Erinnerung an Florian Flicker

Regisseur Florian Flicker stirbt mit 49 Jahren. Florian Flicker ist tot. (Quelle: dpaEPA/STEFAN OLAH)
Quelle: EPA/STEFAN OLAH/dpa

Vor einigen Monaten, im letzten Winter, erreichte mich ein
e-mail von Florian Flicker. Er sei Filmemacher, und für ein neues Projekt
benötige er ein paar Hinweise eines Juristen. Ob ich ihn einmal treffen wolle?

Der geplante Film sollte die Strafverhandlung gegen einen
Polizeibeamten nachzeichnen, der einen Jugendlichen erschossen hatte. Der
14-jährige Florian P. war im August 2009 nächtens mit einem Freund in einen
Supermarkt in Krems eingestiegen. Die Polizei wurde verständigt. Ein vom Polizeibeamten Andreas K. abgegebener Schuss
tötete Florian P.; zu einem Zeitpunkt, als der Jugendliche offenkundig vor der
Polizei flüchten wollte. Die Familie von Florian P. erlebte, wie der Boulevard
mit Häme über den Tod des Jugendlichen berichtete und Politiker kein Wort des
Mitgefühls, geschweige denn der Entschuldigung fanden. In einem Aufsehen
erregenden Strafverfahren wurde der Polizeibeamte schließlich zu einer
bedingten Haftstrafe von acht Monaten verurteilt. Ebendiese Verhandlung wollte
Florian Flicker verfilmen.

Mit dem Fall des Florian P. hatte ich mich früher bei anderer
Gelegenheit befasst. Ich verabredete mich mit Florian Flicker kurzfristig im
Café Bräunerhof. Der Name Florian Flicker war mir ein vager Begriff. Also googeln.
Wikipedia zeigt eine eindrucksvolle Liste von Auszeichnungen. Darunter gleich zwei
Mal der Große Diagonale Preis für den besten österreichischen Kinofilm, für Suzie Washington und Der Überfall. Eine DVD von Der Überfall bringt mir Florian Flicker
ins Café Bräunerhof zu unserem ersten Treffen mit.

Im Café Bräunerhof sitze ich einem hellwachen und zugleich
nachdenklichen Mann in den Vierzigern gegenüber. Florian Flicker hat eine ganze
Liste an juristischen Fragen mit. Vor jeder Frage überlegt er, jede Antwort von
mir bedenkt er. Über sein ernstes Gesicht huscht ab und zu ein verschmitztes,
ein bubenhaftes Lächeln. Den Fall des jugendlichen Einbrechers und den Prozess
gegen den Polizeibeamten, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, kennt Florian
Flicker bis ins Detail. Er hat mit vielen Prozessbeteiligten und den
Angehörigen des Jugendlichen gesprochen. Ein Drehbuch für den Film existiert
bereits. Die juristischen Fragen des Falles leuchtet Florian Flicker in jeden
Winkel aus. Er führt die rechtliche Diskussion über den Fall auf höchstem
Niveau. Wiewohl vom Schicksal des Jugendlichen erschüttert und von dieser
Erschütterung zur Verfilmung motiviert, gelingt es Florian Flicker, sich in
alle anderen Beteiligten des Falles, in Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter,
Politiker, hineinzudenken und ihnen gerecht zu werden. Eine selten authentische
Offenheit und Bemühung um Wahrhaftigkeit ist spürbar, und eine scharfe
Beobachtungsgabe. Die Empathie für den Jugendlichen hindert Florian Flicker 
nicht daran, den Fall ruhig in alle Richtungen durchzudenken. Wenn auch nie
ausgesprochen, so war klar, dass der Film dem posthum auf einen Einbrecher reduzierten und so entwürdigten vierzehnjährigen
Florian P. Respekt erweisen sollte.

Ich habe Florian Flicker zwei Mal im Bräunerhof getroffen. Dazwischen haben wir uns über e-mail und am Telefon ausgetauscht. Er hat mir
Einblick in seine Arbeitsweise gewährt und mir über seine Pläne für die
Rollenbesetzung berichtet. Wir mussten über mögliche Besetzungen schmunzeln, als
wir uns Hollywoodstars in den Rollen realer Personen vorstellten, die wir nun
beide kannten. Und ich habe über Florian Flicker gestaunt: über die Akribie,
mit der er für seine Projekte mitunter jahrelang recherchierte. Und darüber,
dass er als (erfolgreicher) Künstler so völlig uneitel und unaffektiert war und
sich Selbstzweifel erhalten hatte. Wir sind beim Sie geblieben, und dies nicht
aus mangelnder Sympathie.

Wir hörten uns zuletzt kurz bevor das Förderungsansuchen für
den Film in die zuständigen Gremien ging. In den folgenden Wochen und Monaten
hatten wir keinen Kontakt mehr. Die Verbindung war zwar etwas abrupt
abgerissen, doch ich erklärte es mir damit, dass das Projekt möglicherweise
keine Finanzierung erhalten hatte. Ich hatte eine Scheu, aktiv nachzufragen.

Als ich vor wenigen Tagen in der Zeitung die Nachricht vom Tod von
Florian Flicker lese, kann ich es nicht glauben. Die Meldung erscheint mir nicht real. Ich habe Florian Flicker nur
flüchtig gekannt. Der selten tiefe Schmerz macht mir bewusst, wie einnehmend
seine Persönlichkeit war. Die kurze
Begegnung mit Florian Flicker hat genügt um zu erahnen, wie groß der Verlust
für seine Angehörigen und für die österreichische Filmlandschaft sein muss.

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Gastkommentar fuer DIE PRESSE vom 21.7.2014 – Fall Josef S.: Wenn Akten Grundrechte verhöhnen

Fall Josef S.: Wenn Akten Grundrechte verhöhnen

Anklage gegen einen Demonstranten sollte Anlass sein, Auswahl und Ausbildung der Richter und Staatsanwälte zu überdenken.

 (Die Presse

Der Fall des Studenten
Josef S., der seit Ende Jänner in Untersuchungshaft sitzt, macht
Schlagzeilen. Josef S. hatte Ende Jänner an der Demonstration gegen den
Ball rechter Burschenschafter in Wien teilgenommen, in deren Zuge es zu
Ausschreitungen mit erheblichen Sachschäden gekommen war. Die
Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Landfriedensbruchs erhoben. Bisher
fand ein Verhandlungstermin statt.
Das unabhängige Gericht wird den Fall entscheiden. Bereits in diesem
frühen Stadium muss es zulässig sein, sich mit der Sprache der
Institutionen auseinanderzusetzen. Laut unwidersprochenen Berichten des
„Falter“ ist in den Akten im Fall Josef S. nicht wie üblich von
Tatverdächtigen die Rede, sondern von „Demonstrationssöldnern“, von
„Manifestanten“ und „Chaoten“, die sich „zusammenrotten“, von „Spähern“
und einer „martialischen Phalanx“, von „kohortengleichen Formationen“.
Diese Ausdrucksweise weicht von der üblichen, sachlichen Amtssprache ab.
Es sind Begriffe der Polemik und Dramatisierung, die zur politischen
Agitation eignen.
In Behördenakten haben sie im Rechtsstaat nichts
verloren, signalisieren sie doch Gleichgültigkeit, wenn nicht
Feindseligkeit gegenüber den Grundrechten der Meinungs-, der
Versammlungs- und der Demonstrationsfreiheit. Sie vermitteln (jedenfalls
im Kontext der Strafverfahren Tierschützer und Votivkirche/Schlepperei)
den Schluss, die Behörden hätten eine Abneigung gegen
zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt.
Demonstrationen
verursachen Unannehmlichkeiten: Verkehrsstaus, Mehrarbeit und fallweise
Gefahren für die Behörden, Umsatzeinbußen für Geschäfte. Sie
rechtfertigen nie Ausschreitungen. Das ändert aber umgekehrt nichts
daran, dass die Versammlungsfreiheit zentrales Grund- und Freiheitsrecht
und zugleich verfassungsrechtliche Absicherung zivilgesellschaftlichen
Engagements ist.
Polizei und Justiz haben die Versammlungsfreiheit
nicht nur zu schützen, sondern aktiv zu garantieren. Der Begriff des
„Demonstrationssöldners“ denunziert und verhöhnt das Grundrecht.
Und
noch etwas fällt auf: Im Strafverfahren geht es in der Regel darum,
einer konkreten Person eine konkrete Handlung nachzuweisen. Das
Einschlagen einer Fensterscheibe, die Verletzung eines Menschen, den
Verkauf eines Säckchens Heroin. Im Fall Josef S. weicht die Polizei
dieser mühsamen Ermittlungsarbeit und Beweisführung aus, indem sie mit
Landfriedensbruch einen Tatbestand heranzieht, der die bloße Anwesenheit
an einem Ort bzw. Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestraft.
Ähnlich
war die Polizeitaktik im Tierschützerverfahren, als man wegen des
Delikts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte. In beiden
Fällen kommen Tatbestände zur Anwendung, die der Gesetzgeber für
Ausnahmesituationen – zur Bekämpfung von Terror- und Mafianetzwerken
bzw. für Zeiten des Aufruhrs – geschaffen hat. Landfriedensbruch etwa
war lange Jahre totes Recht. Die Anwendung der sogenannten
Organisationsdelikte gerade im Zusammenhang mit zivilgesellschaftlichem
Engagement bewirkt Einschüchterung und ist verfassungs- und
demokratiepolitisch fatal.
Was treibt die Polizei, und warum
gelingt es der Justiz so schwer, sich von der Arbeit der stärker
politisch beeinflussten Polizei abzugrenzen? Liegt es an Personalauswahl
und Ausbildung? Gerade die Richterausbildung hat doch in den letzten
zwei Jahrzehnten eine Öffnung erfahren und einen Qualitätssprung
gemacht. Es gibt interdisziplinäre Seminare, Praktika bei
Wirtschaftsbetrieben, Jugendämtern und Opferhilfestellen. Angehende
Richter besuchen heute NGOs und NS-Gedenkstätten, sie diskutieren mit
Journalisten, Zeitzeugen und Schauspielern. Und dennoch: Es ist bereits
diese junge Generation, die die Protagonisten der angeführten
Strafverfahren der letzten Jahre stellt und Zweifel bei Beobachtern
weckt.
Könnte das fehlende politische Bewusstsein der Richter und
Staatsanwälte ein Erklärungsmuster dafür bieten? Als Reaktion auf die
damalige Verpolitisierung aller Lebensbereiche hat die Richterschaft in
den 1980er-Jahren einen Trennstrich gezogen und sich von der Politik
radikal distanziert. Allerdings hat man Politik mit Parteipolitik
verwechselt.

Schlüssel zum Rechtsstaat

Man kann oder soll sich als Richter von Parteipolitik fernhalten.
Verhängnisvoll ist es jedoch zu meinen, Rechtsprechung sei unpolitisch
oder könne unpolitisch sein. Genau das ist passiert. Nun ist es ein
längerer Prozess, sich wieder bewusst zu machen, dass nicht nur
gesetzliche Regelungen zu Mieten, Lebensgemeinschaften und
Drogentherapien (gesellschafts-)politische Entscheidungen sind, sondern
auch die Rechtsprechungslinien dazu. Für das Strafrecht gilt dies ganz
besonders. Das Bewusstsein, dass es sich bei alldem um politische
Vorgänge handelt, ist Voraussetzung einer ruhig abwägenden richterlichen
Tätigkeit.
Das Gesetz sieht eine Distanz von Polizei, Gericht und
Staatsanwaltschaft vor, um die wechselseitige Kontrolle zu
gewährleisten. Vielleicht benötigt diese Distanz auch räumliche
Trennung, etwa von Staatsanwaltschaft und Gericht? Bei der Wirtschafts-
und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist man diesen Weg bereits erfolgreich
gegangen. Die räumliche Eigenständigkeit schärft Profil,
Rollenbewusstsein und Unabhängigkeit.
Im Übrigen liegt der
Schlüssel zu Qualität und rechtsstaatlicher Aufgabenerfüllung vor allem
bei Personalauswahl, Aus- und Fortbildung. Für Richter und Staatsanwälte
gilt dasselbe wie für Ärzte oder Lehrer: Man muss Menschen mögen, um
den Beruf gut ausüben zu können.
Europarat und EU arbeiten seit
einigen Jahren an gemeinsamen Standards für die Ausbildung der Richter
und Staatsanwälte. Erstaunlicherweise gibt es dabei auf dem gesamten
Kontinent eine große Übereinstimmung. War man früher auf die Vermittlung
der Gesetzeskenntnisse konzentriert, erkannte man später die Bedeutung
der sozialen Kompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten der Richter und
Staatsanwälte. Und aktuell folgt der nächste Schritt: Europaweit sieht
man in der Vermittlung von Werten und Haltungen, in der Arbeit an der
Persönlichkeit des Richters und Staatsanwalts die zentrale
Herausforderung der Berufsausbildung. Es geht darum, die Sensibilität
für die Bedeutung der Grundrechte im täglichen Justizbetrieb zu
entwickeln: für eine verständliche Sprache, für eine aktive anwaltliche
Vertretung oder umfassendes Dolmetschen etwa. Es geht um die Schärfung
des Sinns für die Verhältnismäßigkeit der Mittel, und es geht unter
vielem anderem darum, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie
zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur zu respektieren, sondern zu
garantieren. Wenn Polizei und Justiz diese Selbstverständlichkeit und
Klarheit nicht gelingen, dann sehen sie sich zu Recht der Frage
ausgesetzt: Wie würde eine Polizei und eine Justiz, die in ruhigen
Zeiten von „Demonstrationssöldnern“ und „Zusammenrottungen“ spricht,
unter einer autoritären Regierung vom Schlag eines Viktor Orban agieren?
Der
Fall Josef S. wäre ein guter Anlass, der Personalauswahl sowie Aus- und
Fortbildung der Richter und Staatsanwälte mehr an Aufmerksamkeit und
Mittel zukommen zu lassen und neue Initiativen zu setzen – als Dienst an
Rechtsstaat und Bevölkerung.
Dr. Oliver Scheiber ist Richter,
Lehrbeauftragter an der Universität Wien und Mitglied der Allianz gegen
die Gleichgültigkeit, einer Gruppe prominenter Juristen, die
Reformvorschläge für Justiz und Strafvollzug unterbreitet hat. Er gibt
hier ausschließlich seine persönliche Ansicht wieder.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 21.07.2014)

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Unsere Gefängnisse sind zu billig – Gastkommentar für den FALTER 22/2014

Um Geld zu sparen, kommen psychisch Kranke nicht ins Krankenhaus, sondern in Haft. Das gehört geändert.
Gastkommentar: Oliver Scheiber 
Ein Mann, um die 30, steht vor Gericht. Er kroch in einen
Flaschenrückgabeautomat eines Supermarkts. Detektive nahmen den Mann mit von
Scherben zerschnittenen Armen am Flaschenförderband fest. Er wollte zehn
Flaschen neuerlich durchlaufen lassen und sich mit dem ergaunerten Leergutbon
ein Abendessen kaufen. Die Staatsanwaltschaft hat den potenziellen Schaden auf
zehn Euro geschätzt und beantragt, dass der Mann seine bedingte Strafe vom
letzten Mal –  gewerbsmäßiger Diebstahl
von Leerflaschen  – absitzen soll. Der Mann hätte dann rund ein Jahr
Haft vor sich.
Er ist dann einer von mehr als 8.000 Insassen unserer
Haftanstalten. Die Zahl der Häftlinge steigt seit Jahren, während die
Kriminalität sinkt. In Österreich kommen auf 100.000
Einwohner 104 Häftlinge. In Deutschland sind es 87, in Norwegen, Schweden,
Dänemark und den Niederlanden um die 70 und in Finnland nur 61 Insassen. Die
Quote der unter 18-Jährigen Häftlinge zählt mit 1,6 Prozent aller Gefangenen zu
den höchsten innerhalb der EU. Die Haft soll aber wenig kosten: Schweden (260
Euro), Norwegen (330 Euro) und die Niederlande (215 Euro) wenden pro Tag und
Häftling mehr als das Doppelte auf als Österreich (108 Euro).
Auch die Zahl der psychisch kranken Häftlinge
stieg in den letzten 20 Jahren rasant an. Die Justiz hat Aufgaben des
Gesundheitssystems übernommen und ist darauf nicht vorbereitet.
Justizwachebeamte mit Taserwaffen betreuen nun psychisch Kranke.
Noch vor zwanzig Jahren haben Gerichte
psychisch kranke Menschen meist nur nach schweren Gewaltexzessen in den
Justiz-Maßnahmenvollzug eingewiesen. Heute reichen dafür oft schwere
Sachbeschädigungen. Die Zwangsanhaltung kann dann Jahre andauern. Länder und
Gemeinden ersparen sich psychiatrische Infrastruktur. Die Entlassung aus dem
Maßnahmenvollzug scheitert regelmäßig an den fehlenden
Nachbetreuungseinrichtungen.
Seit den 1980er-Jahren entwickelt sich
der Strafvollzug in die falsche Richtung. Der Anteil der Justizwachebeamten
stieg (nun rd. 80%), Sozialarbeiter, Psychologen, Juristen, Mediziner wurden
weniger und verloren intern an Einfluss. Die Justizwachegewerkschaft baute ihre
Macht immer weiter aus. An die Stelle des Resozialisierungsgedankens der
1970er-Jahre trat ein Sicherheitsdenken. Die Gerichte handhaben die bedingte
Entlassung oft sehr restriktiv. Das Führungspersonal des Strafvollzugs agiert
aus der Defensive heraus. Die Mienen vieler Verantwortlicher spiegeln
Ängstlichkeit und Resignation.
Die Bilder, die der Falter nun aus dem
Strafvollzug veröffentlicht, sind in ihrer Dramatik schockierend. Der Super-GAU
ist nicht mehr zu leugnen. Justizminister Brandstetter hat recht, wenn er von
strukturellen Missständen spricht und eine Totalreform fordert. Aber wie kann sie
aussehen?
Die Diagnose ist brutal: das
Gesamtsystem ist kollabiert. Grenzüberschreitungen sind zur Normalität
geworden. Quer durch die beteiligte Berufe hat sich Apathie breit gemacht. Wenn
einem Häftling der Fuß abfault, dann ist nicht ein einzelner Justizwachebeamter
schuld; dann gibt es keine funktionierende Sozialarbeit, keine angemessene
medizinische Versorgung, keine Aufsicht. Die oft behauptete Ressourcenknappheit
ist eine billige Ausrede. Das Problem ist die Kultur des Strafvollzugs: Wer dort
Missstände aufzeigt, wird gemobbt – wie etwa im Vorjahr bei den Skandalen in
der Justizanstalt Josefstadt. Die vielen engagierten Beamten werden zu
Außenseitern gemacht.
Notwendig ist zunächst die Halbierung
der Insassenzahlen – sie ist ohne jegliches Sicherheitsdefizit machbar. Durch
eine Beschleunigung der Ermittlungsverfahren ließe sich die Zahl der rund 1800
U-Häftlinge halbieren. Die psychisch kranken Insassen sollten im
Gesundheitssystem versorgt werden, soweit sie überhaupt eine stationäre
Unterbringung benötigen. Die meisten von ihnen kämen mit einer guten
individuellen ambulanten Betreuung aus. Die bedingte Entlassung muss zur Regel
werden, so wie es das Gesetz vorsieht; eine Klassenjustiz, die Menschen wie den
eingangs erwähnten Flaschendieb einsperrt, muss ein Ende finden. Mit diesen
Maßnahmen ließe sich rasch ein Häftlingsstand von knapp unter 6.000 erreichen –
es entspräche der Zahl des Jahres 1989.
Eine Reform hat nur dann eine Chance,
wenn die Regierungsspitze kraftvoll dahintersteht. Die Halbierung der
Haftzahlen und Überführung der Masse der psychisch kranken Häftlinge ins
Gesundheits- und Sozialsystems bedarf einer Ergänzung durch neue
Ausbildungsmodule nicht nur für die Justizwache, sondern auch für Richter und
Staatsanwälte. Massive Planstellenverschiebungen vom bewaffneten Personal hin
zu Sozialarbeit, Psychologie, Medizin sind nötig. Das gesamte System muss neu
aufgesetzt werden. Eine ernsthafte Reform wird Experten einbeziehen, die dem
System vor einigen Jahren zu unbequem geworden sind.
Die ersten Reformankündigungen des
Justizministers machen Hoffnung. Der Zorn des Ministers ist ein Weckruf – an
alle, die mit dem Strafvollzug zu tun haben, an Parlament und Regierung. Eine
Reform des Strafvollzugs wird auf viel Widerstand stoßen; die Reform nicht zu
versuchen wäre unverzeihlich.  
Der Autor ist Strafrichter und Lehrbeauftragter an der Universität
Wien. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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Mandatsverfahren nur für fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr

Text für DIE PRESSE – Printausgabe vom 26.5.2014
Kompromissvorschlag: Anwendungsbereich der Verurteilung per Post einschränken.
   (Die Presse)
Justizminister Wolfgang Brandstetter hat ein Reformpaket für den Strafprozess vorgelegt. Die meisten Punkte stießen auf allgemeine Zustimmung. Zum Teil heftigen Widerstand löste nur der Vorschlag eines Mandatsverfahrens aus (s. auch den Artikel oben). Richter sollen die Möglichkeit erhalten, aufgrund der Aktenlage und ohne Verhandlung eine Art Strafverfügung zu erlassen, die dem Angeklagten per Post zugestellt wird. Auf diese Weise sollen Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr verhängt werden können.
Gegen ein solches verkürztes Verfahren spricht der Entfall der Hauptverhandlung mit ihren vielfältigen Funktionen: Das Gericht verschafft sich in der Verhandlung einen Eindruck von der Person des Angeklagten, es kann Missverständnisse aufdecken, die Schuldfähigkeit besser beurteilen und mit Staatsanwaltschaft und Angeklagtem eine allfällige Sanktion erörtern und auf den Täter zuschneiden – etwa Weisungen aussprechen oder Bewährungshilfe anordnen. Auch dient die Hauptverhandlung einer raschen Schadensregulierung für das Opfer der Tat.

Vielen fehlt schon ein Ausweis

Ein gewichtiges Argument gegen ein schriftliches Verfahren ist auch, dass viele Menschen von ihrer Vorstrafenbelastung nichts erfahren würden – die betroffene Personengruppe behebt vielfach ihre Schriftstücke nicht auf dem Postamt, viele Menschen besitzen nicht einmal den für die Postabholung nötigen Lichtbildausweis.
Dennoch wäre ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Positionen möglich. Das Mandatsverfahren scheint nämlich für einen bestimmten Bereich sehr wohl geeignet: für Strafverfahren nach Verkehrsunfällen. Angeklagte in diesem Feld des Strafrechts gehören in der Regel nicht zu jener bildungsmäßig und sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppe wie die meisten anderen Angeklagten der Strafprozesse. Es handelt sich also um eine Gruppe von Angeklagten, die sehr wohl ihre Poststücke vom Postamt abholt, prüft und einen Rechtsbeistand konsultiert.
Zudem hat hier die Schadensregulierungsfunktion der Hauptverhandlung weniger Bedeutung als sonst: Die Schäden sind ohnedies durch die Haftpflichtversicherung gedeckt und können vom Versicherten ohne Zustimmung der Versicherung gar nicht ohne Weiteres anerkannt werden. Das vorgeschlagene Mandatsverfahren könnte hier, auf den Bereich der fahrlässigen Körperverletzungen eingeschränkt, im Einzelfall durchaus zweckmäßig sein.
Die hohe Zahl an Mandatsverfahren in Deutschland  wird unter anderem dadurch erklärt, dass im Nachbarland für viele Straßenverkehrsdelikte nicht wie in Österreich die Verwaltungsbehörden, sondern die Gerichte zuständig sind. Und im Verkehrsrecht (auch im österreichischen Verwaltungsverfahren) haben sich Mandatsverfahren eben bewährt.

Oliver Scheiber ist Richter in Wien. Der Beitrag gibt seine persönliche Ansicht wieder.

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Vorschlag für eine Strafprozessreform: ein Schritt nach vorn mit einem großen Makel

Es ist gut,
dass wieder Justizpolitik stattfindet. Der heute zur Begutachtung versandte Vorschlag für eine Strafprozessreform  ist nicht mehr, wie viele Maßnahmen im Justizbereich der letzten Jahre, einseitig an Einsparungen orientiert. Der Gesetzesvorschlag hat vielmehr eine klare Leitidee – mehr Rechtsschutz für Verdächtige und Beschuldigte, Beschleunigung der Strafverfahren – und er ist sorgfältig ausgearbeitet und begründet. Der Vorschlag ist somit ein erfreuliches Signal dahingehend, dass
Qualität und Rechtsschutz auch etwas kosten dürfen. Dies gilt etwa für die
Wiedereinführung eines zweiten Berufsrichters im Schöffenverfahren: vor wenigen
Jahren war der zweite Berufsrichter aus Einsparungsgründen abgeschafft worden.
Es hat sich gezeigt, dass dies bei großen Verfahren eine unzumutbare Belastung
des einzigen im Schöffensenat verbliebenen Berufsrichters bedeutet. Die schnelle Korrektur dieses
Fehlers verdient Anerkennung. Dasselbe gilt für die Erhöhung des
Verteidigungskostenersatzes: seit Jahrzehnten wird beklagt, dass Menschen, die
in einem Strafverfahren freigesprochen werden, mit geringen Geldbeträgen
abgespeist werden und oft hohe Verteidigungskosten selbst tragen müssen. Wer
freigesprochen wird, ist unschuldig. Das Strafverfahren hat ihn finanziellen,
psychischen und sozialen Beeinträchtigungen und Risiken ausgesetzt. Es ist mehr
als angemessen, den Höchstsatz des Verteidigungskostenersatzes nun auf 10.000 Euro bei schwersten
Delikten und 1.000 Euro vor dem Bezirksgericht anzuheben. Selbst mit diesen Beträgen ist in der
Regel nur ein Teil der Kosten abgedeckt, es bedeutet aber eine Verdoppelung der
bisherigen Richtwerte – in Sparzeiten durchaus respektabel. Eine erfreuliche
Modernisierung liegt auch in der vorgeschlagenen sprachlichen Unterscheidung
zwischen Verdächtigen und Beschuldigten. Sie schützt Personen, die bloß einem
Anfangsverdacht ausgesetzt sind, besser vor einer frühen
Stigmatisierung. Die zuletzt viel diskutierte Frage, wieviel Mitsprache Staatsanwaltschaft und Verdächtiger bei der Auswahl des Sachverständigen haben, löst der Entwurf mit einer neuen Regelung, die in den Erläuterungen sehr eingehend argumentiert wird. Dabei wird auch die Diskussion der letzten Jahre breit referiert. 
Schließlich erscheint  auch das überraschend vorgeschlagene Zeitlimit
von drei Jahren im Ermittlungsverfahren sinnvoll. Der Gesetzesvorschlag ist umsichtig: dort wo etwa Verdächtige das Verfahren bewusst verschleppen, kann das
Gericht das Zeitlimit für die Staatsanwaltschaft ausdehnen. Für die Masse der
Fälle aber muss man sagen: ein Strafverfahren ist für den Verdächtigen in
vielerlei Hinsicht so belastend, dass nach drei Jahren zumindest eine
Entscheidung fallen muss, ob die Staatsanwaltschaft die Sache vor Gericht
bringen will oder nicht. Auch bei komplexen Familienrechts- oder
Unternehmensstreitigkeiten erwartet sich die Bevölkerung zu Recht, dass
Verfahren nach einigen Monaten zu einer Erstentscheidung kommen. Die neue Frist
sollte also ein Ansporn für alle Ermittlungsbehörden (Polizei und
Staatsanwaltschaft) sein.
Bleibt ein heikler Punkt: die
Wiedereinführung des Mandatsverfahrens, also eine schriftliche gerichtliche
Entscheidung ohne Hauptverhandlung. Das bedeutet: man kann vorbestraft sein,
ohne dass je eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hat. Eine solche Neuerung
sollte sich das Parlament gut überlegen. Es empfiehlt sich der Besuch eines
Strafverhandlungstags an einem Bezirksgericht. Wie sieht die Realität aus? Die
Beschuldigten gehören zu einer Personengruppe, die vielfach Postsendungen nach
Verständigungen des Zustellers vom Postamt nicht abholt. Es sind Menschen, die
jede Woche mehrfach Schriftstücke von Behörden erhalten, die sie entweder nicht
abholen, nicht lesen oder nicht verstehen. Kaum jemand kann zwischen bloßen
Polizeistrafen und gerichtlichen Strafen unterscheiden. Die Betroffenen können
daher vielfach die Folgen einer gerichtlichen Verurteilung nicht abschätzen: der
jahrelange Ausschluss von einer Gewerbeberechtigung, von Ausbildungen, von einem
Dienstverhältnis bei Stadt, Land oder Bund. Und vielfach zeigt sich erst in der
Hauptverhandlung, dass der Beschuldigte nicht schuldig ist; gerade auch in
Fällen, wo sich Menschen in Verkennung der Rechtslage schuldig bekennen. Das
betrifft etwa Anklagen wegen Taxibetrugs, wo Taxifahrgäste zu wenig Geld bei sich
hatten und sich schuldig bekennen, obwohl sie nie einen Betrugsvorsatz hatten
und daher auch nicht im strafrechtlichen Sinn schuldig sind. Und das betrifft
die vielen Fälle, in denen sich erst in der Hauptverhandlung Hinweise ergeben,
dass eine Notwehrsituation vorlag oder in denen Zweifel an der Schuldfähigkeit
auftauchen. Vielfach kommt erst in der Verhandlung heraus, dass der Beschuldigte
psychisch krank ist und seit Jahren unter Sachwalterschaft steht. Die Hauptverhandlung ist das Herzstück eines Strafverfahrens: der Angeklagte wird angehört,  der Bewährungshelfer kann Stellung nehmen, das Gericht kann die Pläne des
Beschuldigten bezüglich Aiusbildung, Job und Wohnung erfragen und besprechen. Wie soll
das Gericht eine passende Sanktion und Weisung finden, ohne dies in einer
Verhandlung mit Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem erörtert zu haben? 
Das Mandatsverfahren widerspricht aber auch der jüngsten Entwicklung hin zu einem umfassenden Opferschutz. Die Hauptverhandlung bietet die Möglichkeit,
Opferansprüche zu erörtern, rasch abzuklären und dem Opfer ein Zivilverfahren zu
ersparen. Ohne Verhandlung wird man den umfangreichen Opferschutzbestimmungen
der StPO schwer entsprechen können und auch schwerlich eine Entscheidung über
privatrechtliche Ansprüche fällen können.
Vor fünfzehn Jahren erst hat
man die alte Strafverfügung deshalb abgeschafft, weil man sich in Lehre und
Praxis einig war, dass viele Betroffene die Bedeutung des verurteilenden Schriftstücks nicht
erkennen. Menschen nehmen solche schriftlich zugestellten Strafen oft an, um ihre Ruhe zu haben. Viele der mit der alten Strafverfügung verurteilten Menschen wussten gar
nicht, dass sie nun gerichtlich vorbestraft sind. Eine Wiedereinführung der
Strafverfügung würde wohl dazu führen, dass weniger Fälle mit Diversion und mehr
mit der schnell versandten Strafverfügung erledigt werden. Für mutmasslich
fremdsprachige Personen müsste alles in die Muttersprache übersetzt werden – ein
Aufwand der höher wäre als der für eine Hauptverhandlung, die am Bezirksgericht
im Schnitt vielleicht 30 Minuten dauert. Überhaupt: die Strafverfahren am
Bezirksgericht dauern im Schnitt vier bis fünf Monate – wie will man da ohne
Qualitätsverlust verkürzen und warum auch? Mit der Strafverfügung riskiert man
also einen großen Rückschritt im Rechtsschutzsystem und eine zunehmende
Kriminalisierung, ohne dass ein Beschleunigungs- oder Einsparungseffekt
erkennbar wäre. Will man die Bezirksgerichte entlasten, so müsste man ihnen die vielen nicht-richterlichen Arbeiten abnehmen: etwa die aufwendige Abrechnung von Drogentherapien und Ähnliches.     
Während das restliche
Reformpaket sich also im Großen und Ganzen Qualitätsverbesserungen und mehr
Rechtsschutz verschreibt weist das geplante Mandatsverfahren in die
Gegenrichtung: man sollte diesen Punkt noch einmal überdenken und sich die
Erwägungen ansehen, mit denen die Strafverfügung vor 15 Jahren abgeschafft
wurde: niemand soll gerichtlich vorbestraft sein, ohne eine Gerichtsverhandlung
gehabt zu haben. Die Verhandlung ist schließlich die Kernkompetenz des
Richters/der Richterin und das wesentliche Qualitätskriteriums jedes
Behörden/Gerichtsverfahrens. Für ein angemessenes rechtliches Gehör und ein
faires Verfahren ist eine mündliche Verhandlung in einem gerichtlichen Strafverfahren
unabdingbar.
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