Allianz gegen die Gleichgültigkeit – Aufruf gegen Rassismus und für Reformen im Strafvollzug
Eine geringfügig gekürzte Version dieses Aufrufs erschien in der Zeitschrift falter Nr. 15/2014
Wir wiederholen unseren Aufruf zu Rassismus und Strafvollzug: Es ist Zeit,
Polizei und Justiz müssen handeln
persönliche Meinung wieder.
Mia Wittmann-Tiwald, Richterin, Co-Vorsitzende der Fachgruppe Grundrechte in der
RichterInnenvereinigung
Hannes Tretter ist Leiter des renommierten Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte in Wien
Maria Windhager ist Rechtsanwältin und eine der führenden Medienrechtlerinnen in Wien
Richard Soyer ist Rechtsanwalt, Universitätsprofessor für Strafrecht und Sprecher der
StrafverteidigerInnenvereinigung
Thomas Höhne ist Rechtsanwalt. Er ist Mitinitiator des Universitätslehrgangs
Informationsrecht an der Uni Wien
Barbara Helige, Richterin, Präsidentin der Österreichischen Liga für Menschenrechte
Alfred J. Noll, Rechtsanwalt und Universitätsprofessor in Wien, Mitglied im Ausschuss der
Rechtsanwaltskammer Wien
Manfred Nowak ist Universitätsprofessor für Verfassungsrecht. Er war UNSonderberichterstatter
gegen die Folter.
Alexia Stuefer ist Rechtsanwältin in Wien und Generalsekretärin der
StrafverteidigerInnenvereinigung.
Oliver Scheiber, Richter, Lehrbeauftragter an der Univ. Wien, Mitgründer der Fachgruppe
Grundrechte der RichterInnenvereinigung
Anatole France’ Crainquebille
Literaturnobelpreisträger Anatole France hat mit der kurzen Erzählung Crainquebille vor mehr als 100 Jahren einen noch immer gültigen Text über Recht, Gerechtigkeit und Klassenjustiz geschaffen:
Der Strafprozess als religiöses Schauspiel
Anatole
France’ Crainquebille
seiner Zeit einer der führenden französischen Schriftsteller und
Intellektuellen und erhielt 1921 als vierter französischer Autor den
Literaturnobelpreis. Er wuchs als Jacques Anatole Thibault[1]
in Paris auf. Sein Vater, François Noël Thibault, betrieb die Buchhandlung
„Librairie de France“ am Quai Voltaire und war seinen Kunden mehr als „France“
und weniger als „Thibault“ bekannt (Lajta, 8).
Alter von 37 Jahren mit dem Roman Die
Schuld des Professors Bonnard (Le
crime de Sylvestre Bonnard) der Durchbruch als Schriftsteller. Politisch
stand France in dieser Zeit noch den Konservativen nahe. 1888 beginnt France,
damals noch verheiratet und Vater einer Tochter, ein Verhältnis mit Madame
Armand de Caillavet, die in Paris einen Salon führt. Das Verhältnis beeinflusst
das politische und literarische Werk von France und dauert bis zum Tod von
Madame Armand 1910. Während France sich 1893 scheiden lässt, duldet der
Ehemann seiner Geliebten ihre gemeinsamen Reisen und sogar, dass France
zeitweise in ihrem Haus arbeitet und wohnt. Die ehrgeizige Madame Armand spornt
France an; nicht ohne Erfolg: 1896 wird France Mitglied der Académie Française.
beeinflusst auch eine politische Affäre den Schriftsteller und Denker France entscheidend:
die Dreyfus-Affäre bedeutete einen der großen Justizskandale der Zeit und
spielte im politischen Leben Frankreichs über Jahre hin eine zentrale Rolle.
Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus war 1894 durch ein Fehlurteil wegen
Spionage und Landesverrats vom Pariser Militärgericht zu lebenslanger
Deportation auf die Teufelsinsel verurteilt worden. Die Auseinandersetzung über
das Urteil, gefällt nach einem von Antisemitismus geprägten Verfahren, führte
zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Im Lager der Dreyfus-Gegner sammelten
sich Monarchisten, überwiegend das katholische Lager und antisemitische Gruppierungen.
Diese Seite wurde von der Pariser Presse unterstützt. Erst im Laufe der
jahrelangen Auseinandersetzungen gewannen die Dreyfus-Anhänger, unter ihnen
Wissenschafter, Intellektuelle und Schriftsteller, an der Spitze Émile Zola,
an Bedeutung. Zola verfasste seine Streitschrift J’accuse und wurde daraufhin selbst verurteilt. Durch die
Verurteilung Zolas, des berühmtesten Romanschriftstellers Frankreichs zu dieser
Zeit, schlug die Dreyfus-Affäre weltweit Wellen. Ungeachtet der vorangehenden
persönlichen Antipathie stand Anatole France in diesen Jahren kämpferisch an
der Seite Zolas.
entstanden die Hauptwerke des Anatole France, die Romane Die Insel der Pinguine sowie Die
Götter dürsten. Politisch rückte France weiter nach links. Gegen Ende
seines Lebens stand er an der Seite der Kommunisten, nach deren Auszug aus der
sozialistischen Partei 1920. Bereits 1922 setzte er sich, seiner kritischen
Haltung entsprechend, von den Kommunisten wegen ihrer absoluten
Moskauhörigkeit wieder ab.
France zu seinen Lebzeiten lässt sich heute nur mehr erahnen. Die Auswertung
der Ausleihungen der Bibliotheken zeigt, dass France damals auch im deutschsprachigen
Raum zu den meistgelesen Autoren zählte (Lajta, 95). Zu seinem 80. Geburtstag,
1924, wurde Anatole France mit Ehrungen überhäuft. Kurz darauf verstarb er. Er
erhielt ein Staatsbegräbnis, an dem der Präsident der Republik und sämtliche Minister
sowie zahlreiche Arbeiterführer teilnahmen (Lajta, 25). Einen Eindruck von der
Einschätzung der Zeitgenossen vermittelt der Nachruf, der am 13. Oktober 1924
in der österreichischen AZ (Arbeiterzeitung) erschienen ist: „Eine Leuchte ist
erloschen, deren Schein über den Erdkreis strahlte, eine Stimme verstummte,
deren Klang die ganze zivilisierte Welt lauschte, ein Geist gebrochen, der ein
Menschenalter hindurch unter den klarsten Geistern Europas glänzte.“[2]
Vom „bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart“ spricht der Nachruf der Neuen
Freien Presse.[3]
geringe Rezeption. Es erscheinen kaum Bücher über ihn, ja es herrscht eine
gewisse „Ratlosigkeit in Bezug auf Anatole France“ (Lajta, 5).
Die Handlung
ist 1901 entstanden. Jérome Crainquebille ist ein einfacher, wenig gebildeter
Mann von etwas über sechzig Jahren. Sein ganzes Leben war er fahrender
Gemüsehändler. Um 5.00 Uhr früh ersteigert er Gemüse am Großmarkt, um dann den
ganzen Tag seinen Gemüsewagen durch die Rue
Montmartre zu ziehen.
beginnt, als er eines Tages auf eine Kundin wartet, die, um ihren Einkauf zu
bezahlen, Geld aus ihrem Laden holt. Durch das längere Anhalten mit seinem
Wagen verursacht Crainquebille in den Augen eines Polizisten („Der Polizist
mit der Nummer 64“) einen kleinen Stau in der Rue Montmartre. Auf die
Aufforderung des Polizisten, weiterzugehen, erwidert Crainquebille, er müsse
doch auf sein Geld warten. Der Polizist bildet sich fälschlich ein,
Crainquebille habe eine Beleidigung („Mort aux vaches! – „Tod den Bullen!“)
ausgesprochen und verhaftet den Gemüsehändler.
Nacht auf der Wache und wird dann ins Gerichtsgefängnis überstellt. Er erhält
einen Verteidiger beigegeben, die Gerichtsverhandlung findet bald statt. Obwohl
ein angesehener Arzt als Zeuge für Crainquebille aussagt und die Unschuld
Crainquebilles deutlich wird – der Polizist gibt in der Verhandlung völlig
unglaubhaft an, auch der Arzt habe ihn beleidigt – folgt der Richter allein der
Aussage des Polizeibeamten und verurteilt den Gemüsehändler zu zwei Wochen
Haft und einer Geldstrafe.
zeigt sich, dass die Mundpropaganda die Tatsache von Crainquebilles
Gefängnisaufenthalt in der Rue Montmartre verbreitet hat und seine Kunden
ausbleiben. Crainquebille beginnt zu trinken, lässt sich in Streitigkeiten mit
Kunden ein und verliert seine wirtschaftliche Existenz. Aus seinen ohnedies
elenden Verhältnissen, Crainquebille übernachtete bisher nur in einem Verschlag,
in dem er jetzt auch nicht mehr bleiben kann, noch weiter abgestürzt, verfällt
Crainquebille auf die Idee, nun tatsächlich einen Polizisten zu beleidigen, um
wenigstens in den Genuss der Grundversorgung eines Gefängnisses zu kommen. Aber
auch hier scheitert Crainquebille. Der Polizist, an den er diesmal gerät,
sieht von einer Anzeigeerstattung ab. Der Schluss der Erzählung ist trist, der
Weg in den Selbstmord angedeutet: „Crainquebille senkte den Kopf und schritt
mit hängenden Armen durch den Regen in die Dunkelheit“ (S. 79).[4]
erstmals in Fortsetzungen in Le Figaro,
erschienen, 1901 und 1902 dann in Form von Broschüren. 1903 gab France auch
eine Version als Theaterstück heraus; darin wurde der Schluss positiver
gestaltet. An die Stelle des angedeuteten Selbstmords tritt die Einladung eines
Waisenjungen, der Crainquebille ein Abendessen anbietet. Das Stück erlebte
bereits am 24.11.1903 im Theater in der Josefstadt seine österreichische
Uraufführung und wurde dort in der Folge weitere achtzehn Mal gezeigt (Lajta,
71).
Erzählung ein Stummfilm nach einem Drehbuch und unter der Regie von Jacques
Feyder; Maurice de Féraudy spielte die Hauptrolle. Das Ende des Films folgt der
Theaterfassung: ein kleiner Junge tritt auf, der von allen „die Maus“ genannt
wird. Ihm gelingt es, den alten Crainquebille vom Sprung in die Seine
abzuhalten und wieder fröhlich zu stimmen. Die Authentizität des Maurice de
Féraudy in der Rolle des Jérôme Crainquebille prägte eine ganze Generation
französischer Schauspieler. Der Film gilt als eines der wichtigsten Werke der
französischen Stummfilmära. Die Kopien verloren sich in alle Welt. Erst
kürzlich konnte aus mehreren Fragmenten eine restaurierte Fassung mit einer
Länge von 73 Minuten hergestellt werden. Sie wurde am 2. Juli 2005 im Pariser
Jardin du Luxembourg im Rahmen des Sommerkinos uraufgeführt, begleitet von einem
Orchester unter der Leitung von Antonio Coppola.[5]
Die Justizkritik im Kontext ihrer Zeit
zeigt eine Klassenjustiz, die völlig bedenkenlos im Sinne der Mächtigen agiert.
Die Erzählung erschien, als die Dreyfus-Affäre auf ihren Höhepunkt zusteuerte,
und ist zweifellos in diesem Kontext zu sehen. Die Kritik am Justizsystem hat
darüber hinaus aber allgemeine Gültigkeit, zeigt sie doch die Hilflosigkeit des
einfachen, mittellosen und ungebildeten Menschen im Gerichtssaal, vor dessen
Ritualen und der dort herrschenden abgehobenen Sprache. Interessant ist die
Parallelität der Kritik mit Karl Kraus’ ziemlich zeitgleich entstandenen
Prozessbeobachtungen in Österreich in Sittlichkeit
und Kriminalität.
äußerst kompakt und kurzweilig gestaltet. Die Sprache ist einfach, voll Ironie,
Witz, Spott und Sarkasmus. Während der Autor mit diesen Mitteln Missstände anprangert,
lässt er den einfachen, unter die Räder der Gesellschaft gekommenen Personen,
wie hier dem Gemüsehändler Crainquebille, Wärme und Empathie zukommen. Der
Autor ergreift die Partei der wirtschaftlich Schwachen, die unter den damaligen
Verhältnissen kaum Möglichkeiten hatten, sich aus ihrem Elend zu befreien.
Diese auch in den anderen Werken von France dominierende Grundhaltung machte
ihn nach dem Tod Zolas (1902) zur führenden Persönlichkeit unter jenen französischen
Schriftstellern, die für eine gerechtere Gesellschaftsordnung ein- und gegen
soziale Missstände auftraten.
zitierte Schlusssatz der Urfassung macht es deutlich – enthält wenig Hoffnung.
Ungeachtet der Anklänge an die Dreyfus-Affäre bringt es Thomas Baldischwieler[6] auf den Punkt, wenn er davon spricht,
dass die Geschichte um Crainquebille insofern deprimierender als die
Dreyfus-Affäre sei, da Crainquebille nicht einmal begreife, dass er das Opfer
eines Justizirrtums geworden ist.
Die Verhandlung als religiöses Schauspiel
mit dem Polizisten noch sicher, diesen nicht beleidigt zu haben. Beeindruckt
von der Zeremonie der Verhandlung und der Ausstattung des Gerichtssaals stellt
sich bei ihm jedoch ein Schuldbewusstsein ein, das der Autor mit der Erbsünde
vergleicht (S. 53). Die Verurteilung wird für Crainquebille zu einem „hehren
Mysterium“, zu einer „zugleich dunklen und einleuchtenden, herrlichen und schrecklichen
Offenbarung“ (S. 53).
unschuldigen Crainquebille allein schon mit ihrem Zeremoniell und ihren
Ritualen zu erschlagen:
geirrt hatten. Das Gericht hatte seine geheimen Schwächen unter der
Erhabenheit der Formen vor ihm verborgen. Er vermochte nicht zu glauben, dass
er Recht haben sollte gegenüber Männern in der Robe, deren Rechtsgründe er
nicht verstanden hatte: Unmöglich konnte er davon ausgehen, dass etwas an
dieser schönen Zeremonie nicht in Ordnung sein mochte. Denn da er weder in die
Messe ging noch im Élyséepalast verkehrte, hatte er im Leben noch nichts so
Schönes gesehen, wie diese Verhandlung vor der Strafkammer (S. 53).
Titel „Von Crainquebille’s Unterwerfung unter die Gesetze der Republik“
schließt an den ersten Abschnitt an, der nicht ohne Sarkasmus als „Von der
Erhabenheit der Gesetze“ bezeichnet ist. Hier am Beginn der Erzählung hebt der
Autor das Einschüchternde an der Erscheinung von Gerichtssaal und Richtern hervor:
die Verdienstorden, die der Richter in der Verhandlung trägt, die Büste der Republik
und das Kreuz an der Rückwand des Verhandlungssaales. Crainquebille empfindet
im Verhandlungssaal „den gehörigen Schrecken“ (S. 7), er ist,
überwältigt (…) bereit, die Entscheidung über seine Schuld ganz den Richtern
anheimzustellen. Vor seinem Gewissen empfand er sich nicht als Verbrecher; doch
er spürte, wie wenig das Gewissen eines Gemüsehändlers im Angesicht der Symbole
des Gesetzes und der Bevollmächtigten der rächenden Gesellschaft bedeutete (S.
11).
Mund (S. 27).
mit – für die damalige Zeit beachtlichen – Trickeffekten versinnbildlicht, indem
die Richter und der Polizeibeamte im Gerichtssaal zu Riesen wachsen…
Ähnlichkeiten zwischen Gerichtsverhandlungen und religiösen Zeremonien an.
Beides rituelle Abhandlungen in entsprechenden Baulichkeiten, wirken sie erschreckend
und Ehrfurcht einflößend. Betrachten wir heute einen der kürzlich
renovierten, historischen Verhandlungssäle des Obersten Gerichtshofs im
Justizpalast in Wien, so können wir Crainquebilles Gefühle gut nachempfinden.
Prunkvoll ausgestattete Räume, mit stark erhöhten Richterbänken, womöglich
zusätzlichen Schranken, die die Angeklagten oder Parteien des Verfahrens
vom Richtertisch noch weiter abtrennen, dunkles Holz, sowie staatliche oder
religiöse Symbole im Gerichtssaal sind durchaus in der Lage, eine faire Kommunikation
erst gar nicht aufkommen zu lassen. Man könnte durchaus sagen, dass ein
faires Verfahren im Sinne der Menschenrechtskonvention auch eine adäquate
Ausstattung des Verhandlungssaals verlangt.
Österreich durch eine nüchterne Gerichtsarchitektur zu einem gewissen Bruch
mit der Vergangenheit gekommen. Gemeinsam mit diversen Änderungen der
Prozessordnungen – so müssen erst seit rund zehn Jahren Angeklagte, Zeuginnen
und Zeugen bei ihren Einvernahmen in der Verhandlung nicht mehr stehen,
sondern verfügen über einen Sitz vor dem Richter bzw der Richterin; derzeit wird
die Streichung der Möglichkeit der Beeidigung aus dem Gesetz vorbereitet –,
führt dies zu einer neuen Kultur des Gerichtssaals, die modernen Vorstellungen
von Justiz und Streitbeilegung angemessener ist. Fragt man Parteien und Zeuginnen
sowie Zeugen, aber auch Geschworene und Schöffinnen und Schöffen nach ihren
Eindrücken von Gerichtsverhandlungen, so hört man freilich nach wie vor viel zu
oft, dass sie sich überfahren und in die Ecke gedrängt fühlten.
ganz ohne Insignien auskommen. Der Talar, den der Richter oder die Richterin in
der Verhandlung trägt, kann für alle Beteiligten positiv wirken. Für den
Angeklagten bzw. die Partei des Zivilverfahrens, weil er deutlich macht,
dass der Richter und die Richterin Träger der staatlichen Macht sind. Auch
wenn es in der Verhandlung zu einem ruhigen Austausch der Argumente zwischen
Gericht und Parteien kommt, so wird doch am Ende der Richter bzw die Richterin eine
Entscheidung treffen, die für alle verbindlich gilt. Diese Hierarchie des
Gerichtssaals bleibt durch den Talar für alle ständig präsent. Auch für die
Richterinnen und Richter: tragen sie den Talar, so verstecken sie sich zwar
nicht hinter dem Gesetz; es wird aber auch für sie selbst deutlich, dass sie
eine Rolle spielen, nämlich als Wahrer und Anwender der Gesetze. Entspricht
ein anzuwendendes Gesetz nicht der persönlichen Einstellung des Richters
oder der Richterin, was zwangsläufig immer wieder vorkommt, so wird die Erfüllung
der Aufgabe einfacher, wenn der Talar dem Richter bzw. der Richterin die
Rolle als Amtsträger ins Bewusstsein ruft. Im Übrigen unterliegt auch die
Haltung zu den Insignien der Macht der Mode. Es gibt Generationen von
Richterinnen und Richtern, die ziemlich geschlossen den Talar tragen, dann
wieder andere, bei denen sich der Talar wenig Beliebtheit erfreut. In den
österreichischen Gerichtssälen tragen die Richterinnen und Richter in Strafverhandlungen
in der Regel den Talar. Die Zivilrichterinnen und Zivilrichter, vornehmlich
der mittleren Generation, verhandeln auch gerne in ziviler Kleidung – und
nehmen damit in Kauf, das Gesetz zu verletzen, das das Anlegen des Amtskleids (schwarzer
Talar und eine Kappe, Barett genannt) vorschreibt und auch – freilich rein
männerbezogen – Details nicht vergisst: „Zum Amtskleid sind zu tragen: ein
Straßenanzug oder ein Anzug aus dunklem Stoff, schwarze Straßenschuhe, dunkle
Socken oder Strümpfe, eine Krawatte aus schwarzem Stoff und ein weißes Hemd.“
Crainquebilles ‚Unterwerfung unter die Gesetze’
zu unterwerfen, ist durchaus repräsentativ. Selbst im Alltag des
Strafprozesses zeigt sich, dass die Akzeptanz des Strafrechts in der
Bevölkerung hoch ist. Angeklagte verantworten sich in einem hohen Ausmaß
geständig, in jedem Fall aber werden verhängte Strafen zu einem ganz hohen
Prozentsatz akzeptiert. Rechtsmittel gegen Strafurteile sind die Ausnahme – wir
erleben sie vor allem in politisch brisanten oder sonst medienwirksamen
Prozessen, etwa Mordverfahren. Im Alltag dagegen ist es durchaus nicht ungewöhnlich,
dass Angeklagte, so wie Crainquebille, trotz ihrer Unschuld gleichsam mit
schlechtem Gewissen vor Gericht auftreten und sich oft schuldig fühlen, wo juristisch
von Schuld keine Rede sein kann. Menschen, die tatsächlich vergessen haben,
den einen oder anderen Artikel im Supermarkt zu bezahlen, bekennen sich dann
schuldig, obwohl ihnen jeder Vorsatz fehlt, der für eine gerichtliche
Verurteilung wegen Diebstahls notwendig wäre. Auch Beschuldigte, die ihre
Schulden bei Versandhäusern nicht bezahlen können und wegen Betrugs angeklagt
werden, verantworten sich oft geständig. Sie meinen damit, dass sie die
offenen Beträge der Bestellungen schulden, obwohl auch ihnen jeglicher
Betrugsvorsatz fehlt, der eine strafgerichtliche Verurteilung tragen könnte.
In solchen Fällen ist das richterliche Berufsethos gefragt, um die
Beschuldigten auf ihren Irrtum aufmerksam zu machen und nicht schnell mit einem
Schuldspruch auf Grund des irrigen Schuldbekenntnisses vorzugehen. Gefordert
ist natürlich auch die Verteidigung, die in manchen Fällen dazu neigt, ihrer
Mandantschaft vorschnell zu einem Geständnis zu raten. Nicht anders ergeht es
Crainquebille: „Schon sein Anwalt hatte ihn halbwegs davon überzeugt, dass er
nicht unschuldig war“ (S. 11).
Verhandlung von seinem Pflichtverteidiger durchaus nicht ohne Engagement
verteidigt. Der Verteidiger endet sein Plädoyer so:
wäre es noch sehr die Frage, ob dieses Wort aus seinem Munde als strafbar
anzusehen wäre. Crainquebille ist das uneheliche Kind einer in Lastern und
Trunk vegetierenden ambulanten Händlerin und damit der geborene Alkoholiker.
Sie sehen selber, welch ein Wrack sechzig Jahre Elend aus ihm gemacht haben.
Meine Herren, sie werden ihm Unzurechnungsfähigkeit zubilligen (S. 37).
demütigend, spricht er doch – bis dahin – keineswegs dem Alkohol zu; auf der
anderen Seite schöpft der Verteidiger, wie es seine Pflicht ist, damit alle
Mittel aus, um Crainquebille eine Verurteilung zu ersparen.
Justiz und Sprache
keiner Weise gewachsen. „Der Vorsitzende, Herr Bourriche, widmete der Befragung
von Crainquebille volle sechs Minuten“ (S. 27).
Bedeutung der Sache, die Beleidigung eines Amtsorgans, vor Augen, so erscheinen
die sechs Minuten für die Befragung gar nicht so kurz. Schwerer wiegt, dass es
Crainquebille nicht gelingt, sich vor Gericht verständlich zu machen und ihm
der vorsitzende Richter keinerlei Hilfestellung leistet. So kommt es, dass der
Richter die Verantwortung Crainquebilles in der Verhandlung als geständig
wertet, wo doch Crainquebille versuchte, das Gegenteil zu artikulieren.
Hauptpunkte jeder Justizkritik ist die für die juristischen Laien wenig
verständliche Fachsprache. Es ist eine der größten Herausforderungen für die
moderne Justizpolitik, hier Haltungsänderungen bei den Richterinnen und
Richtern herbeizuführen. Zweifellos, Fachausdrücke und Wortwiederholungen, die
der juristischen Präzision dienen, sind unumgänglich. Endlose, verschachtelte
Sätze und die Verwendung veralteter, außerhalb des Gerichts ausgestorbener
Begriffe sind aber verzichtbar und im Ergebnis schlicht und einfach
menschenfeindlich. Es macht eine Gerichtsentscheidung für die Betroffenen
unlesbar, wenn die Parteien des Prozesses darin nicht als „Herr Müller“ und
„Frau Müller“, sondern, um ein Beispiel zu nennen, durchgehend als „Antragsteller
und gefährdete Partei“ und „Antragsgegner und Gegner der gefährdeten Partei“
bezeichnet werden.
mitsamt dem ihr eigenen, vertrackten Satzbau entspricht ohnedies mehr einer
schlechten Tradition und dem Wunsch, den Bürgerinnen und Bürgern die Macht des
Gerichts vor Augen zu führen, als irgendwelchen sachlichen Notwendigkeiten. Das
mag bei anderen Berufen auch so sein, wirkt sich aber im Gerichtsalltag
besonders schlimm aus: Wie muss sich der Angeklagte fühlen, der eine Urteilsverkündung
nicht versteht oder die Partei eines Zivilverfahrens, die ohne Hilfe ihres
Anwalts bzw ihrer Anwältin einen ihr zugestellten, für sie ganz wesentlichen
Gerichtsbeschluss nicht deuten kann?
mehrere Facetten, von denen einige im Fall Crainquebille angesprochen werden:
Zugang zum Recht bedeutet nicht nur, dass auch die Mittellosen die Möglichkeit
haben, von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vor Gericht vertreten zu
werden. Es muss auch heißen, dass die weniger Gebildeten in einer ihnen
verständlichen Sprache vom Gericht belehrt und befragt werden. Geschieht das
nicht, so werden Ungleichheiten verfestigt, das Verfahren wird unfair.
Crainquebille als Opfer der freien Beweiswürdigung
entwickelten Rechtssysteme das Prinzip der freien richterlichen
Beweiswürdigung. Die Richterinnen und Richter sind also ganz frei darin, die
ihnen präsentierten Beweise zu würdigen. Es gibt keine Beweisregeln, etwa dass
Schriftstücke mehr Beweiskraft hätten als Zeugenaussagen. Auch kann das Gericht
eine Verurteilung auf einen einzigen Tatzeugen stützen trotz mehrerer Alibizeugen,
wenn es diese Alibizeugen für unglaubwürdig hält und dies auch begründen kann.[7]
Parteien und Zeuginnen und Zeugen bzw der sonstigen Beweismittel
(Schriftstücke, Sachverständigengutachten usw) ist wohl die schwierigste
Aufgabe der Richterin bzw des Richters. Bei der schriftlichen Urteilsausfertigung
gilt vielen die Beweiswürdigung als anspruchsvollster Teil, schwieriger als die
Feststellung des Sachverhalts und die rechtliche Würdigung der festgestellten
Tatsachen. Nicht selten finden wir daher in der Beweiswürdigung bloße
Leerformeln („war glaubwürdig“, „auf Grund seines glaubhaften Auftretens“,
usw). Es ist nun einmal ein schwieriges Unterfangen, zu beschreiben, auf Grund
welcher Eindrücke und Wahrnehmungen man einem Menschen mehr glaubt und dem
anderen weniger. Crainquebilles Richter machte es sich einfach: Aus dem Ablauf
der Gerichtsverhandlung wird deutlich, dass er nicht geneigt ist, die verschiedenen
Aussagen wirklich abzuwägen. Er glaubt dem Polizisten auf Grund von dessen
Amtsstellung.
zwei denkbare Begründungen für die Handlungsweise des Richters entwickelt. In
einem eigenen Abschnitt („Rechtfertigung für den Vorsitzenden Bourriche“)
lässt der Autor zwei Prozessbeobachter, einen Laien und einen Rechtsanwalt,
über das Vorgehen des Richters im Fall Crainquebille diskutieren. Der Laie, ein
Kupferstecher als Vertreter des einfachen Volkes, nimmt den Standpunkt ein,
dass der Richter unabhängig jeder Überlegung, wer die Wahrheit gesagt habe,
dem Polizisten als Amtsorgan zu folgen habe, und dass dies schon so seine Richtigkeit
habe. Der Beamte sei eine staatliche Autorität, die ganz abstrakt für eine
eigene Wahrheit stehe. Wir treffen wieder auf die Analogie zum Religiösen, wenn
der Kupferstecher meint, das Gericht stütze sich
so etwas wie ein auf den Zeugenstand gefallener Abglanz des Göttlichen. (…)
Die Gesellschaft beruht auf der Macht, und die Macht verdient Achtung als die
erhabene Grundlage jeder Gesellschaftsordnung. Die Justiz aber verwaltet die
Macht (S. 45-47)-
von Rechtsprechung – die Justiz als bloßer Büttel der Herrschenden, als
Vollzugsorgan der Regierenden. Der Richter dürfe nur folgendermaßen denken:
hieße die Gesellschaftsordnung ändern, die ich zu erhalten beauftragt bin.
Die Justiz ist dazu da, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu sanktionieren. Hat
man je erlebt, dass sie sich gegen Eroberer gewendet oder neuen Machthabern im
Wege gestanden hätte? Wenn eine ungesetzliche Macht entsteht, braucht sie nur
von der Justiz anerkannt zu werden, schon ist sie gesetzlich. Die Form ist alles.
Nur ein dünnes Blatt gestempelten Papiers trennt Verbrechen und Unschuld (S.
49).
Crainquebilles Verhandlung anwesender unbeteiligter Rechtsanwalt. Aber auch
seine Einschätzung ist für den Richter nicht vorteilhaft:
zu einer so hohen Metaphysik aufgeschwungen hat. Ich glaube, er hat die
Aussage des Polizeibeamten 64 ganz einfach deshalb als den Ausdruck der
Wahrheit betrachtet, weil er es nie anders erlebt hat. In der Nachahmung müssen
wir den Grund für die meisten Handlungen der Menschen erblicken. Wer sich an
das Althergebrachte hält, wird immer als ehrlicher Mann dastehen. Anständige
Leute nennen wir die, die sich so verhalten wie die anderen (S. 51).
Berufsstand, nicht nur für die Richterschaft. Dennoch finden wir gerade in jüngerer
Zeit auch Beispiele, in denen Richterinnen und Richter in ihren Urteilen
aufzeigen, dass bestimmte gesetzliche Regelungen nicht mehr zeitgemäß sind oder
gesellschaftlichen Grundwerten widersprechen. Die Gerichte haben unter anderem
die Möglichkeit, Gesetze dem Verfassungsgerichtshof zur Prüfung der
Verfassungskonformität vorzulegen. Fortschritte bei der Gleichstellung
gleichgeschlechtlicher Partner, Anstöße zur Abschaffung des Ehebruchs als
Straftatbestand oder zu einer gelasseneren Beurteilung des Cannabiskonsums
sind in Österreich immer wieder aus der Rechtsprechung gekommen.
Abschnitt der Erzählung, der die Handlungsweise des Gerichts diskutiert, wird
die Anknüpfung an die Dreyfus-Affäre deutlich:
menschlich und einfühlsam sei. Man übt sie nach festen Regeln aus und nicht mit
mitleidigem Schauer und erleuchteter Intelligenz. Vor allem verlangen sie nicht
von ihr, dass sie gerecht sei; das braucht sie nicht zu sein, weil sie die
Justiz ist, ja, ich sage ihnen, die Vorstellung von einer gerechten Justiz
konnte nur in den Köpfen von Anarchisten bestehen. (…) Der wahre Richter
wägt die Aussagen nach dem Gewicht der Waffen. Das haben wir im Fall
Crainquebille erlebt, aber auch in anderen, berühmteren Fällen (S. 51).
Justiz und Polizei
und Justiz. Die bösartige Unterstellung des Polizeibeamten wird vom Richter
leichtfertig, wohl wider besseres Wissen, zur Grundlage der Verurteilung von
Crainquebille gemacht. Auch der heutigen Justiz wird es immer wieder zum
Vorwurf gemacht, dass Amtspersonen, insbesondere Polizeiorganen, vor Gericht
mehr Glaubwürdigkeit zugestanden werde, als Bürgerinnen und Bürgern.
Tatsächlich verwenden Urteile in ihrer Beweiswürdigung immer wieder das
Argument, es sei nicht anzunehmen, dass ein Amtsorgan – gerade bei nicht so
schwerwiegenden Angelegenheiten – durch eine falsche Aussage seinen Amtseid
breche oder sein Amt missbrauche. Diese Denkfigur erscheint unbedenklich dort,
wo Polizistinnen und Polizisten Zeugen (einer strafbaren Handlung) werden.
Sobald Beamtinnen und Beamte aber direkt in den Fall verwickelt sind, ist
Sensibilität angebracht. Wenn es etwa um behauptete Polizeiübergriffe geht,
kann sich eine lebensnahe Würdigung der Beweise nicht einfach auf die
Amtsstellung der Beamtinnen und Beamten stützen; der Antrieb, einer eigenen
Verurteilung zu entgehen, ist durchaus menschlich und wird alle erdenkbaren
Verpflichtungen, die sich aus einer Amtsstellung ergeben, wohl aufheben. Das
Verhältnis von Justiz und Polizei sollte auch heute ein Thema sein: Dass in
Österreich Polizeiübergriffe allzuoft folgenlos bleiben, hat zuletzt ein
Sonderbericht des Menschenrechtsbeirats aufgezeigt.[8]
naturgemäß in jedem Strafverfahren eine gewichtige Rolle. In Österreich ist es
seit mehr als hundert Jahren Praxis, dass die Polizei die strafgerichtlichen
Ermittlungen weitgehend ohne Einwirkungen der Justiz führt und das fertige
Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht übermittelt. Die
Entscheidung, welche Personen als Zeuginnen und Zeugen einvernommen, in
welchem Stadium Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmen durchgeführt werden,
lag bisher weitgehend im Ermessen der Polizeibehörden. Mit dem ab 1. Jänner
2008 geltenden Strafprozessreformgesetz wird das strafrechtliche Vorverfahren
erstmals verrechtlicht. Die Staatsanwaltschaft hat nun den Auftrag, die
strafrechtlichen Ermittlungen von Beginn an zu steuern. Überdies stehen alle
Grundrechtseingriffe unter der Kontrolle des Gerichts.
Welche Wahrheit?
zuerst feststellen, was passiert ist. Diese Tatsachenfeststellung ist an sich
eine zweifelhafte Aufgabe; was sind schon Tatsachen, und gibt es nur eine
Wahrheit oder gibt es nicht viele Wahrheiten über ein und dieselbe
Angelegenheit? Der Kupferstecher, der Crainquebilles Verhandlung verfolgt hat,
verwendet auch diese Problematik zur Verteidigung des Richters:
nicht nach den unsicheren und trügerischen Anzeigen der Glaubhaftigkeit und des
menschlichen Wahrheitsbegriffs ordnet, sondern nach wesenhaften, unwandelbaren
und greifbaren Anzeichen. Er wägt sie nach dem Gewicht der Waffen. Was könnte
einfacher und zugleich weiser sein? Als unwiderleglich gilt ihm die Aussage
eines Polizeibeamten, den er ganz metaphysisch als den nummernhaften Ausdruck
für die Setzungen der idealen ordnenden Macht begreift. (…) In Wahrheit sieht
er gar nicht Bastien Matra vor sich, sondern den Polizeibeamten 64. (…) Wir
alle irren uns ständig. Gründe, uns zu irren, gibt es unzählige. Die Wahrnehmungen
unserer Sinne und die Urteile unseres Verstandes sind lauter Ursachen für
Einbildungen und Anlässe für Ungewissheiten (S. 43-45).
erkannt – der Schluss, es sei einfacher und weiser, ganz einfach Amtspersonen
zu glauben, freilich zynisch, und eine Folgerung, die den Rechtsstaat aus den
Angeln hebt. Die Lösung kann nur in einem möglichst gewissenhaften Vorgehen
der Gerichte bestehen, in einer sorgfältigen Sammlung und Sichtung der zur
Verfügung stehenden Beweismittel. Denn die Gerichte müssen entscheiden. Es
fehlt ihnen die Möglichkeit, allzu diffizile Akten ins Feuer zu werfen, wie es
eine von Anatole France in Crainquebille
referierte Anekdote über die Schwierigkeit der Wahrheitsfindung nahelegt:
wie gewöhnlich an dem zweiten Teil seiner Weltgeschichte
schrieb, entspann sich einmal unter seinem Fenster eine Schlägerei. Er sah eine
Weile zu, und als er sich wieder an seine Arbeit setzte, war er überzeugt, die
Streitenden genau beobachtet zu haben. Doch als er sich am Tag darauf über den
Vorfall mit einem Freund unterhielt, der dabei zugegen und sogar daran
beteiligt gewesen war, widersprach ihm der Freund in allen Punkten. Da bedachte
er, wie schwierig es sei, die Wahrheit über ferne Ereignisse herauszubringen,
wenn er sich schon bei dem getäuscht hatte, was sich unter seinen Augen zutrug,
und er warf das Manuskript seines Geschichtswerks ins Feuer (S. 41-43).
Crainquebilles Untergang nach der Haft
der Erzählung den Folgen, die sich für den Gemüsehändler aus seiner
Gerichtsverhandlung und der kurzen zweiwöchigen Haftstrafe ergeben. Die
entsprechenden Überschriften zu den Abschnitten 6 bis 8 lauten: „Crainquebille
und die öffentliche Meinung“, „Die Folgen“ sowie „Die Spätfolgen“.
gerichtlicher Sanktionen haben bis heute Gültigkeit, durch die modernen Medien
sind sie noch brisanter geworden. Allein schon die Tatsache, dass gegen
jemanden Anklage erhoben wird, oder er für einige Tage in Untersuchungshaft
gerät, kann für den Betroffenen existenzielle Folgen haben. Es kann damit der
Verlust des Arbeitsplatzes verbunden sein, jedenfalls aber eine Einbuße an
Ansehen. Ein späterer Freispruch gleicht in den meisten Fällen das entstandene
Unheil nicht mehr aus. Ein ausgewogenes Medienrecht und eine sensible Vorgangsweise
der Justiz schaffen etwas Abhilfe.
Crainquebille führt die kurze zweiwöchige Haftstrafe letztlich zur
Existenzvernichtung. Die zu Unrecht erfolgte Verurteilung beschädigt das
Vertrauen seiner Kunden, Crainquebille ist wirtschaftlich vernichtet, er sinkt
ab in Alkohol und noch tieferes Elend, als er es ohnedies sein Leben lang
erfahren hat. Wenn wir von Justizirrtümern wie jenem im Fall Crainquebille
einmal absehen, so ist doch die Verhängung einer angemessenen Sanktion für
ein strafbares Verhalten eine wesentliche Frage jedes Rechtssystems. Die
vordringlichen Aufgaben des Strafrechts sind nach heute herrschendem Verständnis
die Resozialisierung des Täters, die Schadensgutmachung und der angemessene
Umgang mit dem Opfer und nicht, wie früher, der Rachegedanke oder gar die
wirtschaftliche oder sonstige Vernichtung des Täters. Kurze Freiheitsstrafen,
wie sie über Crainquebille verhängt wurden, sind schon lange als besonders ungünstige
Strafform erkannt worden. Sie reißen, und das zeigt Crainquebille sehr gut, den Betroffenen aus seinem
Arbeitsprozess, mit allen schwerwiegenden Folgen, ohne irgendetwas zum
Positiven hin verändern zu können. Bereits 1975 war es bei der großen
Strafrechtsreform in Österreich eines der vordringlichen Ziele, die kurzen
Gefängnisstrafen durch andere Sanktionsformen wie Geldstrafen zurückzudrängen.
Das ist damals gelungen, in den folgenden Jahrzehnten bis heute ist der Anteil
der kurzen Gefängnisstrafen aber wiederum gleich geblieben, trotz aller Versuche,
diese Sanktionsform weiter zurückzudrängen. Noch immer sind zwei Drittel
aller verhängten Gefängnisstrafen solche mit einer Dauer von unter sechs Monaten.
Eine solche Zeit ist zu kurz, um während der Haft auf den Täter durch Therapien
oder auf andere Weise resozialisierend einzuwirken, Arbeitsumgebung und private
Beziehungen des Verurteilten werden aber nachhaltig und langfristig gestört.
Es ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber nach Einführung der so genannten
Diversion (Tatausgleich usw) vor einigen Jahren auch in Zukunft Schritte
unternehmen wird, um kurze Gefängnisstrafen zurückzudrängen, und andere,
konstruktivere Sanktionsformen zu fördern.
Traurige Staatsmacht
Situation Crainquebilles als Justizopfer. Auch die Staatsmacht als Täterin
steht traurig vor der Leserschaft, und France lässt auch ihr etwas Mitgefühl zuteil
werden.
Crainquebille, dem Elend zu entkommen, indem er einen Polizisten beleidigt,
um wieder ins Gefängnis zu gelangen. Er spricht nun einen Polizisten mit genau
jenem Schimpfwort an, das ihm in der Verhandlung unterstellt wurde. Obwohl er
das Schimpfwort mehrfach ruft, scheitert er wieder am Staat. Der Polizist, an
den er diesmal gerät, reagiert nicht. Er steht unter einer Laterne, seine
Erscheinung wird wie folgt beschrieben:
Spiegelbild seiner Stiefel auf dem nassen Bürgersteig, der wie ein See aussah,
verlängerte ihn nach unten und ließ ihn von Ferne wie ein amphibisches Ungeheuer
erscheinen, das halb aus dem Wasser ragte. Aus der Nähe hatte er mit seinem
Kapuzenmantel und seiner Waffe zugleich etwas Mönchisches und etwas
Soldatisches. Seine derben Gesichtszüge, die durch den Schatten der Kapuze
noch vergröbert wurden, nahmen sich friedlich und traurig aus (S. 75).
während der Dreyfus-Affäre, wie er es erlebt hat: Kraftlos, unbarmherzig,
gleichzeitig traurig und schicksalhaft verwoben mit religiösen und soldatischen
Kräften.
seiner Zeit als auch von der Nachwelt sehr oft als „mitfühlender Humanist“
beschrieben und als solcher geachtet. Dieser Einschätzung wird er mit der Erzählung
von Crainquebille gerecht. Mit viel Einfühlungsvermögen zeichnet er das
Schicksal des Gemüsehändlers, der zum Justizopfer wird: eine Erzählung und
ein Autor, die eine Wiederentdeckung wert sind.
Literatur
Juges intègres. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas
Baldischwieler. Stuttgart: Philipp Reclam jun.
Hans Carl.
Verlag.
Crainquebille. München: Dtv zweisprachig.
und Kriminalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
bis zu seinem Tod 1924. Universität Wien: Diplomarbeit.
(Hg). 2007. Die Polizei als Täter? Eine
Analyse des Umgangs staatlicher Institutionen mit Misshandlungsvorwürfen.
Schriftenreihe Menschenrechtsbeirat – Band 3. Wien: Neuer
Wissenschaftlicher Verlag.
wurde Anatole François Thibault als korrekter
bürgerlicher Name des Schriftstellers gehandelt (vgl Lajta, 7).
14.10.1924, zitiert nach Lajta, 3, FN 3.
Zitate folgen der Ausgabe: Anatole France. 1977. Der Fall Crainquebille. München: Deutscher
Taschenbuchverlag.
diese Aufführung in Paris sehen. In Österreich verfügt die Bibliothek des Österreichischen
Filmmuseums über eine Kopie des Films, die man vor Ort ansehen kann – ich danke
Silvia Thaller an dieser Stelle für das Aufspüren des Films in Wien.
österreichischen Bundeskanzlers Sinowatz, der 1989 – als Folge der
Waldheim-Affäre – in einem Strafverfahren zu einer Geldstrafe verurteilt
wurde; dies auf Grund der Aussage einer einzigen Zeugin, die im Widerspruch zu
den Angaben vieler anderer Zeugen und der Verantwortung von Sinowatz stand (vgl
http://de.wikipedia.org/wiki/Fred_Sinowatz,
Stand: 24.6.2007).
Bundesministerium für Inneres (Hg). 2007. Die
Polizei als Täter? Wien: Neuer Wissenschaftlicher Verlag.
Wie Fabio Fazio Sanremo moderiert
Fabio Fazio und Luciana Littizzetto 2014 in Sanremo; Foto: Ansa |
Die Suche nach der Lucona – Personalauswahl und Ausbildung in der Justiz
Text erschienen in der Fachzeitschrift juridikum4/2013
Thema:
Jurist_innen
Die
Suche nach der Lucona – Personalauswahl und Ausbildung in der Justiz
Oliver Scheiber
„Die großen Zweifler an der Wissenschaft und dem Werte des Rechts, ein
Tolstoi, ein Daumier, ein Anatole France, sind für den werdenden Juristen
unschätzbare Mahner zur Selbstbesinnung. Denn ein guter Jurist kann nur der
werden, der mit schlechtem Gewissen Jurist ist.“
Gustav Radbruch[1]
1.
Einleitung
Wien, im Jahr 1990: Einer der
spektakulärsten Mordprozesse der österreichischen Geschichte beginnt. Die
Staatsanwaltschaft Wien wirft dem Demel-Chef und Szeneliebling Udo Proksch vor,
1977 den unter der Flagge Panamas fahrenden Frachter Lucona gechartert, offiziell mit teuren technischen Anlagen,
tatsächlich aber mit wertlosem Schrott auf die lange Seereise von Italien nach
Hongkong geschickt und zum Zwecke eines Versicherungsbetrugs unweit der
Malediven während der Fahrt gesprengt zu haben. Sechs Menschen verloren durch
die Explosion ihr Leben. Die Mordanklage stützt sich auf Indizien, denn das
gesunkene Wrack wurde nicht gefunden.
Das Schiff war vor Beginn der
Hauptverhandlung aber auch nie gesucht worden. Der Vorsitzende Richter des
Proksch-Prozesses, Hans-Christian Leiningen-Westerburg, beschließt, nach den ersten
Verhandlungswochen, die Lucona zu
suchen. Ein Knalleffekt, denn große Teile der Politik stehen noch immer hinter
Proksch. Gemeinsam mit vier Sachverständigen reist Leiningen im Januar 1991 auf
die Malediven und beauftragt eine amerikanische Bergungsfirma mit der Suche
nach der Lucona. Am letzten Tag der dreiwöchigen Suche wird das Wrack gefunden,
ziemlich genau an der von den überlebenden Zeugen angegebenen Position. Die
Lucona liegt 4197 Meter tief unter Wasser. Die nähere Untersuchung ergibt: Sie
wurde von innen gesprengt. Richter Leiningen reist zurück nach Wien und setzt
die Hauptverhandlung fort. Am Ende des Verfahrens steht für Proksch die
Verurteilung zu lebenslanger Haft. Die Minister Gratz und Blecha, die bis
zuletzt ihre schützende Hand über Proksch gehalten haben, stürzen.
Modica, Sizilien, im Jahr 2012:
An der Südküste Italiens werden nahezu täglich Boote mit Flüchtlingen aus
Afrika an Land gespült. Die FamilienrichterInnen des nahegelegenen Gerichts in
Modica bestellen für jeden ankommenden jugendlichen Flüchtling, binnen Stunden
einen Vormund, zumeist aus der AnwältInnenschaft. Sie halten in den Tagen
darauf Kontakt mit den AnwältInnen, überzeugen sich, dass die Jugendlichen
anständig untergebracht und notwendige Asyl- oder Aufenthaltsverfahren
eingeleitet werden. Ähnlich verstehen die JugendstrafrichterInnen im nahen
Catania ihren Beruf: Sie begleiten jugendliche StraftäterInnen, die sie
verurteilen, bis zu ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Sie besuchen
die Jugendlichen im Gefängnis und besprechen in den Wochen vor der Entlassung
mit ihnen, wie es draußen weitergehen soll und welche Unterstützungsangebote
existieren.
Die Empathiefähigkeit der
sizilianischen JugendrichterInnen, die Kreativität, Courage und gelebte
Unabhängigkeit eines Hans-Christian Leiningen-Westerburg verleihen einem
Rechtsprechungssystem ein starkes Rückgrat. Sie sorgen für eine sensible
Rechtsanwendung ohne Unterschied der Person. Hätte Leiningen in Wien nach
Schema F verhandelt, ohne das Schiff suchen zu lassen, das Verfahren hätte wohl
mit einem Freispruch geendet. Aber: Empathiefähigkeit, Kreativität, Courage –
sind das tatsächlich Fähigkeiten, die die Justiz bei der Personalauswahl
positiv würdigt?
spektakulärsten Mordprozesse der österreichischen Geschichte beginnt. Die
Staatsanwaltschaft Wien wirft dem Demel-Chef und Szeneliebling Udo Proksch vor,
1977 den unter der Flagge Panamas fahrenden Frachter Lucona gechartert, offiziell mit teuren technischen Anlagen,
tatsächlich aber mit wertlosem Schrott auf die lange Seereise von Italien nach
Hongkong geschickt und zum Zwecke eines Versicherungsbetrugs unweit der
Malediven während der Fahrt gesprengt zu haben. Sechs Menschen verloren durch
die Explosion ihr Leben. Die Mordanklage stützt sich auf Indizien, denn das
gesunkene Wrack wurde nicht gefunden.
Hauptverhandlung aber auch nie gesucht worden. Der Vorsitzende Richter des
Proksch-Prozesses, Hans-Christian Leiningen-Westerburg, beschließt, nach den ersten
Verhandlungswochen, die Lucona zu
suchen. Ein Knalleffekt, denn große Teile der Politik stehen noch immer hinter
Proksch. Gemeinsam mit vier Sachverständigen reist Leiningen im Januar 1991 auf
die Malediven und beauftragt eine amerikanische Bergungsfirma mit der Suche
nach der Lucona. Am letzten Tag der dreiwöchigen Suche wird das Wrack gefunden,
ziemlich genau an der von den überlebenden Zeugen angegebenen Position. Die
Lucona liegt 4197 Meter tief unter Wasser. Die nähere Untersuchung ergibt: Sie
wurde von innen gesprengt. Richter Leiningen reist zurück nach Wien und setzt
die Hauptverhandlung fort. Am Ende des Verfahrens steht für Proksch die
Verurteilung zu lebenslanger Haft. Die Minister Gratz und Blecha, die bis
zuletzt ihre schützende Hand über Proksch gehalten haben, stürzen.
An der Südküste Italiens werden nahezu täglich Boote mit Flüchtlingen aus
Afrika an Land gespült. Die FamilienrichterInnen des nahegelegenen Gerichts in
Modica bestellen für jeden ankommenden jugendlichen Flüchtling, binnen Stunden
einen Vormund, zumeist aus der AnwältInnenschaft. Sie halten in den Tagen
darauf Kontakt mit den AnwältInnen, überzeugen sich, dass die Jugendlichen
anständig untergebracht und notwendige Asyl- oder Aufenthaltsverfahren
eingeleitet werden. Ähnlich verstehen die JugendstrafrichterInnen im nahen
Catania ihren Beruf: Sie begleiten jugendliche StraftäterInnen, die sie
verurteilen, bis zu ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Sie besuchen
die Jugendlichen im Gefängnis und besprechen in den Wochen vor der Entlassung
mit ihnen, wie es draußen weitergehen soll und welche Unterstützungsangebote
existieren.
sizilianischen JugendrichterInnen, die Kreativität, Courage und gelebte
Unabhängigkeit eines Hans-Christian Leiningen-Westerburg verleihen einem
Rechtsprechungssystem ein starkes Rückgrat. Sie sorgen für eine sensible
Rechtsanwendung ohne Unterschied der Person. Hätte Leiningen in Wien nach
Schema F verhandelt, ohne das Schiff suchen zu lassen, das Verfahren hätte wohl
mit einem Freispruch geendet. Aber: Empathiefähigkeit, Kreativität, Courage –
sind das tatsächlich Fähigkeiten, die die Justiz bei der Personalauswahl
positiv würdigt?
letzte Studie zu Herkunft und Sozialisation der österreichischen RichterInnen
liegt mehr als zehn Jahre zurück.[2]
Sie ergab ein sehr uniformes Bild der RichterInnenschaft, rund 50 % der RichterInnen stammten im Jahr 1999 aus Beamtenfamilien. Auch heute noch findet
sich ein unverhältnismäßig hoher Anteil von RichterInnen, die zumindest einen
Elternteil aus demselben Berufsstand haben. Die RichterInnenschaft rekrutiert sich in Österreich im Wesentlichen
aus der gehobenen Mittelschicht; die Lebensläufe sind meist ähnlich:
Mittelschule, Studium und daran
anschließend der Eintritt in den Justizdienst. Das Auswahlverfahren für die künftigen RichterInnen der ordentlichen
Gerichtsbarkeit und für StaatsanwältInnen sowie deren Grundausbildung[3]
erledigen in Österreich die vier
Oberlandesgerichte in Wien, Linz, Graz und Innsbruck. Im Auswahlverfahren fehlen Transparenz und nachvollziehbare Regeln; so
existiert auch kein in andereren Bereichen des öffentlichen
Diensts oder in großen
privaten Unternehmen selbstverständliches
Diversity-Konzept.[4] Vielfach sind die Landesgerichte für eine
Vorauswahl im Verfahren zur Findung des richterlichen Nachwuchses zuständig;
mangels gemeinsamer Kriterien gehen sie dabei unterschiedlich vor. Das Gesetz bestimmt, dass die RichteramtsanwärterInnen
jeweils für einige Monate verschiedenen Justizdienststellen, aber etwa auch
Opfereinrichtungen oder privaten Unternehmen zugeteilt werden. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt also beim training on the job. Bezüglich der ebenfalls vorgeschriebenen
Übungskurse bleibt das Gesetz vage. Die Modelle der vier Oberlandesgerichte
sind sich darin ähnlich, dass vor allem das bereits an den juridischen
Fakultäten Gelehrte vertieft wird. Der klare Schwerpunkt der Übungskurse liegt
bei materiellem und formellem Recht.
Überwiegend wird in kurzen Lerneinheiten gearbeitet (Blöcke von maximal 90 Minuten). Es dominiert
immer noch der Frontalvortrag gegenüber
dialogischem Lernen und einem
Diskurs. Der Schärfung der im Gesetz erwähnten
sozialen Fähigkeiten wird wenig Augenmerk geschenkt. Auch vergessen Gesetz und
Praxis, dass RichterInnen und StaatsanwältInnen je nach Arbeitsbereich auf Grundkenntnisse
benachbarter Disziplinen angewiesen sind. StrafrichterInnen
wie StaatsanwältInnen kommen schlecht ohne Wissen über
das
Wesen von Traumatisierungen, psychischen
Erkrankungen und Sucht aus. Für FamilienrichterInnen
ist die Kenntnis der
Grundbegriffe der Kinderpsychologie hilfreich.
gekennzeichnet, dass das traditionelle Lehrsystem den heutigen Bedürfnissen nur unzureichend angepasst wurde, interdisziplinäre
Arbeit zu kurz kommt und ein
didaktisches Konzept nicht vorhanden ist.
Für die Lehrenden sind keine Mindeststandards definiert, es fehlt an einem
Qualitätssicherungsmodell für die Ausbildung (für die Fortbildung gilt Ähnliches). Dabei sind die
Anforderungen an die Ausbildung höher denn je; denn die Rahmenbedingungen für richterliches Handeln haben sich radikal
verändert.
Herausforderungen
in einem österreichischen Gerichtsverfahren während ihrer Einvernahme stehen,
mitunter stundenlang, ohne adäquate Möglichkeit, mitgebrachte Unterlagen vor
sich abzulegen. Heute sitzen alle Befragten während ihrer Einvernahme.
Der RichterInnentisch ist nicht mehr oder nur geringfügig erhöht. Helles hat
dunkles Holz in den Verhandlungssälen abgelöst. All diese Veränderungen
symbolisieren, was (noch) nicht ausgesprochen wird: ein Gebot zur Kommunikation
auf Augenhöhe zwischen Gericht, AnwältInnen und BürgerInnen.
Tatausgleich, Kronzeugenmodelle und Gerichtshilfe Einzug gehalten, die vor
allem die RichterInnen vor
neue Herausforderungen stellen. Sehr viel mehr als früher geht es heute in
jedem einzelnen Gerichtsverfahren darum, den gestörten Rechtsfrieden dauerhaft
wiederherzustellen, Probleme bei der Wurzel zu packen und schwache
Personengruppen, etwa Kinder im Fall von Gewalt in der Familie, geeignet zu
schützen. Die Palette der Maßnahmen, die Gerichte heute anwenden, ist enorm breit geworden. Der Moderation und Leitung eines
gerichtlichen Verfahrens kommt gestiegene, ja zentrale Bedeutung dafür zu, ob
die gerichtliche Intervention von den Verfahrensbeteiligten als positiv oder
negativ gewertet wird. Es
geht also darum, dass RichterInnen
und StaatsanwältInnen menschengerecht agieren; eine ihrer
zentralen Fähigkeiten muss jene zum Zuhören sein. Die traditionsreiche französische RichterInnenakademie
Ecole Nationale
de la Magistrature (ENM)[5] etwa bekennt sich zu einem neuen Humanismus, dem die moderne
Justiz verpflichtet sei. Justizakademien
jüngerer Demokratien wie etwa jene Rumäniens folgen einem
ähnlichen Ansatz.[6]
der RichterInnen gegenüber den juristisch-technischen
Fähigkeiten an Bedeutung gewonnen. Ein Treffen von
Fortbildungsverantwortlichen der Justiz auf EU-Ebene[7]
hat vor kurzem gezeigt, dass quer durch Europa die Notwendigkeit zu Umbrüchen
in der RichterInnenausbildung gesehen wird: Es besteht große Übereinstimmung
dahingehend, dass in der Grundausbildung den nicht-juristischen Inhalten
zumindest gleich viel Bedeutung und Raum zuzumessen ist wie der Lehre von
materiellem Recht und Verfahrensregeln. Im Übrigen wird allgemein das
Erfordernis einer mehrjährigen Berufspraxis außerhalb der Justiz als
zukunftsweisend empfunden.
Qualitäts(un)sicherheit
von RichterInnen,
Streitigkeiten zu regeln und über sie zu entscheiden, sowie den
Rechtsfrieden zu bewahren, sind für jede Gesellschaft zentral. Die Entwicklung der
Rechtsprechung in Arbeits- und Sozialrechtssachen, in Asylsachen, oder in mietrechtlichen Angelegenheiten, über Fragen der Bewilligung von Bewährungshilfe oder Therapien für StraftäterInnen oder zum Umgang mit
Opfern von Straftaten bestimmen die Gesellschaft
wesentlich mit. Ein richterliches Rollenbild, das diese Aufgaben im Auge hat,
fehlt in Österreich – so wie in den meisten europäischen Staaten. Das überrascht:
Große
Betriebe, ob öffentlich oder privat, formulieren in der Regel eine
Zielsetzung und gemeinsame Idee; mit positiver Wirkung auf
die MitarbeiterInnenmotivation
und die Flexibilität des Systems. Die Justiz liest ihre
Aufgabe aus Verfassung und gesellschaftlicher Grundordnung ab, verzichtet aber auf die Formulierung eines konkreten,
detaillierten (Unternehmens)ziels. Auch
verraten weder Gesetz noch Verordnungen,
welches Bild der Gesetzgeber von RichterInnen und StaatsanwältInnen vor Augen hat.[8] Die fehlende Formulierung
von Unternehmensziel und Rollenbild
erschwert zum einen eine transparente Personalauswahl, und liefert zum anderen die Erklärung, warum jedes Aus- und Fortbildungssystem
vage bleiben muss.[9] Einen anderen Weg haben Frankreich
und das in der RichterInnenausbildung fortschrittliche Rumänien gewählt. Die
ENM hat dreizehn Fähigkeiten definiert, die RichterInnen und StaatsanwältInnen benötigen und
die in der Ausbildung geschärft werden sollen. Ein Schwerpunkt liegt auf
sozialen und kommunikativen Fähigkeiten.[10]
Steuerung
internationalen Vergleich hoch entwickelt.[11]
Wo Defizite bestehen, gehen diese meistens auf einen Mangel an zentraler
Steuerung zurück. Auf den Personalsektor trifft dies in besonderem Maße zu. Ein paar Jahre lang fehlt es an StaatsanwältInnen, dann
wieder an FamilienrichterInnen.
Für die Zukunft gilt es, durch ein
Mehr an Analyse und Steuerung den mutmaßlichen Personalbedarf in den einzelnen
Sparten besser zu planen
und bei der Auswahl unter den BewerberInnen
mehr auf die spezifische Qualifikation zu achten. So lässt die Zusatzqualifikation
[F1] Wirtschaftsstudium
erwarten, dass sich die unter diesem Aspekt ausgewählten Personen für eine
Tätigkeit im Unternehmens- oder Wirtschaftsstrafrecht interessieren,
während für den Familienrechtsbereich eher Zusatzqualifikationen aus dem
Bereich Mediation, Psychologie oder Sozialarbeit relevant sind.
Qualitätsschübe vor allem durch die Gründung einer Justizakademie zu erzielen. Österreich
verfügt – ähnlich wie Deutschland und Finnland –
als eines der letzten Länder in Europa über keine RichterInnenakademie, in der eine zentrale,
moderne, postuniversitäre Spezialausbildung geboten werden kann. So wie in
Europa im Polizeibereich schon lange zentrale Sicherheitsakademien Standard
sind, so hat sich auch in den Justizsystemen eine Struktur mit zentralen
Justizschulen durchgesetzt;[12] die französische und rumänische Akademie mit ihrer Leitfunktion wurden
bereits erwähnt.[13]
Eine zentrale Justizakademie böte
auch in Österreich die Möglichkeit eines transparenten, gleichen
Aufnahmeverfahrens für das gesamte Bundesgebiet und die Chance, die
Grundausbildung nach modernsten didaktischen Konzepten als
Postgraduate-Ausbildung auszugestalten. Interdisziplinäre Konzepte ließen sich so ebenfalls besser umsetzen. Schließlich würden sich über eine neue Akademie die Berufe der
VerwaltungsrichterInnen und JustizrichterInnen zusammenführen lassen. Derzeit
können die RichterInnen der ordentlichen Gerichtsbarkeit in die
Verwaltungsgerichtsbarkeit wechseln, eine Bewerbung in die Gegenrichtung ist
aber nicht möglich. Die Durchlässigkeit der Berufsbilder wird am sinnvollsten
über die Harmonisierung der Aus- und Fortbildungssysteme gelingen können.
völlig neu gestaltete RichterInnenausbildung
erscheint umso nötiger, als die rechtswissenschaftlichen Studien in Österreich
weitgehend einen rein rechtsdogmatisch-normativen Ansatz verfolgen. Max Haller[14]
ist darin zuzustimmen, dass die
Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einerseits, Recht und Verfassung
andererseits stärker ins Bewusstsein aller Rechtsberufe treten müsste. Eine Akademie könnte diese Aufgabe übernehmen und, angelehnt an das
Vorbild der französischen ENM, ein Berufsprofil für RichterInnen und StaatsanwältInnen entwickeln und die Personalauswahl
und Ausbildung daran ausrichten. Der europäischen Entwicklung Rechnung tragend
müsste eine Akademie einen Schwerpunkt auf soziale und kommunikative
Fähigkeiten legen. Tatsächlich sind Kommunikation und Sprache
Schlüsselbegriffe für den Zugang zum Recht und damit für eine moderne Justiz. Dies
findet in der Aus- und Fortbildung der
Justiz bereits jetzt da und dort Niederschlag.
Der nötige Paradigmenwechsel, der auch die Universitäten einschließt, steht
aber noch aus. JuristInnen
werden nach wie vor zur Unverständlichkeit erzogen. Auch gut gebildete Menschen
können vielfach weder den Verlauf einer Gerichtsverhandlung
richtig deuten noch den Sinn gerichtlicher Entscheidungen erfassen; oft ist für
Laien nicht erkennbar, wer denn nun Recht bekommen hat. Dabei ließen sich schon durch einfache Umstellungen, Verbesserungen erzielen: Die Verwendung des Familiennamens macht
einen Text etwa leichter
verständlich als die Verwendung von
abstrakten Bezeichnungen wie
„Kläger“ oder gar
„Gegner der gefährdeten Partei“. Urteile wie
auch Internetseiten und Presseaussendungen von Höchstgerichten bieten positive
Beispiele einer neuen Sprache. Die Texte des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte etwa zeichnen sich zumeist durch eine hohe Verständlichkeit aus.
einer laufenden Evaluierung im Justizalltag: Während
die Überprüfung der Qualität der Entscheidungen durch Rechtsmittel erfolgt und die Verfahrensdauer mittels EDV penibel beobachtet wird,
unterliegen interaktive Kompetenzen der RichterInnen
und StaatsanwältInnen, Höflichkeit und Pünktlichkeit
keiner systematischen Überprüfung. Die Zukunft gehört daher einem breit
angelegten Qualitätssicherungssystem, für das sich Vorbilder vor allem im
Gesundheits- und Universitätswesen finden und das auch
mit KundInnenbefragungen arbeitet.
Europa. Die nationalen europäischen Justizsysteme haben lange abgeschottet
voneinander vor sich hingearbeitet; Gerichtsentscheidungen anderer Staaten
wurden skeptisch beäugt. In den letzten Jahren hat die Annäherung und
Harmonisierung nicht nur das materielle Recht, sondern auch die richterliche
Aus- und Fortbildung voll erfasst. Ein- und zweiwöchige Austauschaufenthalte
von RichterInnen und StaatsanwältInnen innerhalb Europas sind zu einer
Erfolgsgeschichte geworden wie einst die ersten Austauschprogramme für
Studierende.[15]
Der Europarat wiederum bemüht sich um die Harmonisierung der Grundrechtsschulung
der europäischen RichterInnen, StaatsanwältInnen und RechtsanwältInnen.[16]
Innerhalb der EU gibt es erste Tendenzen, gesamteuropäische Konzepte für die
richterliche Grundausbildung zu entwickeln. Diskutiert wird die Ausarbeitung
von Standards für die nicht-juristischen Teile der richterlichen
Grundausbildung: etwa zur Vermittlung von Kenntnissen für das Management von Großverfahren, für
den Umgang mit Medien, von Grundkenntnissen anderer bei Gericht häufig
benötigter Disziplinen; zudem geht es um berufsethische Fragen,
Sprachkenntnisse und um eine Vertiefung des Europarechts.[17]
Zukunft aussehen könnte, zeigen zwei kürzlich eingerichtete Ausbildungsmodule
für RichteramtsanwärterInnen. Beide Module werden bundesweit ausgeschrieben und
bilden schon dahingehend Ausnahmefälle in einem sonst regionalen
Ausbildungsangebot. Ein insgesamt sechstägiges Seminar zur Justizgeschichte
beleuchtet die Entwicklung des Rechtssystems der letzten 150 Jahre. Ein Schwerpunkt
liegt dabei auf der Zeit des Nationalsozialismus und seiner Aufarbeitung. Die
Kontinuität von RichterInnenkarrieren wird genauso diskutiert, wie die
verschiedenen Modelle von Transitional Justice. In das Seminar integriert sind
der Besuch von Gedenkstätten (der ehemaligen Euthanasieklinik Am Spiegelgrund in Wien bzw des
Vernichtungslagers Mauthausen) sowie ZeitzeugInnengespräche. Im jüngsten Modul
des Seminars wurden die Lebensgeschichten des NS-Verbrechers Heinrich Gross und
seines Opfers Friedrich Zawrel anhand des Besuchs der Gedenkstätte Am Spiegelgrund, durch ein ZeitzeugInnengespräch
mit Friedrich Zawrel sowie einen Besuch des Theaterstücks „F. Zawrel –
Erbbiologisch und sozial minderwertig“ bearbeitet. Der Schauspieler Nikolaus
Habjan, der 2013 für die Produktion mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet worden
war, war auch im Seminar anwesend. Das Seminar wurde interdisziplinär
(juristisch-geschichtswissenschaftlich) konzipiert und vom Justizministerium
organisiert. Die Evaluierung ergab eine sehr hohe Akzeptanz bei den
RichteramtsanwärterInnen. Es gelingt damit, einen Raum für eine offene,
kritische Auseinandersetzung mit dem künftigen Beruf zu schaffen. Ähnliches
gilt für ein Grundrechtecurriculum, das die Fachgruppe Grundrechte der
Österreichischen RichterInnenvereinigung organisiert und das ebenfalls rund
sechs Tage dauert. Das Seminar ist zweigeteilt. Ein Block findet in Österreich
statt, ein zweiter Teil in Straßburg, wo Verhandlungen des EGMR besucht werden
und Diskussionen mit RichterInnen des EGMR stattfinden.
auf Augenhöhe angelegtes RichterInnenbild von der jungen Generation als
selbstverständlich angenommen wird. Auf breite Basis gestellt haben diese
Initiativen das Potenzial, eine neue Kultur in den Gerichten und
Staatsanwaltschaften zu entwickeln. Von der Masse der Richterinnen und Richter
erwartet niemand HeldInnentum. Zu Bestimmtheit, Empathie und Zugewandtheit zum
Menschen verpflichtet die richterliche Unabhängigkeit allemal.
Dr. Oliver
Scheiber ist Richter in Wien und
Lehrbeauftragter an der Universität Wien; er ist auch in der richterlichen Aus-
und Fortbildung tätig; oliver.scheiber@justiz.gv.at
dem wissenschaftlichen Nachlaß (1952) 24.
juridikum 4/2002, 176; abrufbar unter: http://www.juridikum.at/fileadmin/user_upload/ausgaben/juridikum%204-2002.pdf (Stand:
1.11.2013).
Auswahl der RichterInnen der neuen Verwaltungsgerichte folgt anderen
Regelungen, eine RichterInnenausbildung ist bei den Verwaltungsgerichten nicht
vorgesehen.
ordentliche Justiz sperrt sich etwa nach wie vor gegen die Aufnahme blinder RichterInnen.
Anders das neue Bundesverwaltungsgericht: Mit Alexander Niederwimmer und
Gerhard Höllerer werden dort ab 1.1.2014 erstmals sehbehinderte Personen als
Richter arbeiten.
National al Magistraturii (INM) verfügt über ein inhaltlich und didaktisch
beachtliches Konzept der RichterInnenausbildung (http://www.inm-lex.ro/index.php, Stand: 1.11.2013).
wichtiger Schritt erfolgte in Österreich durch die gesetzliche Erwähnung
sozialer Kompetenzen als Voraussetzung für das RichterInnenamt und als Ziel der
Grundausbildung durch die Dienstrechts-Novelle 2008, BGBl I 147/2008.
kommt, dass für RichterInnen
und StaatsanwältInnen keine durchsetzbare Fortbildungsverpflichtung besteht.
Dies verursacht Schwierigkeiten bei der Implementierung neuer
Materien, was in der Strafgerichtsbarkeit etwa bei der
Verbandsverantwortlichkeit, der Umsetzung der Strafprozessreform oder der
Vermögensabschöpfung gut zu beobachten ist.
den Umständen mit Autorität oder Demut
aufzutreten; 2. einen Sachverhalt oder ein Dossier zu analysieren und
zusammenzufassen; 3. Verfahrensregeln zu erkennen, anzuwenden und zu
garantieren; 4. berufsethische Regelungen festzumachen, sich anzueignen und in
der Praxis anzuwenden; 5. eine Entscheidung zu begründen, zu formalisieren und
zu erklären; 6. zu organisieren, zu leiten und innovativ zu wirken; 7. im
vorgesehenen nationalen oder internationalen Zusammenhang zu agieren; 8. eine
Entscheidung zu treffen, gegründet auf das Gesetz und nach Prüfung der Fakten,
die exekutierbar ist, geleitet von Hausverstand; 9. die Fähigkeit, eine Verhandlung
in Abstimmung mit dem Regelwerk vorzubereiten und zu leiten; 10. sich an
verschiedene Situationen anzupassen; 11. zuzuhören und mit anderen zu
interagieren; 12. Vergleichs- bzw Versöhnungsversuche zwischen den Parteien zu
moderieren; 13. im Team zu arbeiten.
etwa den jüngsten einschlägigen Bericht des Europarats: 4. Bericht zur
Bewertung europäischer Justizsysteme der
Europäischen Kommission für die
Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) vom 20.9.2012 (http://www.coe.int/t/dghl/cooperation/cepej/evaluation/2012/Rapport_en.pdf; Stand:
1.11.2013).
über die Europäischen Justizausbildungsstätten findet sich unter http://www.ejtn.eu/About/EJTN-Affiliates/ (Stand:
1.11.2013).
Italien im Jahr 2013 eine neue Akademie den Betrieb aufgenommen; die Scuola Superiore della Magistratura ist in der Villa di Castel Pulci in
Scandicci bei Florenz untergebracht (http://www.scuolamagistratura.it/; Stand:
1.11.2013).
Die Presse vom 11.1.2010; online: http://diepresse.com/home/recht/rechtallgemein/532045/Zu-enges-Denken-bei-Juristen (Stand:
12.5.2013).
Programme for Human Rights Education for Legal Professionals; http://help.ppa.coe.int/ [Stand: 1.11.2013]).
von Giovanna Ichino,
Direktoriumsmitglied der Scuola Superiore della Magistratura, am
23.10.2013 im Rahmen des Train–the–trainer–Seminar des European Judicial Training Network in Florenz (unveröffentlicht).