Menschenrechtsbezirk Meidling: Justiz und Schule

Heute Vormittag hatte ich die große Freude, in der Volksschule in der Rothenburgstraße in Wien mit Schülerinnen und Schülern über Gesetz, Recht, Justiz und Gerechtigkeit zu sprechen. Einen Schwerpunkt haben wir dem Thema Klimawandel und Klimarecht gewidmet. Nächste Woche kommt die Schulklasse dann ans Gericht, um sich vor Ort ein Bild vom Gerichtsalltag zu machen.

Hintergrund: Vor kurzem hat sich der Wiener Gemeindebezirk Meidling zum Menschenrechtsbezirk erklärt. Nun versuchen wir – Bezirk, Bezirksgericht, Volkshochschule, Schulen uva – diese Erklärung in Meidling mit Leben zu erfüllen. Ein Teil davon ist der Austausch von Schulen mit dem Gericht. Nachdem sich bisher zumeist die Oberstufen von AHS oder Handelsakademie an das Gericht gewandt haben, war ich über das erste Projekt mit einer Volksschule besonders froh.

Ich habe vor Jahren in Süditalien Programme kennengelernt, in deren Rahmen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte Schulen besuchen und dort vor allem über die organisierte Kriminalität und ihre Wirkungsweise mit Schülerinnen und Schülern sprechen. Die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Schulen ist in Süditalien eines der Präventionsinstrumente zur Eindämmung des Einflusses der Mafia.

In Österreich sind die Rahmenbedingungen anders gelagert, dennoch erscheint die frühzeitige Information in Schulen über unser Recht und Verfassungssystem wichtig. Es geht darum über Kinderrechte aufzuklären, über das Familienrecht, über das Strafrecht, ganz grundsätzlich aber vor allem darum, wie man sich in unserem gut ausgebauten Rechtssystem den Zugang zum Recht verschaffen kann, also an wen man sich wendet, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist.

Angesichts der aktuellen Korruptionsskandale ist auch die Korruptionsprävention ein wichtiger Aspekt. Es geht nicht nur darum, Korruptionsphänomene zu erklären und sichtbar zu machen, sondern auch darum, junge Menschen frühzeitig zu ermutigen, sich gegen Unsachlichkeit, Regelverletzungen und Korruption zur Wehr zu setzen.

Ganz persönlich ist für mich der Austausch mit Jugendlichen und ihre Sicht auf Start und Gesetz jedes Mal enorm bereichert. Freilich darf der Hinweis nicht fehlen, dass für derartige Programme der Zusammenarbeit von Justiz und Schulen keinerlei Budget zur Verfügung steht und Richterinnen und Richter das mehr oder weniger nebenbei erledigen sollen. Entsprechend bescheiden ist der Umfang des Austauschs. Alles baut auf dem Engagement einzelner Direktorinnen und Direktoren, Schülerinnen und Schüler, Richterinnen und Richter auf. Umso mehr danke ich der Direktorin (Mag. Edlinger) und der Klassenlehrerin Elisabeth Schulmeister in der Volksschule Rothenburgstraße für die Einladung.

 

 

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Juristische Zeitenwende

Text für die Fachzeitschrift Nova & Varia, Ausgabe 03/2022

In seinem Buch Mut zum Recht plädiert Oliver Scheiber für eine Modernisierung von Justiz und Recht. Für Nova et Varia greift er seine Sicht auf internationale Tendenzen im Recht heraus.

 Die Häufung internationaler Krisen und zuletzt der Ukrainekrieg haben dem Völkerrecht nach vielen Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit in der juristischen und medialen Welt verschafft. Abgesehen vom Völkerrecht ist aber seit Jahrzehnten eine starke Entwicklung in Richtung einer Internationalisierung des Rechts zu beobachten, die mit Globalisierung, gestiegener Mobilität und der immer stärkeren Vernetzung der Gesellschaften einhergeht. Für Österreich kommt seit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 die große Bedeutung des Europarechts dazu.[1] In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, wie internationale Entwicklungen auch das österreichische Recht bestimmen und es wird der Versuch eines Ausblicks in die Zukunft unternommen. Die Grundannahme lautet, dass die internationale Determination des nationalen Rechts rasch weiter zunehmen wird.

Die Nürnberger Prozesse, in denen ab 1945 über die Führungsspitze des NS-Regimes zu Gericht gesessen wurde, sind markantes und frühes Beispiel dafür, wie das internationale Recht Maßstäbe auch für die nationalen Rechtsordnungen setzt.[2] Das betrifft einerseits Elemente des fairen Verfahrens, zum anderen Fragen wie jene der Kommunikation. Der hoch qualifizierte, enorm starke Übersetzungs- und Dolmetschdienst der Nürnberger Prozesse[3] hat bis heute die Maßstäbe für Gerichtsdolmetschungen gesetzt und war noch mitbestimmend bei der Erlassung der EU-Dolmetschrichtlinie[4] im Jahr 2010.

Waren die Nürnberger Prozesse noch sehr auf die Rechte der Angeklagten und die Garantie eines fairen Verfahrens für die Angeklagten fokussiert, so traten neben diesen Aspekt beim von 1993-2017 tätigen Internationalen Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) die Bemühungen um die Rechte der Opfer. Das Jugoslawien-Tribunal hat neue Maßstäbe im Bereich des Opferschutzes gesetzt.[5] Opfer von Straftaten wurden von einem eigenen Team betreut, die Opfer wurden psychologisch und juristisch durch die Verfahren begleitet. Auch hier folgte eine Übernahme und Weiterentwicklung der hohen Standards durch die Europäische Union, die zuerst mit einem Rahmenbeschluss und dann mit der Opferschutzrichtlinie[6] ein einheitliches Schutzniveau für Opfer von Straftaten in der EU festlegte. Der österreichische Gesetzgeber hat im internationalen Vergleich früh ein System psychosozialer und juristischer Prozessbegleitung für Opfer bestimmter Straftaten etabliert. Der Anwendungsbereich der Prozessbegleitung wurde in jüngerer Zeit vom Strafverfahren auf Zivilprozesse, die Opfer von Straftaten führen, ausgedehnt.

Das internationale Recht hat auch das so genannte Weltstrafrecht entwickelt, das es möglich machen soll, Strafverfahren wegen schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur im Land des Tatorts zu führen, sondern in jedem anderen Staat der Welt, ohne näheren Bezug zu den Taten. Das Weltstrafrecht könnte ein wesentliches Element für das weitere Zusammenwachsen der den Menschenrechten verpflichteten Staaten und der Solidarität der Weltgemeinschaft sein, hat aber bis heute wenig Bedeutung erlangt. Diese geringe Bedeutung geht auf viele Faktoren zurück, neben dem fehlenden politischen Willen auch auf mangelndes Wissen und die Vernachlässigung dieses Felds in Ausbildung und Praxis der Justiz. Dabei gäbe es herausragende Beispiele für das Funktionieren das Weltstrafrechts, etwa die vom spanischen Richter Garzon geführten Verfahren gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet. Garzon erließ 1998 einen internationalen Haftbefehl gegen den Exdiktator.

Für Österreich hervorzuheben sind die Bemühungen um die Verfolgung von Verdächtigen von Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen. Mit Beginn des Ukrainekriegs sind Stimmen laut geworden, die dort begangenen Verbrechen auch außerhalb der Ukraine (oder Russlands) strafrechtlich zu verfolgen.

In den nächsten Jahren wird die Internationalisierung des Rechts wohl im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen am deutlichsten werden. So wie der Klimawandel eine globale Katastrophe ist, die sich nur auf internationaler Ebene erfolgreich bekämpfen lässt, so sind auch Klimarechtsfragen naturgemäß international bestimmt. Anzunehmen ist, dass die wachsende Bedeutung des Klimarechts in Zukunft sowohl das internationale Recht als auch die nationalen Rechtsordnungen und Rechtsprechungen stark bestimmen wird. Das zeichnet sich schon heute ab, nicht nur bei Gericht, sondern auch an den Universitäten und bei Konferenzen. Die renommierte Frühjahrstagung der Österreichischen Juristenkommission etwa war 2022 ausschließlich dem Thema Klimarecht gewidmet,[7] an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz wurde vor kurzem ein Lehrstuhl für Klimarecht eingerichtet. Das ist naheliegend, denn die kommende Generation von Juristinnen und Juristen wird sich vielen Rechtsfragen in Verbindung mit Umwelt und Klima gegenüber sehen, die sich nur gut lösen lassen, wenn bereits in der juristischen Ausbildung ein Grundwissen über naturwissenschaftliche Fakten und über neuen Rechtsmaterien, etwa internationale Vereinbarungen zum Klimaschutz, vermittelt werden.

Am Beispiel der Bekämpfung der Umweltkriminalität lässt sich gut nachvollziehen, dass jedes Spezialgebiet Ressourcen und Wissen benötigt; das gilt für das Umwelt- genauso wie für das Klimarecht. Das Umweltstrafrecht etwa ist in Österreich wie den meisten anderen Staaten weitgehend totes Recht geblieben, weil im Vergleich zu anderen Deliktsgruppen Ressourcen und Know How, also spezialisierte Aus- und Fortbildungen, fehlen. Das ist besonders unbefriedigend, soll doch das Strafrecht die schwersten Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung, also insbesondere Bedrohungen von Leben und Gesundheit der Menschen, ahnden.[8] Umweltdelikte gefährden regelmäßig Leben und Gesundheit einer großen Zahl von Menschen, so dass die Strafrechtsordnungen und Justizsysteme eigentlich einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf diesen Bereich legen, ihr Personal entsprechend schulen und diesen Sektor mit entsprechenden Ressourcen ausstatten müssten. Das ist aber in kaum einem Land der Fall. Die Verbrechen, die in vielen Staaten der Welt durch illegale Rodungen, durch die Abholzung von Regenwäldern oder die Verseuchung von Grundwasser entstehen, bleiben so weitgehend ungesühnt. In Süditalien, in der Gegend von Neapel und Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmülldeponien angelegt. Haus- wie Sondermüll wurde und wird dort ungesichert ausgeschüttet. Sind die Deponien voll, werden sie mit Erde bedeckt und dienen als Gemüseplantagen. Die Folgen sind dramatisch: die Region hat heute die höchste Unfruchtbarkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfälle. Die Zahl der Tumorerkrankungen hat sich allein zwischen 2008 und 2012 mehr als verdreifacht, Ärzte berichten von einer regelrechten Epidemie von Schilddrüsenkrebs. Die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern steigt ungebremst an, die Lebenserwartung der Menschen der Region sinkt. Zu ernsthaften strafrechtlichen Maßnahmen kommt es praktisch nie. Ähnliches ließ sich in Ungarn beobachten: im westlichen Ungarn brach 2010 ein Deponiebecken der Aluminiumhütte MAL AG. Eine meterhohe ätzende Giftschlammflut wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben darin, 200 wurden verletzt. Der kontaminierte Schlamm verseuchte ein Gebiet in der Größe von 40 Quadratkilometern. Erst 2019 kam es im zweiten Rechtsgang zu erstinstanzlichen Urteilen mit einigen Schuldsprüchen.

Bemühungen, die Situation zu verbessern, sind nur in Ansätzen absehbar, wie etwa bei den Straf- und Zivilverfahren im Zusammenhang mit den Dieselmanipulationen von Autokonzernen. Doch Gesetze und Rechtsprechung sind in Bewegung. Anfang 2022 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zu den Lieferketten vorgelegt.[9] Es geht dabei darum sicherzustellen, dass in der Europäischen Union nur Produkte in den Handel kommen, die in ihrer gesamten Herstellungskette alle menschen- und umweltrechtlichen Standards erfüllen, auch wenn der Produktionsort außerhalb der Union oder außerhalb Europas liegt. Das Lieferkettenrecht wird in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen.

Das Klimarecht zählt bereits jetzt zu den dynamischsten Rechtsbereichen.[10] In Deutschland sind zwischenzeitig zahlreiche Urteile von Gerichten ergangen, in denen aus internationalen Klimaschutzvereinbarungen Fahrverbote oder Höchstgeschwindigkeiten für den Fahrzeugverkehr abgeleitet wurden. Solchen Entscheidungen liegen zumeist Klagen von Bürgerinnen und Bürgern zugrunde, die sich auf die Verletzung von Klimazielen aus internationalen Vereinbarungen berufen und anführen, dass ihre Gesundheit durch diese Nichteinhaltung von Klimazielen bzw durch das Fehlen von Klimaschutzmaßnahmen wie Fahrverboten (auch auf kommunaler oder regionaler Ebene) gefährdet sei.

Bei internationalen Gerichten sind Klimaklagen bereits ein starkes Thema. Spektakulär ist etwa die Klage von sechs portugiesischen Kindern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, die sich gegen 33 Staaten, darunter Österreich, wendet – nämlich gegen jene 33 europäischen Staaten, die derzeit die Ziele des Pariser Klimaschutzübereinkommens nicht erreichen.[11] Die Kläger führen aus, dass sie wegen der Nichterreichung des im Pariser Übereinkommen definierten Ziels der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius und in weiterer Folge der maßgeblichen Emissionsminderung in ihrem Recht auf Leben und auf Privatleben verletzt würden. Die Klimaerwärmung treffe besonders ihre Generation, der Klimawandel sei in ihrer Wohnregion verbunden mit einer zunehmenden Zahl von Waldbränden, Ausfällen in der Landwirtschaft, Allergien, Atemwegserkrankungen und Schulschließungen.

Die Kläger haben den EGMR im Hinblick auf die Dringlichkeit ihres Anliegens ersucht, ihnen nicht die Ausschöpfung aller Instanzen in den 33 Staaten aufzuerlegen, was ja an sich Voraussetzung für die Anrufung des Straßburger Gerichtshofs wäre. Der EGMR hat diesem Ersuchen stattgegeben und die Klage zugelassen. Nur ein Indiz für die Umwälzungen, die sich auch in der Rechtsprechung ankündigen und ein Beispiel, wie das Bewusstsein für Gefahren durch Eingriffe in Umwelt und Klima Rechtsprechung und Rechtsordnung verändern. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat die erste österreichische Klimaklage vor kurzem aus formellen Gründen zurückgewiesen,[12] was man angesichts der Bedeutung der hinter der Klage stehenden existenziellen Fragen mit guten Gründen kritisieren kann. Mittlerweile ist eine neue Klage anhängig und es ist anzunehmen, dass auch das österreichische Höchstgericht bald ähnlich dem EGMR neue Akzente setzen wird.

Internationale Trends werden künftig auch das Verfahrensrecht, also die konkreten Abläufe und das Setting von Zivil- und Strafverfahren stark mitbestimmen.[13] Das betrifft vor allem Fragen des Zugangs zum Recht. Eine bessere Verständlichkeit der gerichtlichen Kommunikation und ein Mehr an Informationen für die Verfahrensbeteiligten sind seit langem ein Anliegen des internationalen Rechts und des Europarechts. Das nationale Recht vollzieht hier in der Regel nach, was auf internationaler Ebene entwickelt und vorgegeben wird. Ein Beispiel dafür wäre die bessere rechtliche Stellung von Kindern vor Gericht. Es ist nicht lange her, dass ein Kind im familienrechtlichen Verfahren wie ein Objekt behandelt wurde; heute sind Kinder vor Gericht ganz selbstverständlich Rechtssubjekte, deren eigenem Wunsch in Obsorge- und Kontaktrechtsfragen zunehmend mehr Rechnung getragen wird. Die UN-Kinderrechtskonvention[14] oder die Leitlinien des Europarats für eine kindgerechte Justiz[15] werden auch für die österreichische Justiz zu den großen Herausforderungen der unmittelbaren Zukunft zählen. Dass für Österreich hier noch Nachholbedarf besteht hat die vom Justizministerium eingerichtete Kindeswohlkommission in ihrem Bericht im Jahr 2021 aufgezeigt.[16]

Die beschriebenen Entwicklungen sind für die kommende Generation von Juristinnen und Juristen eine Herausforderung, sie machen alle juristischen Berufe zugleich spannender und vielfältiger. Voraussetzung für erfolgreiche gesellschaftliche Prozesse wird sein, die Ausbildung an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten und die weiterführenden Ausbildungszeiten für Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte stärker neuen Entwicklungen und Gegebenheiten anzupassen. Gelingt das, dann haben Juristinnen und Juristen mehr denn je die Chance, zu einer Gesellschaft beizutragen, in der das Wohl der Menschen und der gleiche Zugang zum Recht das oberste Ziel sind.

 

Dr. Oliver Scheiber ist Richter und Publizist in Wien und Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der FHWien der WKW. Er ist Mitinitiator des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens und Vorstandsmitglied bei SOS Mitmensch und weiteren Menschenrechts-NGOs sowie Kunsteinrichtungen wie etwa der Alten Schmiede in Wien. Zuletzt erschienen: Mut zum Recht, 2. Aufl., falter-Verlag (2020). 

[1] Zur Bedeutung der Zivilrechtsharmonisierung vgl etwa Scheiber, Zahlungsverzug-Richtlinie und Zivilrechtsharmonisierung, Saarbrücker Verlag für Rechtswissenschaften (2015).

[2] Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945. Piper Verlag (2015);

Weinke, Die Nürnberger Prozesse, 3. Aufl., C.H. Beck (2019); besonders bemerkenswert waren die Reden der Hauptankläger, näher dazu: Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg), Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger.  Europäische Verlagsanstalt (2015).

[3] Herz, Ein Prozess – vier Sprachen, Peter Lang Verlag (2011).

[4] Diese Richtlinie – Richtlinie 2010/64/EU – war der erste Rechtsakt der Europäischen Union, den die Union anhand ihrer neu erlangten Kompetenz für Strafrechtsfragen erlassen hat: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2010:280:0001:0007:de:PDF#:~:text=(1)%20Diese%20Richtlinie%20regelt%20das,Voll%20streckung%20eines%20Europ%C3%A4ischen%20Haftbefehls (Stand4.6.2022).

[5] Näher dazu: Heinisch, Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. Berlin (2007).

[6] Richtlinie 2012/29/EU, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32012L0029&from=de (Stand: 4.6.2022).

[7] https://juristenkommission.at/events/fr%C3%BChjahrstagung-2022 (Stand: 4.6.2022).

[8] Zum gesellschaftlichen Auftrag des Strafrechts näher Scheiber, Mut zum Recht, 2. Aufl., falter-Verlag (2020), 118ff.

[9] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1145 (Stand: 4.6.2022).

[10] Klage, Urteil, Klimaschutz! Beitrag des ZDF vom 29.8.2021, https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-klage-urteil-klimaschutz-100.html (Stand: 4.6.2022).

[11] Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Other States, http://climatecasechart.com/non-us-case/youth-for-climate-justice-v-austria-et-al/ (Stand: 4.6.2022).

[12] VfGH-Beschluss G 144/2020 vom 30. September 2020.

[13] Zum Erfordernis einer neuen Kommunikation vor Gericht ausführlicher in Scheiber, Mut zum Recht, 2.Aufl., falter-Verlag (2020), 161ff.

[14] https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention

(Stand: 4.6.2022).

[15] https://rm.coe.int/16806ad0c3 (Stand: 4.6.2022).

[16] file:///Users/oliverscheiber/Downloads/Bericht%20der%20Kindeswohlkommission_13.%20Juli%202021%20(Langfassung).pdf (Stand: 4.6.2022).

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Filmfestspiele von Venedig: Emanuele Crialeses „L`immensità“

 

Vor 90 Jahren fanden die Filmfestspiele am Lido erstmals statt, einige Male fiel das Festival aus, so feiert man dieses Jahr die 79. Ausgabe. Vier italienische Filme sind im Hauptwettbewerb, darunter der neue Film von Emanuele Crialese, „L`immensità“ (Unermesslichkeit), starbesetzt mit Penelope Cruz in einer der beiden Hauptrollen.

Emanuele Crialese, 1965 in Rom geboren, hat in Italien und New York studiert. Für seine Filme nimmt er sich Zeit, bei Festivals tritt er zurückhaltend auf. Am 4. September hat er seinen neuen Film „L`immensità“ in Venedig präsentiert, das dritte Mal, dass er mit einem Werk im Hauptbewerb von Venedig aufscheint. L`immensità ist ein autobiografischer Film, mit dem Crialese seine sehr persönliche Geschichte öffentlich macht. Crialese wuchs in Rom in einer bürgerlichen Familie als Mädchen Emanuela auf, fühlte sich aber immer als Bub und wechselte das Geschlecht. Was bisher nur ein engerer Kreis wusste, machte Crialese mit dem Film und einer Reihe von Interviews in diesen Tagen allgemein bekannt.

L`immensità die Geschichte eines Paares in Rom in den 1970er-Jahren. Zwischen Clara und Felice gibt es keine Gefühle mehr, mit seinen drei Kindern lebt das bürgerliche Paar in einer großzügigen Wohnung in einem Hochhaus in Rom. Adriana, das älteste Kind, etwa 12 oder 13 Jahre alt, ist das Alter Ego von Regisseur Crialese; sie fühlt sich als Bub und stellt sich selbst mit dem männlichen italienischen Vornamen Andrea vor.

Adriana und ihre Mutter, Clara, gespielt von Penelope Cruz, sind die Hauptfiguren des Films: Komplizinnen und Verbündete in ihrem Unglück. Beide sind sie Gefangene, die Mutter in der Ehe mit ihrem gefühlskalten, gewalttätigen Mann, darüber hinaus in der bürgerlichen Scheinwelt. Eine Trennung kommt für Ehemann Felice nicht in Frage, auch nicht als seine junge Sekretärin von ihm ein Kind erwartet und in ihrer Verzweiflung ausgerechnet Clara um Hilfe bittet. Clara ersehnt die Trennung, doch sie hat dafür keinen Plan und keine Perspektive. Der Tochter Adriana, die Andrea sein möchte, ist sie die lebensnotwendige Stütze, indem sie sie einfach „Adri“ ruft. Clara und Adri verstehen und beschützen einander.

Innerhalb der großen bürgerlichen Familie wird Clara allein dadurch, dass sie ihre Kinder nie ohrfeigt, zur Außenseiterin und Verrückten. Mit den von ihr liebevoll umsorgten Kindern flüchtet sie sich in eine Scheinwelt, zu Raffaella Carrà tanzend decken Mutter und Kinder den Tisch. Als die Kinder mit ihren Cousins und Cousinen in ein unterirdisches Labyrinth steigen und danach von den versammelten Eltern bestraft werden sollen, rettet Clara die Situation, indem sie ein Spiel mit dem Gartenschlauch beginnt.

Crialese gelingt mit L`immensità eine berührende Erzählung über familiäres Unglück und die Abhängigkeit und das Leid vieler Frauen in den 1970er-Jahren. Dieses Leid bestehe in ähnlicher Form auch heute noch für Millionen Frauen, erklärte Hauptdarstellerin Cruz am Lido: für diese Frauen und für Regisseur Crialese habe sie an dem Film mitwirken wollen.

L`ìmmensità ist ein einfühlsamer, zärtlicher Film, vieles wird offen gesagt, vieles wird nur angedeutet. Der Film legt bürgerliche Scheinheiligkeit offen, ohne zu einer bösen Abrechnung zu geraten. Er zeigt die Verachtung der bürgerlichen Welt für die Armen in einem Strang der Erzählung, als sich Adri mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der benachbarten Armensiedlung anfreundet. Es bleibt offen, ob es Arbeiterinnen und Arbeiter oder Roma sind, die da in Baracken hausen und doch täglich fröhlich zusammensitzen; und es bleibt wohl bewusst offen, weil die bürgerliche Gesellschaft beide Gruppen gleichermaßen verachtet, Arbeiter wie Roma. Als Clara nicht mehr weiter kann und zur Erholung ins Krankenhaus muss, da untersagt Clara Adri für die Dauer ihrer Abwesenheit die Ausbrüche zur neuen Freundin; wohl aus Angst, und gleichzeitig macht sie, deren Träume alle gescheitert sind, damit auch der Tochter den einzigen aktuellen Traum zunichte.

L`immensità fängt die Atmosphäre der 1970er-Jahre perfekt ein. Der Film enthält auch eine Hommage an Patty Bravo und vor allem an die erst kürzlich verstorbene Sängerin und Entertainerin Raffaella Carrà, eine Ikone der italienischen Lesben- und Schwulenszene. Penélope Cruz berichtet in Interviews, wie sie als Kind in Spanien im Park zu Liedern Carràs tanzte; jetzt spielt sie in ihren Tagträumen in L`immensità ihr einstiges Vorbild. Und auch an Sophia Loren denkt man beim Spiel von Cruz oft, wie auch italienische Zeitungen anmerken.

L`immensità ist getragen von einem starken Drehbuch und vom großartigen Spiel der Hauptdarstellerinnen. Penélope Cruz vermag als Clara mit kleinsten mimischen Mitteln ganz viel zu sagen. Die Darstellerin Adris, die 13-jährige Luana Giuliani, hat Crialese bei Motorradrennen entdeckt, an dem Giuliani als einziges Mädchen unter Burschen teilnahm.

L`immensità ist italienisches Kino in seinem besten Sinn, voll Empathie, Menschlichkeit, voller Träume und Tagträume, die den Menschen die letzte Rettung sind. Der Film mag seine Kraft und Wirkung auch aus dem Vertrauen der Protagonisten und Protagonistinnen ineinander beziehen, wie es sich im unprätentiösen und natürlichen Auftreten von Crialese, Cruz und den weiteren Schauspielerinnen und Schauspielern am Festival spiegelte. So gelingt es dem Team, in und außerhalb des Films dann doch wieder Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln.

Fotos: Corriere della Sera, Il Gazzettino

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Ein Land in Geiselhaft

Text für den falter.at – 24.8.2022

Politisch bestellte Karrieristen am Ruder, die Beamtenschaft in der inneren Emigration und eine zusehends resignierte Zivilgesellschaft: Um Österreich ist es nicht gut bestellt. Was es nun zu tun gilt – ein Gastkommentar.

OLIVER SCHEIBER
24.08.2022

Illustration: Schorsch Feierfeil

Ende Juli schied die Allgemeinmedizinerin Lisa-Maria Kellermayr aus dem Leben. Die oberösterreichische Ärztin hatte sich mit viel Energie dem Kampf gegen Corona gewidmet. Sie wurde zum Opfer einer Hasskampagne radikaler Coronaleugner, die die Ärztin mit Drohungen und Hassnachrichten in den Tod trieben. Die Ärztin hatte sich mehrfach an die Medien gewandt. Die Unterstützung von öffentlichen Stellen war unzureichend, eine ernsthafte Strafverfolgung fand zu Lebzeiten Kellermayrs nicht statt.

Die Tage nach dem Tod Lisa-Maria Kellermayrs waren von einer eigentümlichen Stimmung gekennzeichnet, die symptomatisch für die Lage von Politik und Gesellschaft ist. Der Tod der Ärztin berührte viele Menschen. Gleichzeitig blieb die Polarisierung bestehen, die Hasswelle rollte weiter durch die sozialen Medien. Während der Fall Eingang in ausländische Medien fand, sich deutsche Regierungspolitiker äußerten, schwieg die österreichische Regierungsspitze über viele Tage, ebenso wie der oberösterreichische Landeshauptmann und die Behörden, die der Ärztin Geltungssucht unterstellt hatten. Sie waren sprachlos im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie über gar keine Sprache verfügen, die einer solchen Situation gerecht wird. Große Kundgebungen fanden statt, allerdings nicht initiiert von Ärztekammer oder der Gewerkschaft, sondern auf Initiative der Einzelperson Daniel Landau. Er hatte auf Social Media zu den Kundgebungen aufgerufen.

Erfolgreiche Staaten und starke Gesellschaften bauen in der Regel auf mehrere Pfeiler auf. Politik, Medien, Verwaltung, Wissenschaft, Unternehmen und Zivilgesellschaft spielen im besten Fall zusammen. Sind eine oder zwei dieser gesellschaftlichen Säulen vorübergehend schwächer, so schadet es nicht, wenn die anderen Sektoren stark sind und das ausgleichen. Ein solcher Ausgleich findet in Österreich seit Jahren nicht mehr statt. Zahlreiche wichtige Felder der Gesellschaft sind in einer schweren strukturellen Krise. Das Land scheint wie gelähmt, trotz des Potentials, das unter der Oberfläche schlummert, das oft spürbar ist und den Wohlstand vieler noch erhalten konnte.

Am sichtbarsten ist die Krise der Politik, manifest im häufigen personellen Wechsel in Bundeskanzleramt und Gesundheitsministerium. Auch nach dem Sturz des Populisten Sebastian Kurz orientieren sich nahezu alle maßgeblichen Kräfte an wöchentlichen Umfragen. Die Konzentration der Politik gilt der Produktion täglicher Instagram-Bilder oder Tik-Tok-Filmchen. Was zu Anfang des Jahres an dieser Stelle (Falter 4/22) festgestellt wurde, gilt unverändert: Markante Reden hielt in den letzten Jahren lediglich der Bundespräsident; aus der Regierung kommt seit fünf Jahren – die Beamtenregierung Bierlein/Jabloner ausgenommen – keine einzige Rede, die über die Stunde hinaus (positiv) in Erinnerung bleibt. Es gibt keinen Bundes- oder Landespolitiker, der eine Vision des Landes oder eine größere Idee der Zukunft artikuliert, niemanden, der die Jugend erreichen, geschweige denn ermutigen oder mitreißen könnte. Mit Bierzeltwitzen und provinziell sozialisierten Beratern lässt sich kein Land aus der Krise führen.

Die Verwaltung wiederum ist durch die jahrelange parteipolitische Besetzung von Spitzenposten mit unzureichend qualifiziertem und überfordertem Personal dysfunktional geworden, im Gesundheits- und Sicherheitsbereich besonders sichtbar. Nicht erst im Fall Kellermayr, bereits beim BVT oder vor dem Terroranschlag von Wien haben die Behörden versagt. Die Schwächen des Sicherheitsapparats sind Ergebnis eines ausgeuferten Nepotismus. Im Bereich der Sicherheitsverwaltung hat man – es wäre eine nette Anekdote, würde es nicht mittlerweile die Sicherheit des Landes gefährden – ein System von Hochschullehrgängen aufgezogen, die jedem universitären Standard spotten und nur dazu dienen, Parteisoldaten auf möglichst einfache Weise zu Diplomen zu verhelfen, die die formalen Voraussetzungen für hohe Verwaltungsposten liefern.

Hoch qualifizierte erfahrene Beamtinnen und Beamte haben bei Bewerbungen das Nachsehen, bzw bewerben sich gar nicht mehr, weil die Posten vorab verteilt sind. Der Organisationsexperte Wolfgang Gratz hat in einer brillanten Lageschreibung (Wiener Zeitung vom 17.7.2022) auf die gewaltige Dimension der Versorgungsposten hingewiesen – mittlerweile arbeiten in Ministerkabinetten rund 340 Personen und beschneiden, so Gratz, die Karrierechancen der anderen öffentlich Bediensteten, die das reguläre Ausbildungs- und Prüfungssystem des öffentlichen Diensts durchlaufen haben. Die Zahl der gegen ehemalige Regierungsmitglieder und hohe Beamte laufenden strafrechtlichen Ermittlungen hat aktuell eine für Österreich beispiellose Zahl erreicht.

Nahezu wöchentlich fliegen neue Skandale auf. Der jüngst berichtete Fall der Cofag (Falter 32/22) dokumentiert, wie staatliche Aufgaben an der Verwaltung vorbei erledigt werden. Die Regierung errichtet Gesellschaften, in denen parteinahe Personen zu obszönen Gehältern Aufgaben erledigen, die von der Beamtenschaft nach dem strengen Regulativ des öffentlichen Diensts zu vollziehen wären. Millionen werden an Beratungsfirmen ausgeschüttet, diese beantworten Fragen, für deren Lösung ohnedies spezialisierte staatliche Stellen wie Legislativabteilungen oder Finanzprokuratur bestünden. Die Politik lässt die Verwaltung verkommen und nimmt das dann als Grund für die Beauftragung parteinaher privater Auftraggeber. Am Ende werden Milliarden über schwer nachvollziehbare, intransparente Konstruktionen ausgeschüttet, bei denen allein die Form ihrer Errichtung und personellen Besetzung den Geruch der Korruption in sich trägt. Diese Zustände haben zu einer breiten Demotivation der Beamtenschaft geführt, die dem oft abstrusen Treiben von Politik und Verwaltungsspitze innerlich emigriert zusieht. Das Beamtenethos, einst wesentlicher Faktor für die hohe Qualität der Bundesverwaltung, wurde von der Politik zerstört.

Die Medien wiederum haben zu den autoritären Entwicklungen unter Sebastian Kurz maßgeblich beigetragen. Die Medienförderung im Wege willkürlicher Geldverteilung durch Inserate öffentlicher Stellen hat viele Medien zahm gemacht, Chefredakteure lassen eine gesunde Distanz zur Politik vermissen. Die hauptbetroffenen Medien haben es nach dem Abgang von Kurz als Kanzler versäumt, reinen Tisch zu machen und die Verhaberung von Chefredaktionen mit der Politik zu lösen. Mit dem politiknahen Führungspersonal macht man auch hier weiter wie bisher. Der parteipolitische Einfluss schwächt in ähnlicher Weise viele weitere Bereiche. Thomas König hat es kürzlich für den Universitätssektor näher beschrieben (Der Standard vom 19.7.2022).

Ob Politik oder Verwaltung, der Trend geht nach unten. Wichtige internationale Evaluierungssysteme, die den Standard der Pressefreiheit, der Korruptionsbekämpfung oder der Demokratiequalität messen, sprechen eine klare Sprache. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht. Jetzt schon schielen alle nach möglichen Koalitionsvarianten nach der nächsten Wahl, Inhalte und Programm sind da nicht nötig. Österreich ist in Geiselhaft einer Gruppe von einigen hundert Menschen, die sich den Staat aufteilen, die Spitzenposten in Verwaltung und staatsnahen Unternehmen, in Vorständen und Aufsichtsräten untereinander vergeben und das eigene Fortkommen und das Fortkommen ihrer Partei im Sinn haben, aber in keinem Moment das Wohl des Landes oder der Bevölkerung.

Die Zivilgesellschaft hat in Österreich in vielen Krisen die entscheidende, positive Rolle eingenommen. Nun scheint aber auch sie erschöpft vom jahrzehntelangen Kampf gegen Populismus und Fremdenfeindlichkeit. Mit wem man auch spricht, Resignation hat sich breitgemacht. Der Glaube an Reformen ist angesichts des überforderten, oft unqualifizierten Personals in Entscheidungsfunktionen in der Politik und in den Spitzenposten der Verwaltung verloren gegangen. Die österreichische Obrigkeitshörigkeit und eine verbreitete Feigheit tun das Übrige. Gerade in der labilen politischen Situation, in der sich monatlich alles ändern kann, lehnen sich viele lieber zurück und warten ab, statt sich für ihre Überzeugung oder eine Idee einzusetzen. Diese Lähmung besteht nun seit Jahren.

So sind in allen Bereichen einzelne Personen wie Leuchttürme verblieben, an denen sich Hoffnungen festmachen. Wer immer im Menschenrechtsbereich ein Anliegen an das Parlament hat, wendet sich seit Jahren an die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper. Ähnlich in der Zivilgesellschaft. Zwei große Kundgebungsserien mit (zig)tausenden Menschen gab es dieses Jahr, beide zentral dirigiert von der Einzelperson Daniel Landau unter dem Motto #yeswecare. Menschen wie Krisper und Landau sind herausragend und bemerkenswert und ihre Vorbildfunktion ist von unschätzbarem Wert, weil sie anderen Mut machen. Zugleich ist es ein Krankheitssymptom einer Gesellschaft, wenn Institutionen einbrechen und nur mehr einige wenige Einzelpersonen zur kraftvollen Aktion fähig sind.

Aus dieser breiten Krise wird es nicht so schnell einen Ausweg geben. Die wichtigen Regierungsprojekte wie Antikorruptionspaket, Transparenz für die Verwaltung oder Medienförderungsreform kommen nicht vom Fleck. Mit der offenkundigen Klimakatastrophe und den Folgen des Ukrainekriegs sind neue Herausforderungen entstanden, die für die aktuell Regierenden zu groß sind. Die an dieser Stelle (Falter 4/22) vorgeschlagenen Reformen, von Parlament bis Medien, zeichnen sich nicht ab. Im Gegenteil: die Coronapolitik zeigt die Selbstaufgabe von Regierung und Gesellschaft. Die Impfpflicht wurde eingeführt und gleich wieder abgeschafft, die zentrale Vorsichtsmaßnahme des Maskentragens aufgegeben, nach drei Jahren schaffen Politik und Verwaltung nicht einmal die Beschaffung von Luftfilteranlagen für die Schulen.

Österreich hat den letzten großen Modernisierungsschub und Aufbruch mit dem EU-Beitritt 1995 erfahren. Nun, bald dreißig Jahre später, warten alle auf einen neuen solchen Aufbruch – die meisten aktuellen Akteurinnen und Akteure in Spitzenpolitik und gehobener Verwaltung werden ihn nicht stemmen können.

Hoffnungslos? Nicht unbedingt. Die große Trauer nach dem Tod des Künstlers Willi Resetarits, die Anteilnahme am Ableben Lisa-Maria Kellermayrs zeigen die Sehnsucht nach integren Menschen, nach Engagement, Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Es wird Zeit, dass wir von neuen Ideen überrascht werden. Wann wenn nicht jetzt sollen unkonventionelle Projekte Erfolg haben. Etwa ein Zusammenschluss der jüngeren Abgeordneten aller Parteien zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Reformprogramms für die großen Fragen Klima, Energie, Bildung; oder gleich als Wahlbündnis für die kommende Wahl, als einmalige Aktion, um die starren Strukturen aufzubrechen. Die Klimafrage sollte die Jugend verbinden, nachdem die letzten Generationen versagt haben. Und ist die große Politikverdrossenheit nicht gleichsam eine Aufforderung an zivilgesellschaftliche Gruppen, sich zu einem einmaligen Wahlbündnis zusammentun, um die große Leere in der politischen Mitte zu füllen, um viele potentielle Nichtwählerinnen und Nichtwähler doch zur Wahl zu bringen und eine Alternative zur umfragegeleiteten Politik vorzuleben? Die Bevölkerung kann zu Recht erwarten, dass sich auch in Verwaltung und Medien all jene zusammenschließen, die sich zurückgezogen haben, die aber in sich den Wunsch und die Leidenschaft tragen, ihren Beruf zum Besten von Land und Gesellschaft auszuüben. Zuletzt wurden leidenschaftliche, initiative Menschen wie Lisa-Maria Kellermayr, die etwas bewegen und verändern wollten, auch von Behörden zu Narren gestempelt. Möge der Tod Lisa-Maria Kellermayrs bewirken, dass wir innehalten und den Neubeginn angehen. Man muss das Rad nicht neu erfinden – mit Österreich vergleichbare Länder wie Finnland zeigen in Politik und Verwaltung vor, wie es gehen kann. Fangen wir an.

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Oliver Scheiber ist Jurist und einer der Proponenten des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens.

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Das Gesetz ist für alle gleich, oder?

Kommentar für den Standard vom 18.3.2022

Untersuchungshaft für Prominente sorgt für Aufsehen, für Arme und Schwache scheinen wir sie zu akzeptieren. Das ist ein Missstand

Wir sollten über die Haft reden und auch Alternativen entwickeln, sagt Richter Oliver Scheiber im Gastkommentar.

Mit Stichtag 1. März waren in Österreich 1650 Menschen in U-Haft.
Foto: Heribert Corn / https://www.corn.at

Fabian Schmids Anstoß einer Diskussion über die Härte von Inhaftierungen (siehe „U-Haft für Karmasin: Zu streng, aber kein Einzelfall“ist wichtig. Zu selten wird in Österreich Haft hinterfragt, es sei denn, Prominente sind betroffen. Die Verhängung der Untersuchungshaft über ein früheres Regierungsmitglied, wie im Fall Karmasin, erregt schon deshalb Aufsehen, weil das bisher so gut wie nie vorkam.

Eine Gesamtbetrachtung ergibt, dass Österreich im internationalen Vergleich bei einer sehr niedrigen Kriminalität hohe Häftlingszahlen hat. Die Justizanstalten haben wenig Ressourcen, die Haft hat bei den meisten Insassen wohl mehr negative als positive Wirkungen. Das kann nicht anders sein, wenn man auf wenig Platz sehr viele Menschen mit schweren Problemen ohne intensive Betreuung und mit wenig Beschäftigung zusammensperrt. Das Gesetz ist für alle gleich, oder? weiterlesen

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