ideen gälte es aufzugreifen, in einen Reformkonvent unter Leitung einer oder eines anerkannten Elder States(wo)man einfließen zu lassen. Dann wäre noch im Laufe dieses Jahres der Beschluss eines Demokratiereformgesetzes realistisch. Mit einem solchen Reformpaket und einem Wechsel vom Mittelmaß zu kompetenten Führungskräften in Politik, Verwaltung und Medien könnte Österreich, das sich zu Jahresbeginn 2022 als angezählte Republik präsentiert, die Trendwende zurück in Europas moderne Mitte schaffen.
Oliver Scheiber ist Jurist und einer der Proponenten des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens. Er gibt hier seine persönliche Ansicht wieder.
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