Bericht über eine Veranstaltung am Bezirksgericht Meidling am 18.1.2016
Am 18. Jänner 2016 waren an die 100 Besucherinnen und Besucher zu einer Veranstaltung ins Bezirksgericht Meidling gekommen. Der Abend fand im Rahmen der Werkschau des Malers Josef Schützenhöfer und als Teil einer Veranstaltungsserie zum Republiksjubiläums statt.
Ilse Reiter (Universität Wien) referierte den Forschungsstand zu Richterkarrieren vor, während und nach dem Nationalsozialismus. Der Standard-Beitrag von Sebastian Fellner (unten) gibt den wesentlichen Inhalt wieder. An das Referat schloss ein Gespräch mit Justizminister Wolfgang Brandstifter an. Moderiert wurde der Abend von Maria Wittmann-Tiwald, Präsidentin des Wiener Handelsgerichts.
Den Besucherinnen und Besuchern stand anschließend ein Buffet zur Verfügung – Interessierte konnten Josef Schützenhöfer folgen, der durch die Ausstellung führte und seine Werke erläuterte.
Die nächste Veranstaltung dieser Reihe findet am Montag, 14.3.2016, zu dem Thema „Polizei“ statt. Anmeldungen bitte an: bgmeidling.laedt.ein@gmail.com. Programm folgt.
Impressionen von der Veranstaltung (Fotos: BKA – Andy Wenzel, BG Meidling):
BM Brandstetter (Foto: BKA- Andy Wenzel)
Oliver Scheiber (Foto: BKA- Andy Wenzel)
Ilse Reiter BM Brandstetter (Foto: BKA- Andy Wenzel)
Ilse Reiter, Maria Wittmann-Tiwald, BM Brandstetter
Ilse Reiter, Maria Wittmann-Tiwald, BM Brandstetter
Josef Schützenhöfer bei der Führung durch die Ausstellung
Josef Schützenhöfer
BM Brandstetter, Josef Schützenhöfer – Bilder von Arbeitern der Steyr Daimler Puch AG und der Fa Semperit
Brandstetter fordert Erinnerungskultur der Justiz SEBASTIAN FELLNER
20. Jänner 2016, 12:02 91 POSTINGS
Noch in den 1960ern versahen einstige NSDAP-Mitglieder Dienst als Richter und Staatsanwälte
Wien – Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) bescheinigt der österreichischen Justiz eine mangelhafte Auseinandersetzung in der Vergangenheit mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus. Aus der Außensicht als Strafrechtsprofessor konnte er in den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren keine Vergangenheitsbewältigung beobachten, sagte der Minister bei einer Diskussionsveranstaltung zur Rolle der Justiz vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus am Bezirksgericht Meidling am Montagabend.
Bedrohter Rechtsstaat
Umso mehr lobte Justizminister Brandstetter aktuelle Bemühungen, die Rolle von NSDAP-treuen Richtern und Staatsanwälten auch in der Zweiten Republik aufzuarbeiten. „Gerade in Zeiten von Bedrohungsszenarien für den Rechtsstaat in Europa brauchen wir ein öffentliches Bekenntnis zu unseren Werten und besondere Sensibilität für das, was wir aus der Geschichte lernen müssen“, sagte er. Zu lernen gibt es viel. Denn die Entnazifizierung des österreichischen Justizapparats nach 1945 ist in teilweise haarsträubendem Ausmaß gescheitert, wie die Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal in ihrem Vortrag schildert. Aus dem staatlichen Dienst zu entlassen seien nach dem Verbotsgesetz von 1945 die sogenannten „Illegalen“ gewesen – also jene Nationalsozialisten, die bereits während der Zeit des Austrofaschismus der NSDAP angehörten.
Gescheiterte Entnazifizierung
1945 und 1946 wurde fast die Hälfte der Belegschaft aufgrund des neuen Verbotsgesetzes aus der Justizverwaltung entfernt. Dennoch war 1946 im Sprengel des Landesgerichts Wien ein Drittel der Richter ehemalige Nationalsozialisten. Weil aber bald Personalmangel herrschte, wurden andere, ebenfalls belastete Richter und Staatsanwälte wieder eingestellt. „Schon drei Jahre nach Ende des NS-Regimes waren somit die Anfangserfolge der Entnazifizierung weitgehend wieder rückgängig gemacht“, sagte Reiter-Zatloukal. Nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 herrschte lange Zeit eine „Schlussstrich“-Mentalität, stellte die Rechtshistorikerin fest. Erst in den 1960er-Jahren flammte die Debatte wieder auf.
Die Nazis unter uns
Unter dem Titel Die Richter sind unter uns enthüllte der spätere STANDARD-Gründer Oscar Bronner die Nazi-Vergangenheit aktiver Richter in Österreich. Die Replik von Justizminister Christian Broda (SPÖ) trug den Titel: „Die Republik hat den Schlussstrich gezogen. Was 1945 recht war, muss 1965 billig sein.“ Der Justizminister lehnte jeglichen weiteren Schritt zur Entnazifizierung der österreichischen Justiz ab, alle betroffenen Personen blieben bis zur Pension im Amt. Brandstetter sieht in der gescheiterten Entnazifizierung auch die Wirkung eines psychologischen Phänomens – vieles wolle man eben nicht wahrhaben. Ein Porträt Otto Tschadeks – SPÖ-Justizminister in den 1950er-Jahren – hängt nach wie vor im Justizministerium, obwohl seine Vergangenheit als Militärrichter im NS-Regime mittlerweile aufgearbeitet ist, erklärt Brandstetter. Das Bild wurde aber mit einer Zusatztafel ausgestattet, die auf die Vergangenheit des Ministers hinweist.
(Sebastian Fellner, 20.1.2016)
Die Diskussion fand im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zum Republiksjubiläum am Bezirksgericht Meidling statt. Die Ausstellung des Künstlers Josef Schützenhöfer, „Schützenhöfer vor Gericht“, ist dort noch bis 30. Mai zu sehen.
Ist es gerecht, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin Supermarktangestellte wegen eines verdorbenen Krapfens belangen, nicht aber Konzernverantwortliche, die systematisch verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Warum das Strafrecht eine Umorientierung braucht.
Von Oliver Scheiber (Die Presse)
Ein Mann um die dreißig, ohne Arbeit, befindet sich in der Parkgarage eines Wiener Lebensmittelmarkts. Dort steht ein Flaschenrückgabeautomat, in den der Mann hineinkriecht – die Öffnung ist schmal, doch dem Mann kommt hier seine Magerkeit nach jahrelanger Drogenabhängigkeit zu Hilfe. Das Vorhaben, ein paar Leerflaschen herauszuholen, scheitert. Der Mann wird von Ladendetektiven erwischt.
Ein paar Wochen später schildern die Detektive den Vorfall vor einem Wiener Bezirksgericht. Sie müssen schmunzeln. Irgendwie sei es schon schräg gewesen, wie der Mann da mit blutenden Armen am Flaschenband gelegen sei. Er habe sich an den zahlreichen Scherben Arme und Beine zerschnitten. Die Detektive hatten den Mann in ihrem Dienstzimmer über eine Videokamera beobachten können.
Der gescheiterte Flaschendieb heißt im Gerichtssaal Angeklagter. Die Staatsanwaltschaft legt ihm versuchten Diebstahl zur Last. Der potentielle Schaden wurde auf rund 5 Euro geschätzt, anhand der Flaschen, die sich in Reichweite des Mannes neben dem Flaschenband befanden.
Der Mann ist, wie Juristen es ausdrücken, umfassend geständig. Seine Mutter, in deren Wohnung er lebte, habe ihn an diesem Tag vor die Tür gesetzt. Er habe nicht gewusst wohin und auch kein Geld für Essen gehabt. Wäre das mit den Flaschen gelungen, dann hätte er sich im Markt mit dem Leergutbon eine Leberkässemmel und ein Bier gekauft. Er sei verzweifelt und hungrig gewesen, mehr könne er dazu nicht sagen. Es tue ihm leid.
Die Umstände dieses Falles sind markant, an sich ist es aber ein klassisches Beispiel einer Strafverhandlung, wie man sie täglich bei Wiener Bezirksgerichten verfolgen kann. In Westösterreich ist man großzügiger, da legen die Staatsanwälte die Anzeigen zu solchen Vorfällen oft zurück. In und um Wien wird von Gesetzesbestimmungen, die mit „Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat“ oder „Entwendung“ überschrieben sind, kaum Gebrauch gemacht. Anders als bei prominenten Wirtschaftsverfahren gibt es keine Besprechungen hochrangiger Justizbeamter über die Richtigkeit der Anklage. Und so kommen jedes Jahr hunderte Fälle vor Gericht, in denen jemand ein Bier oder einen Nagellack stehlen wollte. Hat der Angeklagte Vorstrafen, so kann er für den gescheiterten Bierdiebstahl für einige Monate ins Gefängnis gehen. Gibt man diesen Angeklagten die Gelegenheit über ihr Leben zu sprechen, so bekommt man ähnliche Biographien zu hören: oft ging der Tat ein Todesfall in der Familie voraus, der Verlust des Partners oder eines Kindes, manchmal eine Trennung, und oft sind die Angeklagten seit längerem depressiv oder in psychiatrischer Behandlung. Als Erfahrungswert lässt sich sagen: ungefähr ein Drittel der Angeklagten, die wegen eines Ladendiebstahls oder vergleichbaren Delikts der Kleinkriminalität vor dem Bezirksrichter stehen, zeigen Symptome einer schweren psychischen Erkrankung.
Diebstahl ist strafbar, seit Jahrhunderten und in allen Teilen der Welt. Aber hat der Staat das Recht und die Aufgabe, bei Bagatelldiebstählen das Unglück dieser Menschen mit Gefängnisstrafen zu vergrößern? Was ist denn die Aufgabe des Strafrechts, und wie ist es um den Unrechtsgehalt von Taten wie jener des Leerflaschendiebs bestellt?
Das Strafrecht,so antwortet wikipedia auf die entsprechende google-Suche, ziele vor allem auf den Schutz bestimmterRechtsgüterwie beispielsweiseLebenundEigentumsowie Sicherheit und Integrität desStaatesund elementarer Werte des Gemeinschaftslebens ab. Das Strafrecht sanktioniert also die schwersten Verstöße gegen das gesellschaftliche Zusammenleben. Strafgesetzbücher sind in der Regel überschaubar, die vorherrschenden Delikte in Gesetz und Verhandlungssaal sind in den meisten Staaten dieselben: Mord, Raub, Sexualverbrechen, Einbrüche, Drogendelikte, Diebstähle. Die Vielzahl anderer Gesetzesverletzungen wird als nicht so dramatisch verstanden, als dass die Strafgerichte einschreiten müssten. Wer falsch parkt, wer ohne Fahrschein die U-Bahn benutzt, wer den Müll im Park ausleert oder als Wirt die Sperrstunde überzieht, kommt nicht vor den Strafrichter, sondern erhält eine Verwaltungsstrafe.
Die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns ist ein Prinzip des modernen Rechtsstaats, der Gleichheitssatz ein anderes. Gleiche Sachverhalte sollen gleich behandelt werden. Misst man das Strafrecht an diesen Maximen, dann stellt sich – nicht nur für Österreich, sondern global – die Frage: behandelt das Strafrecht alle gleich, handeln die Staaten verhältnismäßig? Schärfer formuliert: ist das Strafrecht in der Aufklärung angekommen? Ist das Strafrecht konsequent beim Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen?
Die einfache Antwort lautet: nein. Je größer und breiter die Gefährdung von Gesundheit und Menschenleben ist, umso schwächer ist der strafrechtliche Schutz. Und das liegt nicht so sehr an den Strafgesetzen, als vielmehr an der Strafrechtspraxis. Weltweit lässt sich beobachten, dass Polizei und Staatsanwaltschaft mit der Verfolgung der schwerwiegendsten Kriminalität überfordert sind – es fehlt gleichermaßen an Kompetenz wie an Mut. Man verfolgt weiter das bereits seit Jahrhunderten Verfolgte. Den Zweck des Strafrechts verfehlt man immer deutlicher.
Anschauliche Beispiele dafür gibt es sonder Zahl. In Kampanien, in der Gegend von Neapel und Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmülldeponien angelegt.Haus- wie Sondermüll wurde und wird dort ungesichert ausgeschüttet. Sind die Deponien voll, werden sie mit Erde beschüttet und dienen als Gemüseplantagen. Die Region hat heute die höchste Unfruchtbarkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfälle. Die Zahl der Tumorerkrankungen hat sich allein zwischen 2008 und 2012 mehr als verdreifacht. Ärzte sprechen von einer regelrechten Epidemie von Schilddrüsenkrebs. Die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern steigt ungebremst an, die Lebenserwartung der Menschen der Region sinkt. Der Chef des Nationalen Krebsforschungsinstituts in Neapel, Giuseppe Comella, stellte vor einiger Zeit fest, es sei eindeutig, dass die Sterblichkeitsrate der Bevölkerung in der Nähe von Müllhalden und Orten, wo heimlich Abfälle vergraben werden, höher ist. Ein Onkologe aus der Region, Antonio Marfella, berichtet, dass genau jene Krebsarten zunähmen, die auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind.
Das Müllproblem Kampaniens ist ein europäisches – bereits 1997 sagte der Mafiaaussteiger Carmine Schiavone in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Rom aus, dass die Camorra in Süditalien Giftmüll aus ganz Europa lagere. Schiavone nannte die Namen der beteiligten Transportfirmen, er führte die Ermittler zu den illegalen Müllhalden und erzählte von Lastwagen, die aus Deutschland radioaktive Abfälle in Bleikisten angeliefert hätten. Schiavone erläuterte, wie sein Clan Anfang der Neunzigerjahre mit dem illegalen Müllgeschäft monatlich mindestens 700.000 Euro verdiente und damit Bürgermeister und Polizeibeamte schmierte.
Ernsthafte strafrechtliche Maßnahmen gab es in den 17 Jahren seit Schiavones Aussagen nicht. Und so verwundert es wenig, dass vor einem Jahr in Kampanien sichergestelltes Gemüse Kadmium, Arsen und Blei in einer Konzentration aufwies, die den erlaubten Höchstwert um das 500-Fache überschritt. Und auch die Unternehmer, die wissentlich verseuchte Lebensmittel vertreiben, ihre Herkunft verschleiern, sie falsch deklarieren, haben nur in den seltensten Fällen mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen. Die Gefängnisse der Welt sind voll mit Einbrechern, Dieben und kleinen Drogenhändlern; diejenigen, die Gesundheit und Leben einer Vielzahl von Menschen durch vergiftete Lebensmittel, durch illegale Rodungen oder Flussverschmutzungen gefährden oder die Kinder arbeiten lassen, sucht man in Haftanstalten vergeblich.
An den Müllverbrechen Kampaniens sind viele beteiligt, vor Ort, aber auch unter den Müllexporteuren in mehreren europäischen Staaten. Sie wissen, dass letztendlich zehn-, wenn nicht hunderttausende Menschen an den Folgen dieser Umweltverbrechen sterben werden, und sie haben dennoch wenig zu befürchten. Und das ist beileibe kein italienisches Phänomen. Im westlichen Ungarn brach am 4. Oktober 2010 ein Deponiebecken der Aluminiumhütte MAL AG. Eine meterhohe ätzende Giftschlammflut wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben darin, 200 wurden verletzt. 350 Häuser wurden zerstört, der Schlamm verseuchte Flüsse und den Boden auf einem Gebiet in der Größe von 40 Quadratkilometern.
Fünf Jahre nach der Katastrophe sind die Strafverfahren nicht abgeschlossen: Die Katastrophe hätte nicht vorausgesehen werden können und sei nicht auf menschliches Versagen zurückzuführen, hieß es zuletzt von Seiten der Gerichte. Für Sanierungsarbeiten hat die Regierung 40 Milliarden Forint (130 Millionen Euro) öffentlicher Gelder ausgegeben.
Oder Japan: dort sind nach neueren Expertenschätzungen als direkte Folge der Atomkatastrophe von Fukushima vom März 2011 zwischen 40.000 und 80.000 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten, außerdem bis zu 37.000 Krebserkrankungen durch strahlenbelastete Nahrungsmittel. Allein in der Region Fukushima wurden bisher bei mehr als 55.000 Kindern Schilddrüsenzysten festgestellt, die als Vorstufe von Tumorerkrankungen gelten. Der Reaktorunfall in Fukushima wurde zudem erst nach einem Monat von der japanischen Regierung auf die Katastrophenstufe sieben gestellt, also als schwerer Unfall qualifiziert. Genauso lange hatte es im Jahr 1986 gedauert, bis der Atomunfall von Tschernobyl ebenfalls als Katastrophe der Stufe 7 eingeordnet wurde. Regelmäßig wird die Bevölkerung bei solchen Störfällen zu spät gewarnt, und es gibt weder Konsequenzen für die Verursacher der Katastrophen noch für die Behördenvertreter, die Informationen zurückhalten. Und da es keine Konsequenzen gibt, bleibt das Muster immer gleich. Auch der jüngste Kärntner Fall von HCB-kontaminierter Milch folgt dem bekannten Schema. Als Greenpeace die Giftbelastung der Milch im Dezember 2014 öffentlich macht, weisen Behörden und Politik zunächst jede Verantwortung zurück. Stück für Stück wird bekannt, dass die Gefahren des Brückler-Baukalks seit 2004 im Umweltbundesamt dokumentiert sind. 2011 erging ein Entsorgungsauftrag zur Verwertung des giftstoffbelasteten Restmülls. Bereits im März 2014 wussten die Behörden von Milchproben, bei denen die HCB-Belastung deutlich über den Grenzwerten lag. Der für Lebensmittelsicherheit zuständige Behördenleiter meint nun, dass das Amtsgeheimnis eine Warnung der Bevölkerung verhindert hätte. Was für eine absurde Rechtsauslegung. Der Sachverhalt ist angezeigt.
Die Liste der Umwelt- und Lebensmittelskandale ließe sich fortsetzen. Das Strafrecht kommt seiner Aufgabe, die Gesellschaft vor schweren Verletzungen von Eigentumsrechten und vor Gefahren für Leib und Leben zu schützen, immer weniger nach. Weltweit übt sich die Strafrechtspraxis in der Verfolgung von Kleinkriminalität, stecken Polizei und Justiz den Großteil ihrer Ressourcen in die Untersuchung von Delikten, die sich von vornherein durch einen geringen Unrechtsgehalt und geringes Gefahrenpotenzial auszeichnen. Umwelt- und Lebensmittelkriminalität bedrohen weltweit das Leben von Millionen Menschen und haben kaum ein Risiko einer strafrechtlichen Ahndung. Ähnliches gilt für viele Bereiche der Finanz- und Wirtschaftskriminalität, die manchmal Kommunen oder Länder in ihrer Existenz bedrohen bzw. auf einen Schlag eine Vielzahl von Anlegern um ihr Vermögen bringt. Oft verlieren auf einen Schlag tausende Menschen durch kriminelle Machenschaften ihre jahrzehntelang angesparten Pensionen. Es ist oftmals beschrieben worden, dass die Politik die Kontrolle über das internationale Finanzkapital verloren hat. Global agierenden Konzernen gelingt es, trotz hoher Gewinne durch ausgeklügelte Konzernstrukturen und geschickte Standortwahl die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Und genau so schaffen es manche Unternehmen, in einem weitgehend strafrechtsfreien Feld nach Belieben zu agieren.
Eine Ursache des Dilemmas liegt darin begründet, dass das Strafrecht zumeist an den Tatort im Inland anknüpft. Ein europäischer Konzern, der sich irgendwo in der Welt der Kinderarbeit bedient oder die Umwelt vergiftet, wird deshalb in Europa nicht strafrechtlich verfolgt. Das ist nicht zeitgemäß: wirtschaftliches Handeln kennt keine Grenzen, nur die Strafverfolgung lässt sich noch durch Grenzen behindern. Schwere Vergehen europäischer Staatsbürger und Unternehmen sollten in Europa genau so verfolgt werden als ob die Tat in der Heimat begangen worden wäre. Bei politischen Verbrechen ist diese Systemumstellung bereits vor einiger Zeit geglückt: Diktatoren und Völkermörder werden heute weltweit für ihre Verbrechen belangt, sie können sich nirgendwo in der Welt sicher fühlen.
Und auch die Konsumenten tragen ihren Teil zur verfahrenen Situation bei, sehen sie doch über Unrecht hinweg, wenn es nur weit genug von zu Hause ausgeübt wird. Kaum jemand würde in Wien ein T-Shirt kaufen, das durch Kinderarbeit in Österreich entstand; liegt der Produktionsort im fernen Asien, so sinkt das Unrechtsempfinden im Ausmaß der Entfernung. Wenn ein Produzent einen heimischen Fluss mit Abwässern verseucht, wird er am österreichischen Markt recht bald Absatz- und Imageprobleme bekommen; anders, wenn die Flussverschmutzung an einer ausländischen Produktionsstätte stattfindet. Und Giftmüll wird ja nur deshalb aus Zentraleuropa nach Süditalien verschafft, weil die Lagerung in Ländern wie Deutschland auf den Widerstand der Bevölkerung stößt.
Die Strafrechtspraxis erklärt fehlende Erfolge bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität oft mit der Komplexität der Materie, und verweist bei der Umwelt- und Lebensmittelkriminalität auf den schwer zu belegenden Zusammenhang zwischen Schadstoffausstoß und Erkrankung. Die Argumentation hat einen wahren Kern, ist aber vor allem eine Schutzbehauptung. Es geht nämlich um den Ressourceneinsatz. Würde man ähnlich viele Personen und Geldmittel im Kampf gegen Finanz- und Umweltkriminalität einsetzen wie im Kampf gegen Ladendiebe, dann würden sich schnell ähnliche Ermittlungserfolge und Verurteilungsraten einstellen.
Das Strafrecht mit seinen vielen archaischen Elementen bedarf einer völligen Umorientierung. Wir müssen uns fragen: ist es gerecht und effizient, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin Angestellte von Supermärkten belangen, wenn ein verdorbener Krapfen verkauft wurde, aber Konzernverantwortliche ungeschoren lassen, die systematisch verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Es ist richtig, die Ahndung der Kleinkriminalität hat Modernisierungen wie den Täter-Opfer-Ausgleich oder die Alternative der gemeinnützigen Arbeit erfahren. Seiner Aufgabe, die schwersten Störungen des gesellschaftlichen Friedens zu sanktionieren, kommt das Strafrecht nur völlig unzureichend nach. Wir sollten zumindest die Unverhältnismäßigkeit und Unzulänglichkeit des Systems im Hinterkopf haben, wenn wir die Armen und Kranken durch die Strafjustiz schleusen.
Die aktuelle Politik wird vorherrschend mit Begriffen wie Stillstand und Lähmung beschrieben. Das stimmt für viele Bereiche; für die Justizpolitik des abgelaufenen Jahres trifft es nicht zu. Wolfgang Brandstetter amtiert nunmehr seit rund zwei Jahren als Justizminister. Mit der Ankündigung von Reformen hat er sich im ersten Jahr seiner Ministerschaft die Latte hochgelegt.
Im Jahr 2015 hat sich Brandstetter gute Rahmenbedingungen für künftige Reformen geschaffen. Vieles ist noch nicht nach außen sichtbar, sollte sich aber bald positiv bemerkbar machen. Die zentrale Sektion des Justizministeriums, die Präsidialsektion, hat erstmals seit Jahren wieder einen intellektuellen Leiter mit Ideen und Visionen (Michael Schwanda), der an Vorgänger wie den legendären Sektionschef Otto Oberhammer anschließt. Die Strafvollzugsdirektion wurde aufgelöst. Die Strafvollzugsleitung ist nun (wieder) ins Ministerium integriert, die Entscheidungen sind näher am Minister. Beide Änderungen sind Teil einer Neuorganisation des Ministeriums. Unter dem Strich wurden Schlüsselpositionen mit vordenkenden, liberalen Kräften besetzt; Themen wie Aus- und Fortbildung und Qualitätssicherung sind intern gestärkt. Wie jede Reorganisation war auch diese von Unruhe begleitet; die Chancen, dass die Reorganisation einen Innovationsschub bringen wird, stehen dennoch gut. Bedenkt man, dass die Möglichkeiten eines Ministers generell überschätzt, die Beharrungskraft des Apparats unterschätzt wird, dann ist dem Minister hier tatsächlich ein Kraftakt gelungen.
Aber auch nach außen sind Reformen sichtbar. Im Zivilrechtsbereich wurde das Erbrecht modernisiert, im Strafbereich konnte die angestrebte Reform zum 40. Geburtstag des Strafgesetzbuches beschlossen werden.
Mit großem Engagement und Beharren widmet sich Brandstetter Bereichen, in denen es tagespolitisch nichts zu gewinnen gibt: vor allem dem Strafvollzug und der Jugendgerichtsbarkeit. Die österreichische Gefängnisverwaltung blickt auf viele Jahre der Stagnation zurück. Die Justizwache gewann immer mehr Einfluss, während die Sozialarbeit hinausgedrängt wurde und die Gefängnisse mehr und mehr Aufgaben des Gesundheitssystems übernahmen. Die Zahl der psychisch schwer kranken Gefängnisinsassen hat sich alleine in den letzten zehn Jahren vervierfacht. 2015 wurde neben der Straffung der Organisation auch mit dem (baulichen) Ausbau der medizinisch orientierten Kapazitäten des so genannten Maßnahmenvollzugs für psychisch kranke Menschen begonnen.
Im Jugendstrafrecht tritt 2016 der größte Reformschritt der letzten 25 Jahre in Kraft. Sowohl Untersuchungshaft als auch Strafhaft sollen dadurch bei Jugendlichen weiter zurückgedrängt werden. Bereits 2015 konnten hier Erfolge erzielt werden. Im Strafverfahren selbst wird künftig das Umfeld der jugendlichen Straftäter einbezogen. In Sozialnetzkonferenzen erarbeiten jugendliche Verdächtige gemeinsam mit Verwandten, Schule, Arbeitgeber, Jugendamt und Staatsanwaltschaft Zukunftsperspektiven. Das erfolgreiche Modell der Wiener Jugendgerichtshilfe wurde zu diesem Zweck im Laufe des Jahres 2015 auf ganz Österreich ausgebreitet. Schwierigkeiten wie der islamistischen Radikalisierung in der Haft begegnet der Minister nicht mit Populismus, sondern mit der Umsetzung von Expertenkonzepten.
Die österreichischen Gerichtsgebühren gehören zu den höchsten in Europa, der Zugang zum Recht wird so für viele erschwert. 2015 wurden nun erstmals wieder Gerichtsgebühren gesenkt, im Familienrecht entfallen einige Gebühren überhaupt. Gleichzeitig forciert die Justiz den Ausbau von Servicecentern bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften. Besonders geschulte Mitarbeiter stehen dort den nicht durch AnwältInnen vertretenen BürgerInnen mit Informationen zur Seite, Abläufe werden vereinfacht.
Brandstetter kommt von der Universität, er intensiviert den Austausch der Justiz mit der Wissenschaft. Ein besonderer Schwerpunkt liegt derzeit bei zeitgeschichtlichen Projekten. Den als Zeitzeugen bekannt gewordenen, bereits schwer erkrankten Friedrich Zawrel, der als Kind von den Nationalsozialisten am Spiegelgrund gefoltert wurde, hat Brandstetter noch im Justizministerium empfangen; Zawrel verstarb im vergangenen Februar. Werner Vogt, der Zawrel aus den Fängen des NS-Arztes und späteren Gerichtssachverständigen Heinrich Gross sprichwörtlich befreit hat, erhielt im November das Goldene Verdienstzeichen der Republik aus den Händen des Justizministers. Einer der größten Sündenfälle der Nachkriegsjustiz hat so zumindest eine angemessene Aufarbeitung und Berichtigung erfahren.
Ebenso wichtig: Brandstetter denkt europäisch und international und tritt in Brüssel initiativ auf. Mit dem Vorschlag für ein gemeinsames Europäisches Asylrecht und seinem Einsatz für die Erhaltung der Reisefreiheit hat der Minister europäische Haltung in schwierigen Zeiten demonstriert. Zur UN-Menschenrechtsprüfung ließ sich Brandstetter vom österreichischen Topexperten und früheren UN-Sonderbotschafter Manfred Nowak begleiten – nicht nur taktisch ein kluger Zug, sondern auch ein wichtiges Signal nach innen. Generell etabliert der Minister nach innen eine Diskussionskultur, die vermittelt: Initiative wird belohnt, kritisches Denken ist kein Karrierehindernis; dies schlägt sich in einer insgesamt gelungenen, vorausblickenden Personalpolitik nieder.
Die im abgelaufenen Jahr im Parlament beschlossenen neuen Justizgesetze stellen auch dem Justizausschuss des Parlaments ein gutes Zeugnis aus. Dort dominiert Sacharbeit, auch die Abgeordneten der Opposition verzichten auf Polemik und arbeiten aktiv an der Verbesserung der zu behandelnden Gesetzesvorschläge mit.
Über diese positive Bilanz sollen Defizite nicht vergessen werden. Die sich seit Jahren dahinschleppenden großen Wirtschaftsstrafverfahren sind eine Achillesferse der Justiz, und viele Reformen verlieren sich nach wie vor in den Mühlen der Bürokratie. Der Strafvollzug hat derart viele Probleme, dass jede Reform auf viele Jahre gedacht werden muss. Einige zugesagte Verbesserungen, wie die dringend nötige Verlängerung der Gerichtspraxis für junge Juristinnen und Juristen (sie dauert nur mehr fünf statt früher neun Monaten) lassen weiter auf sich warten. Und trotzdem: Brandstetter hat die Justizpolitik nach den verlorenen Jahren unter seinen beiden Vorgängerinnen wieder in Gang gesetzt und frischen Wind gebracht. Gute Aussichten für 2016.
Der Autor gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Dass die frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Irmgard Griss zur Bundespräsidentschaftswahl antritt, ist mutig und respektabel. Sich einem Wahlkampf und der breiten Öffentlichkeit auszusetzen birgt viele Risiken. Es tut der doch recht erstarrten Politlandschaft gut, wenn sich ab und zu QuereinsteigerInnen finden, die zur Übernahme politischer Ämter bereit sind. Und es wäre auch höchste Zeit für eine Frau an der Spitze der Republik.
Die vielfach herbeigesehnte Erneuerung wird von Griss freilich nicht kommen, das zeigen die ersten Botschaften der Kandidatin. Die Skepsis gegenüber der parlamentarischen Untersuchung des Hypo-Ausschusses, die zwischen den Zeilen durchklingende Distanzierung von der Politik ganz allgemein – all das ist keine gute Grundlage für Innovation. Die Berufung auf Ehrlichkeit, Wahrheit und Werte vereint alle Politeinsteiger der letzten Jahre. Konkrete Konzepte zur Umsetzung der Werte bleiben meist aus: welche Steuerpolitik ist damit verbunden, wie sollen einkommensschwache Menschen besser unterstützt werden, wie der aufkommende Rechtsextremismus gestoppt werden?
Eine Erneuerung der Politik muss anders aussehen; sie braucht zunächst ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Politischen und zur Politik. In die Politik einzusteigen und sich gleichzeitig von ihr zu distanzieren ist unschlüssig.
Die Nähe zu den Bürgerinnen und Bürger, die die meisten Politeinsteiger für sich in Anspruch nehmen, ist zuletzt immer ein Schlagwort geblieben. Selten fordern PolitikerInnen die Stärkung der Volksvertretung. Nicht Phrasen und Volksbegehren, sondern eine Stärkung des Parlaments dient den Interessen der Bevölkerung. Ein mit qualifizierten Rechtsdiensten und MitarbeiterInnen ausgestattetes Parlament kann die Gesetzesvorschläge der Regierung genau prüfen und verhindern, dass Regierungsvorlagen mangels Ressourcen durchgewunken werden.
Die Nähe zur Bevölkerung müsste wohl auch die (räumliche) Rückkehr der Politik zu den Bürgerinnen und Bürgern bedeuten. Wahlkampferöffnungen und Parteiveranstaltungen finden seit Jahren in Museen, Designcentern oder klassischen Bobo-Locations statt. Die Entfremdung der Bevölkerung von den PolitikerInnen ist nur die logische Folge. Selten suchen Politikerinnen und Politiker, NeueinsteigerInnen insbesondere, die Menschen an den Arbeitsplätzen auf. Selten gehen sie zu den Studierenden in die Universitäten, geschweige denn zu verunsicherten Bewohnerinnen und Bewohnern in den Grenzorten, die sich schwer tun, Flüchtlinge einzuschätzen. Selten nimmt sich jemand der Schwierigkeiten der vielen Menschen, die in prekären Arbeitssituationen stecken, an. Das betrifft ArbeiterInnen genau so wie kleine Angestellte, junge AkademikerInnen und kleine Selbstständige. Zu Recht spüren die Wählerinnen und Wähler, dass sich die Politik oft mehr um Banken und Banker sorgt als um die breiten Bevölkerungskreise.
Bisher sprechen fast ausschließlich die Rechtsextremisten und Rechtspopulisten in ihrer destruktiven Weise die Sorgen und Ängste der Menschen an. Die politische Mitte und die Linke verabsäumen es, mit Leidenschaft um Solidarität und Ausgleich in der Gesellschaft zu kämpfen. Deshalb wird auch die aus sicherer Entfernung von der Bevölkerung verkündete Videobotschaft von Irmgard Griss nichts ändern.