Die große Chance für ein erstarrtes Land – Essay für den falter 25/23

Das Comeback der Sozialdemokratie kann zu einem Comeback der demokratischen Kultur werden. Wie sich dieses Land, seine Politik und seine Medien neu erfinden könnten

OLIVER SCHEIBER
POLITIK, FALTER 25/23 VOM 21.06.2023

Die SPÖ erlebt mit Andreas Babler einen Neubeginn. Wird die Partei die Fehler der Vergangenheit korrigieren können? (Illustration: PM Hoffmann)

Auf einmal ist es da: Österreichs Window of Opportunity. Unverhofft und aus heiterem Himmel, nachdem der Parteiapparat der SPÖ die Kontrolle verloren hatte. Am Ende des Prozesses steht Andreas Babler als neuer Parteichef fest. Die jahrelange Lähmung nicht nur der SPÖ, sondern auch der österreichischen Innenpolitik ist durchbrochen.

Dies nicht, weil ein Wechsel an der Spitze stattgefunden hat – auch das Bundeskanzleramt hat in dieser Legislaturperiode bereits den dritten Amtsinhaber, ohne dass sich an der Politik viel geändert hätte. Das Entscheidende ist, dass Babler einen völlig anderen Politikertypus verkörpert als jenen, der, quer durch alle Parteien, die letzten Jahre bestimmt und das Land nach unten geführt hat.

Babler steht für die von vielen Menschen ersehnte Hoffnung, diesen Trend nach unten wieder umzukehren. Denn beginnend mit der türkis-blauen und nun türkis-grünen Regierung fällt Österreich in vielen wichtigen Rankings stetig zurück: in maßgeblichen Messinstrumenten zu Demokratiequalität, Korruptionsverbreitung, Umweltdaten (Bodenversiegelung, CO2-Ausstoß) oder Pressefreiheit.

Österreich wurde 2022 vom V-Dem-Institut der Universität Göteborg in deren renommierter Untersuchung von einer liberalen Demokratie in den Rang einer Wahldemokratie zurückgestuft. Darunter ist eine minimale Demokratieform zu verstehen, in der zwar Wahlen stattfinden, in der aber wichtige Demokratiebedingungen schwächeln oder fehlen. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass die Bevölkerung das Gefühl hat, zwar die Stimme abgeben, dadurch aber keine tatsächliche Veränderung herbeiführen zu können. Und tatsächlich: Die Regierung hat keine über den Tag hinausreichenden Konzepte für die großen Zukunftsfragen: weder bei Klimamaßnahmen noch in den Bereichen Bildung, Pflege, Armutsbekämpfung oder Digitalisierung.

Es ist ein gemeinsames Versagen von Politik und Medien, die sich in eine unglückliche wechselseitige Abhängigkeit begeben haben. Die österreichische Form der Medienfinanzierung, in der nur ganz geringe Mittel nach Qualitätskriterien vergeben werden, wo aber von der Regierung jedes Jahr dreistellige Millionenbeträge willkürlich über Medien im Wege von Inseraten ausgeschüttet werden, begründet maßgeblich den langsamen Abstieg Österreichs.

Von einem „stillen Tod der Justiz“ hat der frühere Vizekanzler der Expertenregierung, Jabloner, gesprochen. Von einem stillen Tod Österreichs insgesamt kann man mittlerweile sprechen. Das verhängnisvolle Verhältnis zwischen Politik und Medien ist untrennbar mit der zu großen Nähe und Verhaberung des innenpolitischen Journalismus und der Politik verbunden. Es ist unverständlich, dass sich Österreich Medien gegen dieses System nicht lautstark zur Wehr setzen und sich davon befreien, nimmt es den Journalistinnen und Journalisten und den Medien insgesamt doch Selbstwert und Würde.

Es ist kaum möglich, die Rolle der Medien als vierte Gewalt im Staat und kritische Kontrollinstanz wahrzunehmen, wenn man von Tag zu Tag vom Geld der Regierung abhängig ist. Es handelt sich um nichts anderes als Geldgeschenke und nichts anderes als das, was das Strafrecht sonst als Anfütterung bezeichnet. Die Konstellation ist beiderseits unmoralisch. Selbst dort, wo Beteiligte integer sind, muss bei der Bevölkerung immer der Anschein der Befangenheit und Abhängigkeit bestehen. Dazu kommt aber noch, dass Österreichs Politik und Medien sich von der Bevölkerung abgekoppelt haben, allzu oft die Lebensrealitäten der Bevölkerung nicht kennen beziehungsweise sich nicht darum kümmern. Diese Haltung hat den Erfolg rechtsextremer Bewegungen maßgeblich befördert. Die schon in der Sprache erkennbare Überheblichkeit und Entfernung vom Alltag der meisten Menschen führt mitunter zu einer zynischen Politik – sie wird von den Medien nicht ausreichend korrigiert. Im Gegenteil: Es leben Politik und Teile des innenpolitischen Journalismus in einer gemeinsamen Blase, die mit der Realität des Rests des Landes wenig zu tun hat und zu der sich noch diverse Beraterinnen und Berater und sonstige Mitläufer gesellt haben.

Die Tendenz zu solchen Entwicklungen besteht in jedem Land, in Österreich hat sie in den letzten Jahren aber alle Grenzen des Erträglichen überschritten, die bekannt gewordenen Chatprotokolle belegen die verhängnisvollen Nahebeziehungen. Die Verallgemeinerung ist an dieser Stelle für den Befund notwendig, sie tut naturgemäß den vielen tatsächlich unabhängig arbeitenden Journalisten inner- und außerhalb der Innenpolitik unrecht. Und gerade die Wahl Bablers hat die Bedeutung und Kraft eines unabhängigen, wachsamen Journalismus gezeigt: indem ORF-Redakteur Martin Thür den Widersprüchlichkeiten des Wahlergebnisses nachging und so den Gang der Geschichte beeinflusste.

Autoritäre Entwicklungen in Österreich wurden zuletzt von vielen, gerade auch konservativen Politikern von Franz Fischler bis Jean-Claude Juncker festgestellt. Diese Entwicklungen wären ohne die unkritische Haltung der Medien nicht möglich. So war es bezeichnend, wie wenig über das aufrüttelnde Statement von Michel Friedman, der den Abgeordneten von ÖVP und FPÖ bei der Gedenkstunde im Mai im Parlament den Spiegel vorhielt, geschrieben wurde. Vielsagend waren auch die Gesichter vieler Abgeordneter während der Rede, die eine solche Kritik weder kennen noch damit umgehen können. Einen ähnlichen Eindruck gewann man beim Betrachten der Gesichter vieler Spitzenfunktionäre der SPÖ während der Rede Bablers auf dem Parteitag. Bei beiden Anlässen wurde die Ruhe saturierter Funktionärszirkel gestört.

Die Macht und die Nähe zur Macht, das hektische Alltagsgeschäft tragen für Politik und Medien die Gefahr in sich, in einen Elfenbeinturm zu geraten, abgehoben zu werden, oder, um es sachter zu formulieren, die Gefahr, dass man den Alltag der Menschen, in deren Leben man durch Entscheidungen eingreift, zu wenig kennt. Weil man kaum existenzielle finanzielle Sorgen kennt, eine gesicherte Wohnsituation hat, Wochenenden im Grünen mit Städtereisen abwechselt. Man regelt Lebensbereiche und Lebensumstände, aber man führt keine Gespräche mit Menschen, die psychisch krank sind, langzeitarbeitslos sind oder im Gefängnis waren, also mit jenen, deren Lebenssituation sich von der eigenen stark unterscheidet.

Die Mittagspausen verbringt man in Besprechungen mit Mitarbeitern und Kollegen, anstatt einmal allein durch die Stadt zu gehen, in Selbstbedienungsrestaurants von Supermärkten oder in kleinen Cafés in der Vorstadt zu essen. Der Abkoppelung von der Vielfalt der Lebensverhältnisse in der Bevölkerung sind, so scheint es, viele in Österreichs Politik und innenpolitischen Redaktionen anheimgefallen – das ist kein moralischer Vorwurf, es passiert oft unbemerkt, schleichend. Es zeigt sich aber in der Wahl der Themen und in der Sprache vieler Medien, die weitgehend an den Themen und der Sprache der Bevölkerung vorbeigehen.

Österreichs Medien haben das doppelte Problem, dass sie einerseits in Geiselhaft der Regierenden durch die Abhängigkeit von Inseraten sind, dass andererseits auch bei ihnen die jahrelange Message-Control der Regierungen ihre Wirkung entfaltet. Selbst wenn man sich solcher Politikstrategien bewusst ist: Wenn jahrelang tagaus, tagein Fotos von Parteizentralen und Ministerien, immer gleiche Botschaften von Parteiapparaten und Ministerkabinetten verteilt werden, kann man sich dem schwer entziehen. Das zeigt sich im gesamten Zugang des Mainstreams von Politik und Medien zur Migrationsfrage, aber etwa auch in der Verniedlichung dessen, was die Vielzahl an Korruptionsstrafverfahren bedeutet. Natürlich ist es schwer, den Überblick zu behalten und die Dinge einzuordnen. Das Problem für das demokratische System, dass sowohl gegen die größere Regierungspartei als auch gegen eine beispiellose Vielzahl von hochrangigen Politikern Ermittlungen geführt werden, wird jedoch in sträflicher Weise verharmlost. Denn die Delikte, zu denen Ermittlungen geführt werden, sind überwiegend Verbrechen nach dem Strafgesetzbuch, was in der Berichterstattung vielfach bagatellisiert transportiert wird.

Migrations-und Korruptionsthema zeigen beispielhaft, auf welch unterschiedliche Weise man sich einem Gegenstand nähern kann. Puls-4-Infochefin Corinna Milborn hat vor bald 20 Jahren intensiv an den Außengrenzen der EU recherchiert, die Flüchtlingslager besucht und ausführlich dazu publiziert. Die selbst recherchierten Fakten und gewonnenen Eindrücke prägen ihre Arbeit seither und bilden sich heute noch in einer differenzierten Berichterstattung aus, die sich wohltuend vom vereinfachenden, an die Regierungskommunikation angelehnten innenpolitischen Mainstream abhebt. Eine spektakuläre Einzelleistung wurde jüngst vom Vorsitzenden der Partei Wandel, Fayad Mulla, erbracht, der auf der griechischen Insel Lesbos illegale Entführungen und Rücksendungen von Flüchtlingen monatelang recherchiert und gemeinsam mit der New York Times veröffentlicht hat.

Das Sich-selbst-ein-Bild-Machen ist eine Grundvoraussetzung menschlicher Politik genauso wie guter Berichterstattung. Es ist etwa schwierig, die Situation an den Außengrenzen der EU einzuordnen, ohne jemals die Situation in der spanischen Enklave Melilla in Afrika beobachtet zu haben, wo verzweifelte Männer versuchen, über die Gitterzäune auf das Hoheitsgebiet der Europäischen Union zu gelangen. Mehr Beobachtung vor Ort würde der Migrationsdebatte in Europa viel von ihrem Zynismus nehmen. Und genauso wichtig sind für Politik wie Medien Gespräche mit und Recherchen bei den Schwachen in unserer Gesellschaft, bei Fahrradboten, Zeitungsverkäufern, prekär Beschäftigten, um die Dinge besser einzuordnen, bessere Lösungen zu finden und so das Erstarken des Rechtsextremismus quer durch Europa aufzuhalten.

Gerade darin liegen Vorteil und Stärke von Politikern des Typus Bablers: Er steht seit vielen Jahren mitten im Geschehen des Alltags, kennt die Schwierigkeiten eines großen Flüchtlingszentrums, die Probleme der Geflüchteten und jene der angestammten Wohnbevölkerung. Er hat die unterschiedlichen Wünsche und Anliegen zur Zufriedenheit einer sehr breiten Mehrheit der Bevölkerung zusammengeführt und bezieht daraus seine politische Stärke und Glaubwürdigkeit.

Die Krise der Demokratie in Österreich und Europa ist vor allem eine Krise der traditionellen Parteien. Die meisten sind erstarrt, auf kurzfristige Umfragen ausgerichtet, haben keine Vision mehr. Sie haben kritische Stimmen aus den Apparaten verdrängt, folgen den Strategien ihrer unpolitischen Berater und der Spur des Geldes. Diese Diagnose betrifft die große Mehrzahl der österreichischen Parteien.

An einer Veränderung dieser Situation hatte allerdings im System bisher niemand Interesse; nicht in den politischen Parteien und auch nicht in den Medien. Alle haben sich an die österreichische Spektakelkultur, die seit Jörg Haider herrscht, gewöhnt und es sich darin gemütlich gemacht oder sich zumindest arrangiert.

Dazu kommt, dass Menschen, auch wenn sie in schlechten Verhältnissen leben oder unter ungünstigen Bedingungen arbeiten, die Veränderung scheuen. Veränderung macht immer Angst. Die meisten ziehen es vor, in gewohnten Verhältnissen zu leben oder zu arbeiten, als eine Veränderung zu wagen und den Schritt zum Unbekannten zu tun.

Auch das mag ein Faktor sein, warum Österreichs Medien das System der Inseratenkorruption so geduldig ertragen. Und es erklärt die herablassenden Kommentierungen zu Bablers Kandidatur auch in Qualitätszeitungen, die mit Wahlkampfkostenüberschreitungen und Aktenverweigerungen gegenüber dem Parlament weniger Probleme hatten als mit der Kandidatur eines Bürgermeisters für den Vorsitz einer Bundespartei.

Diese Lähmung und Korrumpierung des Landes und des politischen Systems ist mit der Wahl Andreas Bablers zum Vorsitzenden der SPÖ auf einmal durchbrochen. Vielleicht spricht auch deshalb die Mehrzahl der innenpolitischen Kommentatoren von einer Katastrophe und einem Tiefpunkt, wo die Vorgänge doch bei ruhiger Betrachtung die größte Chance für das gesamte politische System seit vielen Jahren sind.

Ob es gelingt, sie zu nutzen, wird sich erst zeigen. Aber mit der innerparteilichen Bewegung und Kampagne Bablers wurde erstmals seit Jahren das System der Message-Control durch die Parteiapparate, die absolute Herrschaft von Funktionären, die stillschweigende Allianz von Apparaten mit innenpolitischen Kommentatoren durchbrochen.

Auf einmal steht jemand an der Spitze einer Partei, der vielleicht auch, aber jedenfalls nicht nur in der Welt der Politik und der Medien zuhause ist, sondern der ganz offenkundig gern unter Menschen ist, in klarer Sprache spricht. Allein diese Zugewandtheit zu Menschen scheint bei einem großen Teil der österreichischen Politik und Medien bereits Ängste auszulösen. Dabei gab es schon Vorboten – die Erfolge Marco Pogos bei der Bundespräsidentschaftswahl, Elke Kahrs in Graz und zuletzt Kay-Michael Dankls in Salzburg beruhen ebenso auf der authentischen Zugewandtheit zur Bevölkerung, der Befassung mit den im Alltag wichtigen Fragen und der verständlichen Sprache.

Die meisten bisherigen Einordnungen Bablers übersehen völlig dessen Leistung, in einer Stadt mit dem größten und meist überfüllten Flüchtlingslager des Landes den gesellschaftlichen Frieden zu halten und 70 Prozent der Bewohner der Stadt für eine aktive Menschenrechtspolitik auf kommunaler Ebene zu gewinnen. Es ist eine Leistung, die wohl europaweit wenige Beispiele hat. Das innovative und erfolgreiche Pandemie-und Schulmanagement Bablers bleibt in den meisten innenpolitischen Kommentaren ausgespart und verzerrt die Einordnungen.

Was wir in den letzten Jahren in Österreich erlebt haben, ist eine autoritäre Tendenz, die an Worten und Gesetzesvorschlägen abzulesen ist. Die früher staatstragende ÖVP hat weitgehend den Stil und Inhalt rechtspopulistischer Parteien übernommen. Seit der Obmannschaft von Kurz haben sich viele konservative kritische Geister abgewandt.

Jetzt ist der Zeitpunkt, da sich die kritischen Geister aller Parteien zu Wort melden müssen. In der SPÖ werden die, die viel zu bieten hatten und lange vom Parteiapparat kleingehalten wurden, jetzt Gewicht bekommen: von Nikolaus Kowall, der den Prozess erst angestoßen hat, über Julia Herr bis zu Jan Krainer. Und solche Persönlichkeiten gibt es auch bei ÖVP und Grünen, und nahezu alle, die kritisch waren, hatten ein ähnliches Schicksal, sie wurden von ihren Parteiapparaten hinaus- oder an den Rand gedrängt. Warum sollte dort nicht auch auf einmal eine Persönlichkeit wie der Lustenauer Bürgermeister Kurt Fischer oder der erfolgreiche Europapolitiker Othmar Karas an der Spitze stehen, unbelastet von allen Affären der letzten Jahre und in der Tradition des Stils und der Inhalte früherer großer Konservativer?

Wir stehen vor einer großen Chance für eine völlige Neuaufstellung Österreichs und eine große gemeinsame Anstrengung über alle politischen Richtungen hinweg. Die SPÖ hat so unverhofft als erste traditionelle Partei die einmalige Chance erhalten, Erneuerung zu schaffen. Wenn ÖVP und Grüne demnächst in diesem Prozess nachziehen, dann wäre das ein großes Momentum für das Land.

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Der Autor ist Jurist und Mitinitiator des Antikorruptionsvolksbegehrens. Er hat sich in zwei Büchern mit der Krise von Sozialdemokraten und Konservativen beschäftigt. Zuletzt erschienen: „Die Krise der Volkspartei“(bahoe books, 2023)

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Gespräch für den falter mit Michael Buschheuer

„Wir haben Mütter an Bord, deren tote Kinder wir am selben Boot in den Kühltruhen mitführen“

Michael Buschheuer, ein bayrischer Unternehmer, gründete 2015 die NGO Sea-Eye, die seither 16.000 Menschen im Mittelmeer das Leben rettete

OLIVER SCHEIBER
02.03.2023

Sea-Eye- und Space-Eye- Gründer Michael Buschheuer

In seinem Brotberuf ist Oliver Scheiber amtierender Strafrichter in Wien – darüber hinaus aber auch ein engagierter Beobachter gesellschaftspolitischer Debatten, Moderator aktueller Podiumsdiskussionen, wie etwa kürzlich zu den Protesten im Iran und nicht zuletzt regelmäßiger Autor für den Falter.

Diesmal sprach Scheiber mit Michael Buschheuer, einem Mann, der ein mittelständisches Malerei- und Lackiererunternehmen im bayrischen Regensburg führt – darüber hinaus aber 2015 die private Seenotrettungs-NGO Sea-Eye gegründet und auf diese Weise 16.000 Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet hat. Danach gründete er die NGO Space-Eye, die sich vorwiegend um die Versorgung von Geflüchteten an Land kümmert.

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Falter: Was veranlasst einen erfolgreichen Unternehmer aus Bayern, in die Seenotrettung im Mittelmeer einzusteigen?

Michael Buschheuer: Mir ist vor einigen Jahren bewusst geworden, dass wir in Ländern wie Deutschland und Österreich einen immer höheren Wohlstand genießen, während es anderen Staaten deutlich schlechter geht, und dass das gleichzeitig mit einer wachsenden Angst vor den Ärmsten, etwa vor Flüchtlingen, einhergeht. Meine Familie hat schon lang ein Boot in Kroatien, mit dem wir jedes Jahr in der Adria unterwegs waren, was meine Gedanken zum Sterben im Mittelmeer führte. Irgendwann wollte ich diesem Sterben im Mittelmeer nicht mehr zusehen. Ich habe mich informiert und mit Experten besprochen und schließlich einen alten Fischkutter gekauft, so ein Schiff kostet nicht mehr als ein Kleinwagen. Wir haben ein Team zusammengestellt, da waren Menschen aus medizinischen und sozialen Berufen dabei, und haben 2016 mit der Seenotrettung begonnen. In den letzten Jahren haben wir ungefähr 16.000 Menschen aus dem Mittelmeer geborgen.

Falter: Wie kann man sich die Seenotrettung im Mittelmeer praktisch vorstellen?

Buschheuer: Die Lage ist insgesamt fatal. Die Flüchtlinge im zentralen Mittelmeerraum brechen fast ausschließlich aus Libyen auf. Die Situation in Libyen selbst ist katastrophal. Flüchtlinge, die es aus anderen afrikanischen Ländern bis Libyen schaffen, sind dort nicht mehr Herr ihres eigenen Schicksals. Sie werden in Lagern angehalten, gefoltert, die Frauen werden vielfach in die Zwangsprostitution gebracht, bis sie dann schwanger werden. Die Flüchtlinge wollen aus dem Horror hinaus. Sie werden in Schlauchboote gebracht. Diese Boote sind so schwach, dass damit eine Überfahrt nach Europa in keinem Fall gelingen kann. Von den vielen Anrainerstaaten des Mittelmeers ist zudem Italien das einzige Land, das Rettungsschiffen überhaupt noch ein Anlegen erlaubt. Das wurde in den letzten Jahren allerdings auch in Italien stark behindert.

Falter: Hat sich die Lage in den letzten Jahren verschlimmert?

Buschheuer: Das für mich Bedrückende ist, dass die Europäische Union, die so viele Verdienste im Menschenrechtsbereich und in der Flüchtlingshilfe hat, an ihrer Außengrenze einen rechtsfreien Raum zulässt bzw. aktiv schafft. Mit der Operation „Mare Nostrum“ hat Italien rund 150.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Im Jahr 2014 hat Italien diese Rettungsoperation auf Druck anderer europäischer Staaten, auch Deutschland und Österreich eingestellt. Es hat dann die EU-Agentur Frontex die Grenzsicherung übernommen, deren Philosophie nur die Abwehr von Flüchtlingen ist. Zum Teil wurden die Menschen in Not direkt nach Libyen zurückgetrieben, wo sie Folter oder Tod erwartet. Mittlerweile sind nur mehr drei oder vier NGOs in der Seenotrettung aktiv. Wir wollen einfach das internationale Seerecht durchsetzen, das vorsieht, Menschen in Not in den nächstgelegenen Hafen zu bringen. Oft erhalten die Rettungsschiffe keine Landeerlaubnis, es ist ein tage- oder wochenlanges Warten. Wir sind damit konfrontiert, dass Menschen auf den Schiffen sterben, da sind dann auf einmal Mütter an Bord, deren tote Kinder wir am selben Boot in den Kühltruhen mitführen. Die Seenotrettung an sich ist nicht ungefährlich, es gibt Seepiraterie und es wurden zum Beispiel zwei unserer Crewmitglieder entführt und nach Libyen verbracht. Sie wurden später Gott sei Dank frei gelassen.

Falter: Gibt es überhaupt noch Seenotrettung in anderen Bereichen des Mittelmeers?

Buschheuer: Wie gesagt ist Italien das einzig verbliebene Land, das noch eine Landung von Rettungsschiffen zulässt. Mit Space-Eye haben wir jetzt als einzige NGO auch ein offiziell gelistetes Rettungsschiff vor den griechischen Gewässern, allerdings geht die griechische Regierung brutal gegen jede Form von Hilfeleistung vor. Das ist eine extrem schwierige Situation.

Falter: Es gibt immer den Einwand, dass nicht alle Menschen nach Europa kommen können.

Buschheuer: Ich sehe die Dinge realistisch. Selbstverständlich können nicht alle Menschen nach Europa kommen. Gleichzeitig muss die Europäische Union Menschenrechte, Menschenwürde und Asylrecht hochhalten. Dieser Mittelweg ist möglich. Die EU darf sich auch keine Unmenschlichkeit erlauben und darf nicht nötige Hilfeleistung für Menschen in Lebensgefahr unterlassen. Europa ist dadurch stark geworden, dass es in den letzten Jahrzehnten immer ein möglichst flaches wirtschaftliches Gefälle nach außen ausgebildet hat. Wenn wir nun an unseren Außengrenzen Mauern und Zäune errichten und dieses Europa in seinem heutigen Zustand quasi innerhalb der Mauern einfrieren, dann wird das für die Gesellschaft insgesamt furchtbare Folgen haben. Ich habe auch Angst davor, dass flüchtende Menschen dauerhaft in einem gesetzesfreien Raum bleiben.

Falter: Eines der Anliegen von Space-Eye ist die Dokumentation der Flüchtlingsschicksale.

Buschheuer: Aus unseren Erfahrungen in der Seenotrettung wissen wir, was für ein hoher Anteil unter den Flüchtlingen Opfer von Raub, Mord oder Vergewaltigung wird. Erst wenn wir Fluchtgeschichten besser dokumentieren, dann wird deutlich werden, dass diese Vielzahl von Raub, Mord und Vergewaltigungen an Flüchtlingen nicht Einzelverbrechen sind, sondern dass ihnen organisierte, verbrecherische Strukturen zu Grunde liegen. Wir werden durch die Dokumentation immer dieselben Täternamen und Tätergruppen sehen und es wird klar werden, dass es sich hier um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, gegen die unter anderem die Europäische Union entschlossen vorgehen muss.

Falter: Glauben Sie, dass die Bevölkerung hinter der Flüchtlingshilfe steht?

Buschheuer: Wir erfahren in unserer Arbeit viel Zuspruch. Zu Beginn des Ukrainekriegs gab es in Regensburg ein massives Spendenaufkommen und das Anliegen der Regensburger Bevölkerung an Space-Eye, in der Ukrainehilfe aktiv zu werden. Da haben wir begonnen, Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen und auch Menschen von dort zu retten und in Regensburg aufzunehmen. Generell meine ich ja, dass Europa in der Flüchtlingshilfe viel geschafft hat. Wenn wir das Jahr 2015 betrachten, so war doch Angela Merkels Ausspruch „Wir schaffen das“ das Selbstverständlichste der Welt. Wir erwarten doch von unseren Politikerinnen und Politikern, dass sie Probleme lösen. Und das ist im Jahr 2015 gut gelungen. Ich würde mir wünschen, dass wir dieses Jahr 2015 als humanitäre Sternstunde sehen können. Diese Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zeigt sich jetzt gerade wieder. Wir haben etwa bei unserer Flüchtlingshilfe für die Ukraine in Regensburg die Unterbringung von Menschen in Zentralquartieren vermieden. Tatsächlich ist es gelungen, binnen weniger Monate 1200 Menschen in Privatquartieren in Regensburg unterzubringen, alle angekommenen Kinder besuchen Schulen. Jetzt kommt das Ganze langsam an die Grenzen, aber es ist doch eine gewaltige Leistung, die wir geschafft haben.

Falter: Wie könnte die Flüchtlingspolitik der EU in der Zukunft aussehen?

Buschheuer: Was wir brauchen, ist ein solidarisches Vorgehen der europäischen Länder. Wir müssen mit den Grenzkontrollen innerhalb der EU und mit dem Ausbau von Mauern an den Außengrenzen aufhören. Ein rechtsstaatlich organisierter Grenzschutz und eine Politik der Menschenrechte und Flüchtlingshilfe schließen sich nicht aus. Frontex leidet seit seiner Gründung an einem Konstruktionsfehler, es gibt einen untragbaren Mangel an parlamentarischer Kontrolle, das Ganze hat sich katastrophal entwickelt. Frontex sieht keine Menschen, sondern nur Objekte, die es abwehrt.

Falter: Erleben Sie persönliche Anfeindungen?

Buschheuer: Anfeindungen gibt es, das ist normal und ich kann damit leben. Ich habe eine Botschaft, die ich unter die Menschen bringen möchte. Dazu stehe ich.

Falter: Wie sehen Sie die Situation in Österreich?

Buschheuer: Ich verfolge die Situation in Österreich nicht im Detail. Aus meinem Bereich der Flüchtlingshilfe würde ich sagen, dass mir die österreichischen Behörden weniger offen erscheinen als etwa die deutschen Behörden. Das Aufstellen von Zelten halte ich etwa für verheerend. Es ist schlimm für die betroffenen Flüchtlinge und es befördert eine ablehnende Haltung in der Bevölkerung. Ich würde mir viel mehr Dialog und Zusammenarbeit wünschen. Ich suche in unserer NGO-Arbeit immer die Kooperation mit den Behörden. In vielen Fällen, in der Seenotrettung wie auch bei der Flüchtlingshilfe in Regensburg, hat das – nicht immer, aber sehr oft – gut funktioniert.

Das Interview wurde von Oliver Scheiber geführt. Er ist regelmäßiger Falter-Autor und Richter in Wien.

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