Beitrag für die Österreichische Richterzeitung
erschienen in RZ 11/2011
Michele Prestipino, einer der bekanntesten Anti-Mafia-Staatsanwälte Italiens, war Ende Juni auf Einladung des Leiters des Italienischen Kulturinstituts, Dr. Fabrizio Iurlano, zu Gast in Wien.[1] Prestipino führte von 1996 bis 2008 als Nachfolger der ermordeten Staatsanwälte Falcone und Borsellino die Mafiaermittlungen in Palermo. 2006 gelang ihm die spektakuläre Festnahme des obersten Mafiabosses Bernardo Provenzano. Seit nunmehr drei Jahren leitet Prestipino die Ermittlungen gegen die `Ndrangheta in Kalabrien. In seinem Vortrag in Wien gab Prestipino ungewohnt offene Einblicke in die Arbeit der italienischen Justiz wie auch in das Innenleben von Mafia und `Ndrangheta. Dabei lieferte er der österreichischen Zuhörerschaft, bei allen Unterschiedlichkeiten der Situation in Italien und Österreich, jede Menge gedanklicher Anstöße: im Allgemeinen, was Selbstverständnis und Courage der Strafverfolgung betrifft, aber auch im technischen Detail, etwa bei der breiten Abschöpfung kriminellen Vermögens.[2]
Die `Ndrangheta liegt wie ein Netz über der Gesellschaft Kalabriens. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gibt es in der Provinz Reggio Calabria drei Mal mehr Mafiamitglieder als in Sizilien und 13 Mal mehr als in Apulien bei der dortigen Sacra corona unita. Im 1,5 Millionen Einwohner zählenden Kalabrien gliedert sich die `Ndrangheta in rund 140 kriminelle Gruppen. Alleine in der Provinz Reggio Calabria bestehen 70 so genannte locali (Ortsgruppen), wobei ein locale mindestens 49 Mitglieder haben muss. Für die kalabresische Kleinstadt Rosarno konnte Prestipino nachweisen, dass mehr als 10% der Einwohner direkt in die `Ndrangheta verwoben sind. Im Zusammenhang mit der Festnahme der führenden Familien allein dieses Ortes konnten vor kurzem dreistellige Millionen-Eurobeträge beschlagnahmt werden. Der Abschöpfung kriminellen Vermögens kommt in modernen Strategien gegen Organisierte Kriminalität gleich viel bzw bereits mehr Bedeutung zu als der Festnahme der Bosse.[3]
Verhaftungswelle seit 2010
In den letzten Jahren ist die `Ndrangheta nicht nur nach Norditalien, sondern in andere Staaten und Kontinente expandiert. Die Zentrale der nunmehr globalen kriminellen Organisation befindet sich nach wie vor in Reggio Calabria. Gleichzeitig beginnen die forcierten Ermittlungen Prestipinos Früchte zu tragen: so konnte im September 2009 das jährliche ritualisierte Treffen der Capos Kalabriens in einem Kloster im Aspromonte per Video überwacht werden. In der Folge wurden die Wohnungen einzelner identifizierter Capos, ein Treffen lombardischer Bosse (nicht ohne Zynismus in einem „Club Falcone-Borsellino“ benannten Pensionistenverein abgehalten) sowie eine Zusammenkunft des deutschen Arms der `Ndrangheta in Singen observiert. Im März 2010 gelangen den Ermittlungsbehörden ergänzend zu den Videos erstmals auch Stimmaufzeichnungen der Bosse der `Ndrangheta. Die Überwachung erzeugte nicht nur ein bisher einmaliges Beweissubstrat, sie zeichnet auch ein Bild der völligen sozialen Kontrolle der `Ndrangheta über den Alltag der Menschen in Kalabrien. So wurde etwa der Boss der Locale „Ionisches Calabrien“ tagelang dabei gefilmt, wie er zu Hause Audienzen gewährt. Der für einen Capo offenbar typische Tagesablauf besteht im rund zehn Stunden dauernden Empfang rasch wechselnder Gäste. Bei den Audienzen werden lokale Capos für einzelne Dörfer bestimmt, Aufträge erteilt, Erpressungen und Manipulationen öffentlicher Ausschreibungen geplant. Auch viele Nichtmafiosi sprechen vor. Bürger kommen zum Capo als Bittsteller, Mütter ersuchen den Capo um Empfehlungsschreiben für die Einschreibung ihrer Kinder an der Universität.
Ende März 2010 konnte der Besuch eines Steuerberaters bei einem Capo aufgezeichnet werden, der mit seinen guten Kontakten zu Justiz und staatlichen Einrichtungen prahlte und über die Ermittlungen Prestipinos offenkundig bestens informiert war – er war sogar im Besitz von Namenslisten zu geplanten Verhaftungen. Im Juli 2010 schlugen die Ermittlungsbehörden zu und nahmen rund 100 führende Personen der `Ndrangheta in Italien, Deutschland und in der Schweiz fest. Mittlerweile wurden die ersten Anklagen erhoben. Die Bosse der `Ndrangheta sind nach wie vor in Untersuchungshaft. Das italienische Höchstgericht hat die Verhängung der Haft bisher in allen Fällen bestätigt. Auch in Mailand läuft ein Verfahren. Noch für 2011 werden die ersten Urteile gegen die Bosse der `Ndrangheta erwartet. Parallel läuft die Verhaftungswelle in ganz Europa weiter und erreicht im August 2011 auch Österreich.[4]
Erleichtert wurde die Arbeit der ermittelnden Behörden durch eine Gesetzesänderung im Februar 2010. Damals wurde die `Ndrangheta als kriminelle Organisation im italienischen Strafgesetzbuch namentlich angeführt und die bloße Mitgliedschaft unter Strafe gestellt.
Wirtschaftsmacht `Ndrangheta
Die `Ndrangheta verfügt über große Reichtümer. Den Grundstein zu ihrem Vermögen hat die `Ndrangheta in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Entführungen von Mitgliedern reicher norditalienischer Familien gelegt, die in Süditalien (im Aspromonte) festgehalten und für deren Freilassung hohe Lösegelder kassiert wurden. Prestipino berichtete, dass in manchen Dörfern nach dem Inkasso von Lösegeld sämtliche Häuser aufgestockt wurden. Mit den Geldern aus den Entführungen beteiligte sich die `Ndrangheta am Kokainhandel und mehrte ihr Vermögen. Heute steige die `Ndrangheta in verschiedene Wirtschaftssegmente ein und dränge durch die höhere Liquidität ihre auf Kredite angewiesenen Mitbewerber rasch aus dem Markt. So erreiche die `Ndrangheta in Bereichen wie dem Bau- oder Erdarbeitengewerbe rasch Monopolstellung. An Umsatz hat die `Ndrangheta bereits die sizilianische Mafia überholt. Geographisch expandiert die `Ndrangheta nach Norditalien, in andere Staaten und Kontinente. Prestipino erinnerte daran, dass sich etwa Deutschland erst durch die Anschläge auf eine Pizzeria in Duisburg vor einigen Jahren bewusst geworden sei, dass Mafia und `Ndrangheta längst vor Ort operieren. Archaische Rituale wurden dabei mitexportiert: in Duisburg etwa fand man bei einem 18-jährigen Mafiamitglied ein vom Feuer versengtes Bild des Erzengels Michael, der als Schutzpatron der `Ndrangheta gilt – Indiz für das Aufnahmeritual in die `Ndrangheta. Die Morde von Duisburg führten zur Gründung der Initiative Mafia?Nein danke!,[5] der größten Anti-Schutzgeld-Kampagne außerhalb Italiens, durch die nunmehrige römische Parlamentsabgeordnete Laura Garavini.[6]
Wiedergewinnung des Vertrauens in den Staat
Prestipino setzt bei der Bekämpfung der weltweit operierenden kriminellen Oganisationen Mafia und `Ndrangheta auf eine international vernetzte Polizei- und Justizarbeit. Der Zusammenarbeit auf EU-Ebene misst er besondere Bedeutung bei. Gleichzeitig sieht Prestipino in der strikten Beachtung der Grundrechte bei der Bekämpfung des Organisierten Verbrechens eine der großen Herausforderungen für die Justiz.
Mafia und `Ndrangheta sind in der Sicht Prestipinos zum Ersatzstaat geworden; dies gelte insbesondere für Süditalien. Dauerhaft könne daher nur die Einrichtung eines modernen Sozialstaats die kriminellen Organisationen schwächen. Ungewohnt breit ist der Ansatz von Polizei und Justiz in Kalabrien: Prestipinos Ermittler besuchen neben ihrer kriminalistischen und engeren strafrechtlichen Arbeit gezielt Schulen und leisten Aufklärungsarbeit; gerade in Hochburgen der `Ndrangheta. Auf diese Weise soll das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat wieder hergestellt werden. Es gelingt so, auch Kinder von Mitgliedern der `Ndrangheta zur Abkehr vom kriminellen System zu bewegen. Die Wiedergewinnung des Vertrauens der Bevölkerung in einen sichtbaren, starken und sozialen Staat soll die „Viruskette der Mafia“ unterbrechen. Um die Mafiabekämpfung schlagkräftiger zu machen und die einzelnen RichterInnen, StaatsanwältInnen und PolizeibeamtInnen besser zu schützen, fordert Prestipino, dass bei den Ermittlungen nicht einzelne Personen in den Vordergrund treten, sondern immer der Staat bzw die staatliche Behörde. Einzelkämpfer würden nicht helfen, weil sie besonders gefährdet wären und ausgeschaltet werden könnten. Eine Risikominimierung für die ermittelnden Personen sei nur durch kollektives Handeln möglich. Mit dieser Strategie der Stärkung der Staatsgewalt sei es in Sizilien in den letzten 20 Jahren gelungen, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Das Palermo des Jahres 1996 ist nach dem Dafürhalten Prestipinos mit jenem der Gegenwart nicht mehr vergleichbar; die Mafia habe viel von ihrer einstigen Macht verloren. Einen ähnlichen Prozess versucht Prestipino nun in Kalabrien einzuleiten. Für den Außenstehenden ist Prestipinos These des kollektiven Behördenhandelns überzeugend; gleichzeitig lassen sich die Erfolge der italienischen Justiz in der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität ohne herausragende Charismatiker wie Prestipino, Falcone, Grasso, Caselli oder Imposimato[7] – und ihre öffentlichen Auftritte und Appelle – schwer denken.
Michele Prestipino wurde bei seinem Wienbesuch von Claudio La Camera, dem Leiter des Museums der `Ndrangheta[8] in Reggio Calabria, begleitet. Dieses Museum wurde 2009 in einem von einer Familie der `Ndrangheta beschlagnahmten Haus eingerichtet. Das Museum wird von der Stadt Reggio sowie von der Region Kalabrien gefördert. Unter anderem werden Workshops zur Aufklärung über die Arbeit und die Bekämpfung der `Ndrangheta organisiert. Das Museum hat überregionale Bekanntheit erreicht und empfängt heute Besucher aus der ganzen Welt.
[1] Der Beitrag basiert auf Ausführungen von Michele Prestipino bei seinem öffentlichen Vortrag am 29.6.2011 im Italienischen Kulturinstitut in Wien; s. auch http://www.iicvienna.esteri.it/IIC_Vienna (Stand: 9.10.2011).
[2] Dabei decken sich Prestipinos wesentliche Aussagen mit den Einschätzungen anderer führender MafiaexpertInnen wie Piero Grasso, Gian Carlo Caselli oder Laura Garavini; vgl auch die aktuellen Beschreibungen des `Ndrangheta-Aussteigers Giuseppe Di Bella: Gianluigi Nuzzi, Claudio Antonelli, Metastasen. Ein Kronzeuge der ‚Ndrangheta enthüllt die Geheimnisse des größten Familienunternehmens der Welt, Ecowin Verlag 2011 (2. Auflage).
[3] Vgl Laura Garavini, Mitglied im parlamentarischen Anti-Mafia-Ausschuss im Parlament in Rom, im Interview mit dem Standard vom 8./9.10.2011: „Die Konfiszierung von Gütern ist wesentlich wirksamer als das Einsperren von Bossen.“ (http://derstandard.at/1317019652500/Mafia-Bosse-rechnen-damit-ins-Gefaengnis-zu-kommen, Stand: 9.10.2011).
[7] Giovanni Falcone, Piero Grasso, Gian Carlo Caselli und Ferdinando Imposimato zählen neben Michele Prestipino zu den italienischen Magistrati, die an den Erfolgen im Anti-Mafia-Kampf seit den 1970er-Jahren maßgeblichen Anteil hatten.