Foto: Walter Wobrazek/profil
Manche Menschen hinterlassen eine Lücke, die sich nicht schließen lässt. Werner Vogt zählt zu ihnen. Der Wiener Arzt, der viel Lebenslust in sich trug, fand gleichzeitig, dass es in dieser Welt sehr viel zu verbessern gibt. Zu diesen Verbesserungen hat er selbst viel, mehr als in einem Leben normalerweise zu schaffen ist, beigetragen. Über mehrere Jahrzehnte war Vogt eine laute Stimme im öffentlichen Diskurs Österreichs. Maßgeblich war sein Anteil daran, dass in den 1970er- und 1980er-Jahren endlich das Schweigen über die Zeit des Nationalsozialismus gebrochen wurde und die Aufarbeitung der Rolle Österreichs in der dunklen Zeit spät, aber doch beginnen konnte.
Am vergangenen Samstag ist Vogt im Alter von 85 Jahren verstorben.
„Mein Arztroman. Ein Lebensbericht“ heißt Vogts lesenswerte Autobiographie, die seinen Medizinerberuf in den Titel aufnimmt. Zum Arztberuf war Vogt über Umwege gekommen. 1938 in Tirol geboren absolvierte er zunächst die Lehrerausbildung und unterrichtete 1957 und 1958 in Vorarlberg. Von 1959 bis 1969 studierte er schließlich Medizin in Wien und begann dann 1969 als Facharzt für Unfallchirurgie am Lorenz Böhler Krankenhausder Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt in Wien – er blieb seinem Krankenhaus bis zur Pensionierung treu. Lange war er der Ärztesprecher des Spitals und mehrmals hat er um den Erhalt und die Unabhängigkeit seines Spitals gekämpft, Seite an Seite mit seinem Freund und Spitalschef Primarius Poigenfürst. Denn Vogt war zwar als Persönlichkeit stark, doch arbeitete er stets im Team, was wohl allein schon seiner Geselligkeit und seiner Lust am Gespräch und Austausch, auch seiner Neugierde,geschuldet war. Er widmete sich oft ernsten Themen, und doch war jede Zusammenarbeit mit ihm von Lebensfreude, Optimismus und Humor geprägt. Seine Stimme, einmal gehört, bleibt in Erinnerung.
Werner Vogt war ein Mann mit unzähligen Begabungen. Seine größte Begabung war wohl seine Sprachgewalt und Sprachgewandtheit. Seine schriftlichen Formulierungen waren präzise und messerscharf, seine Argumentationen von größter Schlüssigkeit und in der mündlichen Diskussion verfügte Vogt über eine seltene Verbindung von Intellekt, Schlagfertigkeit, Formulierungskunst und Humor. Sein Lächeln war oft schelmisch. Man wollte ihn in Konflikten nicht zum Gegner haben.
Und Konflikte gab es genug. Konflikte sind nötig, um die Dinge weiterzuentwickeln und die Welt besser zu machen, so hat es Vogt sinngemäß in einem Interview formuliert. Und bekannte sich zeitlebens dazu, dass ihn der Zorn über Missstände und die schlechten Lebensverhältnisse vieler Menschen antrieb. Schon früh trat Vogt im öffentlichen gesellschaftspolitischen Diskurs in Erscheinung.„Kritische Medizin“ nannte sich die Arbeitsgemeinschaft, die Vogt 1975 mit Kolleginnen und Kollegen gründete und die in den Folgejahren einerseits Missstände aufzeigte, andererseits Lösungsvorschläge unterbreitete. Denn das zeichnete Vogt aus: nie blieb es bei der Kritik, immer bot er Lösungen und zudem seine Unterstützung an.
Werner Vogt war im besten Sinn des Wortes querköpfig und unkorrumpierbar. Wo er Unrecht erkannte, da meldete sich Vogt zu Wort – kraftvoll und unbeugsam. Er dockte zwar öfter an Organisationen an, am CV in seiner Jugend, später an der SPÖ und an die Grünen. Die Zusammenarbeit zerbrach, wenn man ihn in faule Kompromisse zwingen oder seine Unabhängigkeit brechen wollte. Und nicht selten rief man ihn in der Not zu Hilfe; etwa nach dem großen Wiener Pflegeskandal im Altenheim Lainz. 2003 bestellte ihn die Wiener Gesundheitsstadträtin Pittermanni in einem geschickten Schachzug zum Wiener Pflegeobmann.
Werner Vogts Schwerpunkt lag in Österreich. Und dennoch engagierte er sich immer auch in internationalen Hilfsprojekten: ab 1981 in der medizinischen Unterstützung Nicaraguas, nach den politischen Umbrüchen 1989 dann im rumänischen Temesvar, anschließend im Kosovo im Auftrag internationaler Organisationen.
Werner Vogt war ein starker Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens, gleichzeitig auch Stimme der Zivilgesellschaft. Eng verbunden ist sein Name mit dem Sozialstaat-Volksbegehren, das er mitinitiiert hatte und das im Jahr 2000 von mehr als 700.000 Menschen unterzeichnet wurde. Wie kraftvoll die Rolle Vogts im öffentlichen Diskurs der 1970er- und 1980er-Jahre war ist heute schwer vorstellbar. Dank seiner Sprachgewandtheit war Vogt mehr als eine starke Stimme im öffentlichen Diskurs; er war ein Gigant, eine Naturgewalt im Dienst von mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit.
Als Vogts bedeutendste Leistung wird, wohl zu Recht, die Enttarnung des NS-Arztes Heinrich Grossin den 1970er-Jahren angeführt. Gross hatte als Arzt an den massenhaften Morden an Kindern und psychisch Kranken in der NS-Zeit in Wien mitgewirkt, war nichtsdestotrotz nach 1945 zum Primararzt und zum meistbeschäftigten Gerichtssachverständigen Österreichs aufgestiegen. Vogt thematisierte diese Unglaublichkeit 1979 öffentlichkeitswirksam, als er bei einem Kongress in Salzburg Gross aufgeforderte, nicht über die „Tötungsdelikte psychisch Kranker“, sondern besser über „Tötungsdelikten an psychisch Kranken“ zu referieren. Der darob entstandene Skandal mündete Jahre später in die überfällige Mordanklage gegen Heinrich Gross und führte kurzfristig zur Entlassung eines Opfers von Gross aus dem Gefängnis. Den viel zu spät aus dem Gefängnis entlassenen Mann, Friedrich Zawrel, begleitete Werner Vogt (gemeinsam mit anderen) am Weg zu einem der angesehensten Zeitzeugen Österreichs.
Unsere gemeinsame Bekanntschaft zu Friedrich Zawrel hat mich vor rund zwanzig Jahren mit Werner Vogt zusammengeführt. In Kenntnis seiner Texte habe ich der ersten Begegnung mit Ehrfurcht entgegengesehen – und habe einen der im persönlichen Umgang liebenswertesten und umsichtigsten, ja zärtlichsten Menschen kennengelernt, die mir begegnet sind. Den intensivsten Kontakt hatte ich mit Werner Vogt, als unser gemeinsamer Freund Friedrich Zawrel 2014 schwer erkrankt war. Zawrel rief mich zu sich, nie werde ich das Bild vergessen, als Vogt am Krankenbett saß und die Hand des Freundes hielt, streichelte. Einige Wochen später bereiteten wir das Begräbnis Zawrels vor, Werner Vogt und ich verbrachten Stunden mit dem Auswählen eines angemessenen Grabsteins und der richtigen Inschrift. Am 3.3.2015 hatten wir einen Termin in der Feuerhalle Simmering, außerhalb der regulären Öffnungszeiten. Wir betraten die Halle durch einen Hintereingang, stießen dort auf Särge, in denen die Wiener Spitäler amputierte Gliedmaßen sammeln, die dann verbrannt werden. In der Minute mutierte Vogt zum Arzt, erzählte zu den Gliedmaßen passende Arztgeschichten, von seiner Kompetenz und seinem Humor getragen.
Der Mut zur öffentlichen Kritik, die strikte Orientierung des Handelns am gesellschaftlichen Wohl, die Zuwendung zu den Schwächsten – das ist es, was Werner Vogt auszeichnete und was die Gesellschaft heute vielleicht noch notwendiger braucht als in früheren Jahrzehnten. Die Republik hat die vielfachen Verdienste Werner Vogts 2015 gewürdigt. Im Juli 2015 regte ein Personenkreis die Würdigung Vogts an; und schon am 17. November desselben Jahres überreichte der damalige Justizminister Wolfgang Brandstetter Werner Vogt im Justizministerium das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.
Werner Vogt gehörte zu den Menschen, für die man nach jeder neuen Begegnung noch mehr Respekt und noch mehr Zuneigung empfand. Man kann das nicht über Viele sagen.
Oliver Scheiber ist Richter und Publizist in Wien.
Von Werner Vogt:
Einatmen – Ausatmen: Der Mißstand als Norm, Europaverlag Wien 1991.
Reise in die Welt der Altenpflege: Ein kritisches Tagebuch, Edition Steinbauer, Wien 2005.
Mein Arztroman. Ein Lebensbericht, Edition Steinbauer, Wien 2013.
Österreichische Mediathek: Werner Vogt – der Fall Gross und andere Aufarbeitungen
https://www.mediathek.at/oesterreich-am-wort/suche/treffer/?pool=BWEB&uid=15859EEC-26C-000B8-00001300-1584DEB6&cHash=85ed1237a08fa72671d8355e2d1e3de5
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