Erklärung zur Benennung einer Wiener Schule nach Friedrich Zawrel

Vergangene Woche wurde die Mittelschule in der Hörnesgasse im 3. Wiener

Gemeindebezirk
nach Friedrich Zawrel benannt. Friedrich Zawrel ist 2015


verstorben.
Er war Überlebender des NS-Euthanasieverbrechens „Am


Spiegelgrund“.
Sein Leben wird durch ein falsches und


menschenverachtend
formuliertes Gutachten von Heinrich Gross geprägt,
den er später als ehemaligen
Arzt in der NS-Tötungsklinik überführte. Friedrich Zawrel


wurde an
seinem Lebensabend zu einem der gefragtesten Zeitzeugen


Österreichs.
Unzählige Schulklassen konnte er für die Gefahren


autoritärer
Systeme sensibilisieren. Im Nachlass von Friedrich Zawrel


fanden
sich rund 1000 persönliche Briefe von Jugendlichen, die sich bei


Friedrich
Zawrel für Vorträge bedankten.


Für all
diese Schülerinnen und Schüler und viele andere Menschen ist


die
Benennung der Schule in der Hörnesgasse ein Tag der Freude und der


Erinnerung
an einen außergewöhnlichen Menschen. Nicht so für die


Wiener
FPÖ. Die FPÖ wollte die Schulbenennung nach Friedrich Zawrel


verhindern
und argumentierte mit Gerichtsurteilen, die teilweise vor


1945
getroffen wurden. Nun, in der Woche der Feierlichkeit, nennt der


Klubobmann
der Erdberger FPÖ, Werner Grebner, in einer Presseaussendung


Friedrich
Zawrel einen Verbrecher und führt längst getilgte Strafen


an. Aus
diesen Vorstrafen hat Friedrich Zawrel freilich nie einen Hehl


gemacht.
Zawrel trägt die größten Orden der Republik, er ist am


Ehrenhain
der NS-Justizopfer bestattet. Der Justizminister sprach bei


seinem
Begräbnis und entschuldigte sich für das Fehlverhalten der


Nachkriegsjustiz.
Zawrel hat nicht nur den NS-Arzt Heinrich Gross


überführt
und vor zehntausenden Schülern über die Greuel der NS-Zeit


referiert,
er hat auch seinen Fall offen und ehrlich geschildert.

Die
Beleidigungen gegen Friedrich Zawrel würden, lebte dieser noch,


wohl
einen strafrechtlichen Tatbestand (§ 113 StGB) erfüllen. Die


Vorgangsweise
der FPÖ, diese Beleidigungen nach dem Ableben Zawrels


öffentlich
zu verbreiten, halten wir für niederträchtig und feig. Sie


beleidigen
nicht nur das Andenken an Friedrich Zawrel, sondern auch


dessen
viele Freundinnen und Freunde, insbesondere unter der Jugend.


Wir
prüfen daher rechtliche Schritte.


Mag. Sandra Feichtinger, Psychologin

Dr. Winfried R. Garscha, Historiker

Mag. Nikolaus Habjan, Regisseur, Schauspieler

Dr. Veronika Hofinger, Kriminalsoziologin

Univ.-Prof. Dr. Mira Kadric-Scheiber

Dr. Florian Klenk, Journalist

Dr. Claudia Kuretsidis-Haider, Historikerin

Mag. Elisabeth Scharang, Filmemacherin, Journalistin

Dr. Oliver Scheiber, Jurist

Dr. Werner Vogt, Arzt, Publizist

Dr. Peter Zawrel, Kunstmanager

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Finissage der Ausstellung Schützenhöfer vor Gericht am Bezirksgericht Meidling: Europa!

Am
30.5.2016 fand die Finissage zur Ausstellung Schützenhöfer vor Gericht am Bezirksgericht Meidling statt. Die
Ausstellung der Bilder des Malers Josef Schützenhöfer war seit Oktober 2015 am
Bezirksgericht Meidling geöffnet und durchgehend öffentlich zugänglich. Im
Rahmen der Ausstellung fanden mehrere Themenabende statt. Der Abschlussabend
war Gedanken über Europa gewidmet. Dazu waren der Publizist Ari Rath und die
deutsche Schriftstellerin Jagoda Marinić zu Gast.
Ari Rath
ist in Wien aufgewachsen und als 13-Jähriger im Jahr 1938 mit einem
Kindertransport nach Palästina geflüchtet. Dort war er eines der
Gründungsmitglieder des Kibbuz Hamadia, in dem er 16 Jahre lebte. Ari Rath
studierte Zeitgeschichte und Volkswirtschaft, er gehörte dann zum engen Kreis
um David Ben Gurion. Ari Rath war insgesamt 31 Jahre lang für die Jerusalem
Post tätig, u.a. in der Funktion des Chefredakteurs und Herausgebers. Er wirkte
maßgeblich an der Aussöhnung Israels mit Ägypten mit und setzte sich
jahrzehntelang für ein friedliches Zusammenleben mit der palästinensischen
Bevölkerungsgruppe ein. Seit seinem Ausscheiden aus der Zeitung, 1989, ist er
als freier Publizist tätig. Er wirkt seit 2013 bei der Burgtheaterproduktion Die letzten Zeugen mit. Ari Rath ist
Träger zahlreicher Auszeichnungen der Republik Österreich und Deutschlands.
Seine Lebenserinnerungen hat er im Buch Ari
heißt Löwe
festgehalten.
In seinem
Vortrag am Bezirksgericht Meidling spannte Ari Rath den Bogen von den
deutsch-französischen Kämpfen bei Verdun im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart.
Er mahnte nachdrücklich vor einem Wiederaufleben autoritärer Bewegungen und
sieht das starke Abschneiden des FPÖ-Bundespräsidentschaftskandidaten als
Mahnung, sich verstärkt für Demokratie und Rechtsstaat einzusetzen. Es gelte,
rassistischen Strömungen mit aller Kraft entgegen zu treten.
Jagoda
Marinić hat an der Universität Heidelberg Germanistik, Politikwissenschaft und
Anglistik studiert. Sie ist als Schriftstellerin und Kolumnistin (taz) tätig.
Nach dem Erstling Eigentlich ein
Heiratsantrag
(2001) wurde ihr Erzählband Russische Bücher (2005) mit dem Grimmelshausen-Förderpreis
ausgezeichnet. Der Roman Die Namenlose
wurde vom „Spiegel“ zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 2007
gezählt. 2013 erschien der Roman Restaurant
Dalmatia
, 2016 der Essayband Made in
Germany
, der sich u.a. mit den Themen Zuwanderung und Flucht befasst. Seit
2012 ist Jagoda Marinić als Leiterin des Interkulturellen Zentrums in
Heidelberg tätig. Das Zentrum ist beim Ausländeramt der Stadt Heidelberg
angesiedelt und versucht bewusst, eine Willkommenskultur für alle Zuwanderinnen
und Zuwanderer nach Heidelberg aufzubauen. Das Zentrum fungiert als Ort des
Dialogs, wird demnächst ein neues Gebäude erhalten und organisiert zahlreiche
Kulturveranstaltungen. Das Interkulturelle Zentrum Heidelberg hat als
Modellprojekt im Integrationsbereich in den letzten Monaten sehr viel
Aufmerksamkeit in ganz Deutschland gefunden.
In ihrem
Vortrag am Bezirksgericht Meidling befasste sich Jagoda Marinić mit
verschiedenen aktuellen Aspekten der europäischen Entwicklung, wobei sie
besonders auf die Situation in Österreich und den letzten Präsidentschaftswahlkampf
Bezug nahm. Sie warf die Frage auf, wie viele Städte Europas tatsächlich europäische Städte sind und wie viele
sich nur als Städte in Europa
definieren. Zur oft zitierten Wertedebatte stellte sie die Frage in den Raum, welche
Legitimität Europa anlässlich seiner Kolonialgeschichte bei diesen
Fragestellungen habe. Am Beispiel Frankreichs wies sie auf das Paradoxon hin,
dass man von nach Frankreich zugewanderten Algeriern Werte einfordere, die
Frankreich bei seiner Besetzung Algeriens laufend verletzt hatte.
Rund 40
Besucherinnen und Besucher waren zum Abschlussabend dieser Veranstaltungsreihe
gekommen und beteiligten sich an der Publikumsdiskussion mit den beiden
Vortragenden. Josef Schützenhöfer bot, wie schon bei den vorangehenden Abendveranstaltungen,
den Besucherinnen und Besuchern im Anschluss an die Vorträge eine Führung durch
seine Werkschau an.
Mit
diesem Abend endet auch die Ausstellung der Werke Josef Schützenhöfers am
Bezirksgericht Meidling. Die Erstellung eines Ausstellungskatalogs, der auch
die Begleitveranstaltungen dokumentieren soll, ist geplant.
Das
Bezirksgericht Meidling dankt den vielen Besucherinnen und Besuchern der
Ausstellung und der Veranstaltungen der letzten Monate!

alle Fotos: Thomas Wittmann

Walter Famler, Josef Schützenhöfer, Oliver Scheiber, Jagoda Marinic, Ari Rath, Mira Kadric-Scheiber

Jagoda Marinic und Ari Rath
_____________________ 
Begrüßungsworte zur Finisagge und zum Abend zum Thema Europa
(Oliver Scheiber)
Sehr geehrte Damen und Herren!
Als Vorsteher des Bezirksgerichts
Meidling begrüße ich Sie sehr herzlich zur heutigen Veranstaltung und darf
Ihnen für Ihr Interesse danken. Mit dem heutigen Abend endet ja eine
Veranstaltungsserie des BG Meidling, die vor acht Monaten aus Anlass des
Jubiläums der Zweiten Republik eingeleitet wurde: 70 Jahre Befreiung, 60 Jahre
Staatsvertrag, 20 jahre Österreich in der Europäischen Union.
Dieser Veranstaltungsserie lagen
drei Hauptgedanken zu Grunde:
  1. Die
    Justiz hat ihre Abschottung von der Gesellschaft beendet und sucht nun den
    Austausch mit der Zivilgesellschaft. So haben am Bezirksgericht Meidling vor
    einiger Zeit eine Theateraufführung des Reinhardt-Seminars und eine
    Veranstaltung mit dem Richter des deutschen Ausschwitz-Prozesses, Heinz
    Düx, stattgefunden. Die Öffnung der Justiz findet aber auch durch den
    regelmäßigen Austausch mit Schulen und ähnliche Projekte statt. Auch wenn
    vieles gelungen ist, so hat die Justiz noch einen weiten Weg vor sich: eine
    der Hauptherausforderungen der nächsten jahre wird es sein, zu einer
    einfacheren Sprache zu finden und in der schriftlichen wie mündlichen
    Kommunikation allgemein verständlich zu formulieren.
  1. Das
    Republiksjubiläum ist Gelegenheit, sich der Verpflichtungen zu erinnern,
    die sich für die Justiz aus der jüngeren Geschichte Österreichs ergeben.
    Aufgabe der Justiz ist nicht nur die Abwicklung der vielen einzelnen
    Rechtsstreitigkeiten, sondern die Bewahrung des Rechtsfriedens und der
    rechtsstaatlichen Prinzipien im Größeren. Die Justiz ist gefordert, sich
    mit ihrer Rolle in und nach dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen
    und ihren Beitrag zur Abwehr autoritärer Strömungen zu leisten. Die einzelnen
    Veranstaltungen dieser Themenserie knüpfen an die Befreiung Österreichs
    vom Nationalsozialismus an.
  1. Ein
    zentraler Veränderungsprozess der Gegenwart ist die Europäisierung des
    Rechts. Die Rechtsharmonisierung in Europa ist wohl global der spannendste
    juristische Prozess der Gegenwart. Dies ist Anlass, im Jahr 2015 und 2016
    über 20 Jahre Österreich in der Europäischen Union nachzudenken.
Die Gedanken der
Öffnung, des Lernens aus der Geschichte und der Internationalisierung laufen im
Werk des Malers Josef Schützenhöfer zusammen. Josef Schützenhöfer ist in der
Steiermark geboren, er hat viele Jahre in den USA gelebt und ist nun auch schon
wieder längere Zeit in der Steiermark wohnhaft. Er hat sich in seiner Kunst mit
vielen Erscheinungen seiner Wohnumgebung auseinandergesetzt. Unter anderem hat
er die Biographien von russischen und amerikanischen Befreiungssoldaten
recherchiert und Überlebende amerikanische Soldaten des 2. Weltkriegs vor
wenigen Jahren wieder nach Österreich eingeladen. Josef Schützenhöfers Ausstellung
war das starke Herz dieser Veranstaltungsserie am Bezirksgericht Meidling,
Josef Schützenhöfer hat die Begleitveranstaltungen mitkonzipiert und
mitgestaltet und ich bin ihm sehr sehr verbunden für seine Gedanken und seine
Leidenschaft bei der Umsetzung der gemeinsamen Ideen.
Die Umsetzung des
Projekts wäre ohne den Leiter des Literaturquartiers Alte Schmiede, Walter
Famler, nicht möglich gewesen. Nur Dank seiner Unterstützung war die
Organisation mehrerer Abende zu den Themen Befreiung, Richterkarrieren, Polizei
und Europa möglich.
Mein Dank gilt aber
auch den weiteren UnterstützerInnen dieses Projekts: der Forschungsstelle
Nachkriegsjustiz, dem Nationalfonds der Republik Österreich, dem Zukunftsfonds
der Republik Österreich und dem Mauthausen Komitee Österreich. Besonders
bedanken möchte ich mich beim Bundesministerium für Justiz für die finanzielle
und organisatorische Unterstützung und persönlich bei Herrn Justizminister
Brandstetter, der die meisten der Veranstaltungen selbst besucht und in
vielfältiger Weise unterstützt hat.
Mein Dank gilt
natürlich auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gerichts, die die
Organisation unterstützt haben.
Beim Konzipieren dieser
Veranstaltungsserie habe ich, wie das ja immer so ist, wenn man die anderen und
sich selbst nicht langweilen will, einen kritischen Zugang zu verschiedenen
Themen im Auge gehabt. Gleichzeitig scheint es mir in den letzten Jahren zunehmend
wichtig, sich auch in solchen öffentlichen Foren die Stärken und Chancen
unseres Gesellschafts- und Staatsmodells in Erinnerung zu rufen. Es ist in Mode
gekommen, europäische und nationale Institutionen schlecht zu reden, nicht
zuletzt wohl mit dem Hintergedanken, sie so dauerhaft beschädigen, zu schwächen
und ihre Abschaffung zur Diskussion stellen zu können. Die Zukunft liegt im
umgekehrten Vorgehen: zentrale Pfeiler von Demokratie und Rechtsstaat müssen
gestärkt werden, etwa durch eine umfassende Transparenz in Staat und Verwaltung,
oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, durch eine Aufwertung der nationalen Parlamente
durch mehr Ressourcen und mehr Expertinnen u Experten, sodass die Gesetze im
Parlament nicht nur beschlossen, sondern auch tatsächlich ausgearbeitet oder
zumindest kompetent diskutiert werden können. Im Kleinen versuchen wir etwa
hier an diesem Gericht unsere Hilfestellungen für Bürgerinnen und Bürger zu
verbessern: letztes Jahr konnten wir im Eingangsbereich ein Servicecenter
eröffnen, in dem auch eine türkischsprachige Mitarbeiterin tätig ist.
Im Sinne dieser Gedanken
 ist der Ausgang der jüngsten
Bundespräsidentschaftswahlen eine Ermunterung. Auch unter ungünstigen
Rahmenbedingungen hat sich ein aufgeklärtes Weltbild gegen ein
rechtspopulistisches Modell durchgesetzt, das vor allem vom Aufhetzen
verschiedener Bevölkerungsgruppen gegeneinander und vom Schlechtreden demokratischer
Einrichtungen und der europäischen Idee lebt. Es ist meines Erachtens die
Verpflichtung aller staatlichen Stellen, für den offenen, antidiskrimierenden
Geist, den die Verfassung formuliert, Hand in Hand mit zivilgesellschaftlichen
Initiativen einzutreten und eine noch viel bürger- und menschenfreundlichere
Verwaltung aufzubauen.

Vom Beginn dieser
Veranstaltungsreihe an war klar, dass der letzte Abend dem Thema Europa
gewidmet sein soll. Nun hat sich in diesem letzten Jahr so viel getan, und das
Erscheinungsbild Europas ist widersprüchlicher denn je. Jagoda Marinic hat vor
kurzem den Satz geschrieben: „Es ist das traurigste Europa, seit es Europa
gibt.“ Das mag stimmen; und dennoch bleibt die europäische Idee nach meinem
Dafürhalten die einzige Chance zu Frieden und einem möglichst guten Leben für
möglichst viele Menschen auf diesem Kontinent.
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Lösungen statt Hetze und Polarisierung

Kommentar der Anderen für den Standard – Printversion vom 18.5.2016

Wenn Funktionsträger nicht mehr miteinander reden und den Respekt voreinander verlieren, dann brechen politisches System und sozialer Friede in kürzester Zeit zusammen. Plädoyer für einen konstruktiven Umgang miteinander

Am Sonntag
wählt Österreich das Staatsoberhaupt. Die bisherige Apathie der traditionellen
politischen Kräfte lässt es möglich erscheinen, dass ein Nationalist und Gegner
des europäischen Einigungsprojekts in die Hofburg einzieht. Norbert Hofer hat
im Wahlkampf kein Hehl aus seinen Plänen gemacht: er operiert mit Drohungen
gegen die Regierung, er lehnt Abtreibungen radikal ab, stellt den Ausgleich mit
Italien über Südtirol in Frage und setzt auf Abschottung und Isolierung. Er
trägt bei feierlichen Anlässen die Kornblume, das Erkennungszeichen der
illegalen Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren. Kurz gesagt: Hofer sucht
die Konfrontation, stellt das politische System in Frage und schlägt den
Wählerinnen und Wählern einen Weg à la Ungarn und Polen vor.
Stillstand,
Verkrustung, personelle Verengung und Versteinerung im Land führen zu einer
Ohnmacht, die Norbert Hofer das Stimmensammeln erleichtert. Die Zukunftsängste
vieler Menschen sind nicht nur nachvollziehbar, sie sind berechtigt. Der von
Hofer in Aussicht gestellte Sturz des politischen Systems ist freilich eine gefährliche
Rezeptur. An der Konfliktscheu in unserem Land, der Fähigkeit, viel zuzudecken
und sich immer durchzuschwindeln, kann man schon verzweifeln. Aber wollen wir
darüber wirklich vergessen, welchen Wert der gewaltfreie Austausch von
Positionen hat?
Die
Tradition, Konflikte im Gespräch auszutragen, Foren wie die Sozialpartnerschaft
einzurichten, hat 70 Jahre Frieden und lange Zeit einen wachsenden Wohlstand
gebracht. Die Öffnung zu Europa und starke Zuwanderung haben Wien von einer
verschlafenen Stadt der 1970er-Jahre zu einem der spannendsten Ballungsräume
Europas gemacht. Das ist durchaus eine Erfolgsgeschichte: und ihr zentrales
Element ist der Respekt zwischen Menschen unterschiedlicher Haltung und ein
Grundvertrauen zwischen den Inhabern öffentlicher Ämter. Die Demokratie besteht
nur, wenn die maßgeblichen politischen Kräfte laufend aufeinander zu- und
eingehen; ohne diesen mühsamen Prozess gibt es keinen gesellschaftlichen
Frieden. Deshalb sind die rechtspopulistischen Kräfte mit ihren einfachen
Botschaften und der Ausgrenzung von Minderheiten und Andersdenkenden im demokratischen
System nicht regierungsfähig. Die Politik der europäischen Rechten, für die
Hofer, Le Pen, Wilders oder Petry stehen, führt, wenn ihre Protagonisten an die
Macht kommen, zwangsläufig zu Nationalismus, inneren Unruhen und Gewalt. Sie
hat nur Verlierer.
Letzte
Woche berichteten polnische Juristen in Wien über das vergiftete Klima in ihrem
Land: die Regierung anerkennt Gerichtsentscheidungen nicht, das
Verfassungsgericht stichelt gegen die Regierung. Der fehlende Respekt setzt
eine Eskalationsschraube in Gang, vor der die beste Verfassung keinen Schutz
gewährt. Diskussionen, wie sie in den letzten Wochen über die Kompetenzen des
Bundespräsidenten geführt wurden, helfen in Zeiten eines vergifteten Klimas
nichts mehr. Wenn Funktionsträger einander nicht respektieren und das Gespräch
verlieren, dann brechen politisches System und gesellschaftlicher Friede in
kürzester Zeit zusammen und der Weg zu gewalttätigen Auseinandersetzungen ist
vorgezeichnet – im Inneren wie im Äußeren. Österreichs Politik hat damit
Erfahrungen im Kleinen: Jörg Haiders Ignorieren der Ortstafel-Erkenntnisse des
Verfassungsgerichtshofes war genau so gefährlich wie jüngste Sticheleien
einzelner Politiker gegen Italien. Das eine wurde durch die konsensuale
Ortstafellösung eingefangen, gegenüber Italien wurde in den letzten Tagen
heftig zurückgerudert.
Österreich
hat im Grund viel Grund zur Zuversicht: unsere Probleme sind lösbar, das Land
hat sich eine solide Basis aufgebaut – die in den letzten 40 Jahren
zugewanderten Menschen haben daran maßgeblichen Anteil. Das Land verfügt über
mehr Initiativen von unten und eine stärkere Zivilgesellschaft denn je; sie
bilden den Schlüssel zu einer Aufbruchsstimmung, zu der nur ein kleiner Schritt
fehlt. Lässt sich wirklich kein Konsens dazu finden, die Wirtschaft durch
öffentliche Investitionen zu beleben, es Unternehmern und neuen Selbstständigen
leichter zu machen und den Konsum durch Lohnerhöhungen anzukurbeln? Integration
durch ein großzügiges Staatsbürgerschaftsrecht zu erleichtern? Wenn wir die
vielen Menschen im Prekariat da herausholen, Engagement auf allen Feldern
fördern und belohnen, den Sozialstaat als Rückgrat von Wohlstand und Frieden stärken, die großen Konzerne  angemessen besteuern, wäre das nicht eine
Weiterführung des Erfolgsrezepts der unmittelbaren Nachkriegszeit
? All
diese Schritte können heute parallel auf nationaler und europäischer Ebene
versucht werden; es ist längst Zeit, dass sich die vielen Initiativen in
Italien, Deutschland, Österreich und anderen Ländern zusammenschließen und sich
als gesamteuropäische Parteien und Bewegungen den Glauben an eine gute Zukunft
für alle zurückerobern. Allerdings: Wir haben dafür wenig Zeit.
Unabhängig
vom aktuellen Wahlgang wird der Weg aus der vielfach resignativen Stimmung nicht
mittels Polarisierung und Hetze gelingen. Wenn wir es schaffen, Dinge klar zu benennen,
Ängste und Befürchtungen der anderen ernst zu nehmen und gleichzeitig ein
respektvolles, ruhiges Diskussionsklima herzustellen, in dem man sich wieder
mit dem politischen Gegner an einen Tisch setzt, dann werden auch Lösungen
gelingen. Nicht ohne klare Grenzen: für autoritäre, rassistische und
verhetzende Ideen kann es keinen Platz geben; das gebieten Verfassung und
Erfahrungen aus der Geschichte. Aktuell hindert uns aber eine allseitige
permanente Aufregung an jedem Dialog.

Oliver Scheiber ist Richter in Wien, dieser Text spiegelt seine persönliche Meinung wider.

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Dankesrede von Nikolaus Habjan anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Swoboda-Preises 2016

Der Schauspieler und Regisseur Nikolaus Habjan hat heute im Justizpalast in Wien in Anwesenheit von Justizminister Brandstetter den Wolfgang-Swoboda-Preis für Menschlichkeit im Strafverfahren erhalten. Der Preis wird von der Vereinigung der Österreichischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte verliehen. Im Folgenden die Dankesrede von Nikolaus Habjan im vollen Wortlaut (Quelle: https://www.facebook.com/nikolaus.habjan/posts/10205940856657165)

„Ich freue mich sehr, hier zu sein.
Es wäre auch für Friedrich Zawrel eine besonders große Freude gewesen, hier vor Ihnen zu stehen. Sein Leben wurde durch Verbrechen des Nationalsozialismus nachhaltig beschädigt. Er ließ sich aber von den Gräueltaten nicht brechen und predigte mir und allen Jugendlichen, denen er sein Leben erzählte, immer wieder den einen Satz: „Wehret den Anfängen, so etwas darf nie wieder passieren.“
Der Fall von Friedrich Zawrel ist beispielhaft für Tausende Schicksale. Es ist eine Justiz-Republiksgeschichte. Schmerzlich mussten wir lernen, dass 1945 nicht die Stunde Null war, sondern dass die Opfer weiterhin respektlos in das Eck der Verbrecher gestellt wurden.
Statt Resozialisierung betrieb man Entsozialisierung. Jahrzehnte nach dem Krieg tat sich die Justiz schwer, Lager- und Heiminsassen als Menschen vor dem Gesetz zu sehen.
Auch heute ist es in Österreich noch immer möglich, sich der NS-Sprache ungestraft zu bedienen:

Unter dem Titel „Mauthausen-Befreite als Massenmörder“ erschien vergangenen Sommer in der Zeitschrift Aula, ein Artikel von Manfred Duswald, der die Überlebenden des KZ in Oberösterreich pauschal als „Landplage“ und „Kriminelle“ darstellt. Darin heißt es:
„Raubend und plündernd, mordend und schändend plagten die Kriminellen das unter der ‚Befreiung‘ leidende Land. Eine Horde von 3.000 Befreiten wählte den Weg ins Waldviertel im Nordwesten von Niederösterreich und wetteiferte dort mit den sowjetischen ‚Befreiern‘ in der Begehung schwerster Verbrechen.“

Zur Erklärung: Bis 1945 befanden sich in Mauthausen 200.000 politische Gefangene, Homosexuelle, Kriegsgefangene und auch sogenannte „Asoziale“. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde ermordet, viele starben bei der brutalen Zwangsarbeit in den Steinbrüchen.
Das von der Staatsanwaltschaft Graz aufgenommene Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Auf Antrag des Autors, Manfred Duswald, wurde seitens der Staatsanwaltschaft Graz die Einstellung des Verfahrens so begründet:
„Es ist nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte“. Weiteres heißt es,da sich (unbestritten) unter den Inhaftierten Rechtsbrecher befanden.“
Anstatt sich mit der NS-Sprache historisch zu beschäftigen, schlug die zuständige Grazer Staatsanwältin Landplage im „Duden“ nach. Die Rechtschreibung stand ja nicht zur Diskussion. Nach Aussagen der Sprachwissenschafterin Ruth Wodak geht die Etymologie des Gebrauchs von ‚Landplage‘ bis zu Martin Luther zurück und ist auch in der NS-Sprache
verankert.

Auch das Comité International de Mauthausen (CIM) als Dachverband von derzeit 21 nationalen Organisationen von Überlebenden des KZ Mauthausen und deren Angehörigen verwehrte sich auf das Heftigste gegen die vollkommen aus der Luft gegriffene Pauschalierung der Staatsanwaltschaft Graz und spricht von einer Verhöhnung der Überlebenden.
Nicht immer geschehen diese Dinge aus böser Absicht heraus, manchmal auch aus simpler Hirnlosigkeit, fehlender Empathie oder mangelnder Bildung. Es ist absolut überfällig, endlich Verständnis für die Opfer aufzubringen und nicht nur Verständnis für die Täter. Respekt für die Lebensumstände der Opfer. Verständnis dafür, dass einige unter den herrschenden Umständen der Zeit – wie Friedrich Zawrel- gezwungen waren, kriminell zu werden.
Und kein Verständnis aufzubringen für Menschen die solch menschenverachtenden Begründungen schreiben oder für ‚unbedenklich‘ empfinden.

Noch ist das NS-Verbotsgesetz ein Grundpfeiler unserer Rechtsordnung und muss es auch bleiben.
Friedrich Zawrel hat als Zeitzeuge zur Aufarbeitung der Verbrechen „Am Spiegelgrund“ ganz wesentlich beigetragen. Er hat unzählige Male vor Schülerinnen und Schülern über seine Erlebnisse und Erfahrungen – über sein Leben erzählt. Es war ihm wichtig, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Naziverbrechen der Jugend vermittelt wird, damit diese Geschichte keine Wiederholung erfährt.
Im August stellten die ÖVP, SPÖ und die Grünen den Antrag, die Neue Mittelschule in der Hörnesgasse im 3.Bezirk nach Friedrich Zawrel zu benennen. Er selbst hatte diese Schule einige Monate lang besucht.
Alfred Strasser, der Vorsitzende der FPÖ des 3.Bezirks sprach sich gegen die Umbenennung der Schule aus und meinte, Friedrich Zawrel sei ein mehrfach vorbestrafter Krimineller…”und kein Vorbild für die Jugend. Er argumentierte auch mit Gerichtsurteilen, die vor 1945 gefällt wurden, und die alle bereits getilgt waren.
Am 7. Juni wird diese Schule in einer Feierstunde dieses großen Mannes gedenken und diesmal habe ich die Ehre, den Kindern von Friedrich Zawrel zu erzählen.

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Preis aufgrund dieser skandalösen Einstellungsbegründung durch die Staatsanwaltschaft Graz ablehnen soll.
Graz zeigt uns leider, dass für manche Mitarbeiter der Justiz Rechtssprechung nur aus Duden und Gesetz besteht, aber es gibt einige Menschen, die stark dagegenhalten und die ich mit meiner Arbeit als Künstler unterstützen und stärken will
Der Kommentar von Oliver Scheiber im Standard vom 23.2.2016, in dem er von einem schweren Rückschlag der Justiz spricht, aber auch von einer neuen Generation von Richtern und Staatsanwälten rund um Justizminister Brandstetter, die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht anstreben, hat mich das noch einmal stark überdenken lassen.

Oliver Scheiber ist es zu verdanken, dass Friedrich Zawrel, Jahrzehnte als Verbrecher abgestempelt, Vortragender der Justiz geworden ist, im Rahmen eines Ausbildungsmodul und von über 120 angehenden Staatsanwälten und Richtern gehört wurde.
Darum nehme ich diesen Preis mit Freuden an, und danke denjenigen, die sich trotz solcher Skandale in Graz nicht entmutigen lassen sich weiter für einen menschenwürdigen und respektvollen Umgang mit Menschen vor Gericht einzusetzen. Vielen Dank!“
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Der Justizapparat hat Geschichte gelernt

Langfassung eines Kommentars, der in der Printausgabe des Standard vom 24.2.2016 erschienen ist

Der Fall „Aula“ wirft die Frage auf, was die
Justiz aus der NS-Zeit gelernt hat. Später als andere Institutionen hat sie
sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die jüngsten Vorkommnisse sind aber
ein Rückschlag
Die heftige Kritik an der
Justiz, die Werner Winterstein und Ruth Wodak im Standard geübt haben, ist
nicht nur nachvollziehbar, sie ist wichtig und sie wird in die Aus- und
Fortbildungsveranstaltungen der Justiz einfließen. Ungeachtet der Enttäuschung
über den Anlassfall ist festzustellen, dass allein die Annahme solcher Kritik der
Justiz vor zwanzig Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Ich selbst hatte im
Jahr 1993 während der Ausbildung die anwaltliche Vertretung eines psychisch
kranken jungen Mannes in einem Strafverfahren zu führen. Die Anklage lautete
auf schwere Sachbeschädigung. In der Hauptverhandlung am Wiener
Straflandesgericht trat der Arzt Heinrich Gross als Sachverständiger auf. Bei
seiner Befragung und seinem mündlichen Gutachten in der Hauptverhandlung
verwendete Gross, für jeden Laien erkennbar, die Sprache der
Nationalsozialisten. Seine Schlussfolgerungen waren frei von jeder
medizinisch-sachlichen Würdigung. Begriffe wie „sozialschädlich“, „Parasit“, „biologisch
determiniert“, „sozial unsanierbar“ schwirrten durch den Raum. Die
Sozialschädlichkeit des Angeklagten machte Gross unter anderem daran fest, dass
der Bursche am Weg zum Tatort keine Schnellbahnfahrkarte gelöst hatte.
Die Geschichte des Heinrich
Gross war damals schon bekannt. Gross hatte im Nationalsozialismus am
vielfachen Mord an Kindern am Spiegelgrund in Wien mitgewirkt. Den von ihm getöteten
Kindern entnahm er die Gehirne und baute auf dieser Gehirnsammlung seine
Karriere in der Nachkriegsmedizin und Nachkriegsjustiz auf. Er wurde Mitglied
von BSA und SPÖ, erhielt ein Boltzmann-Institut, das Goldene Verdienstzeichen
der Republik, wurde meistbeschäftigter Gerichtspsychiater des Landes und
brachte in den 1970er-Jahren Friedrich Zawrel mittels eines böswilligen Tricks für
Jahre ins Gefängnis. Denselben Zawrel hatte der NS-Arzt Gross als Kind unter
den Nazis gefoltert.
Trotz Kenntnis der Vorgeschichte
des Gross war ich nach der Verhandlung am Straflandesgericht fassungslos
darüber, dass hier einer agierte, als wäre die Zeit im Jahr 1944 stehengeblieben.
Standard-Herausgeber Oscar Bronner hatte bereits in den 1960er-Jahren in einer
viel beachteten publizistischen Auseinandersetzung mit dem damaligen
Justizminister Broda darauf hingewiesen, dass allzu viele ehemals hochrangige
NS-Richter noch im Justizdienst stünden. Selbst ein Amtsvorgänger Brodas, Justizminister
Tschadek, hatte eine Karriere als gefürchteter NS-Richter hinter sich.
Nach der Strafverteidigung am
Straflandesgericht überlegte ich eine Disziplinaranzeige gegen Gross und die seinem
Treiben tatenlos zusehenden Richter. Nach einer Erörterung mit Freunden und
erfahreneren Kollegen war klar, dass solche Schritte für Gross ungefährlich
wären, aber das Ende meiner Justizkarriere bedeuten würden. Gross war in der
Justiz – noch – sakrosankt.
Ich habe mich entschieden, in
der Justiz zu bleiben und jene zu unterstützen, die auf einen Wandel drängten.
Bis heute bin ich überzeugt, dass machtvolle Apparate des Staates wie Polizei
und Justiz nicht den Ewiggestrigen und Unsensiblen überlassen werden dürfen.
Dass es neben der Kritik von außen die Möglichkeit und Notwendigkeit der
Veränderung von innen gibt. Dass es beider Flanken bedarf, um rechtsextremes
Gedankengut aus den Dienststellen der Republik zu vertreiben.
Der Arzt und Publizist Werner
Vogt hatte den Fall Gross bereits Ende der 1970er-Jahre publik gemacht und
Friedrich Zawrel gleichsam aus dem Gefängnis befreit. Für Gross wandte sich das
Blatt erst 1997, als der damalige Justizminister Michalek eine Mordanklage
gegen Gross anordnete.
Österreichs Umgang mit dem
Nationalsozialismus hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert. Später
als andere Institutionen hat sich die Justiz der notwendigen Auseinandersetzung
mit dem Thema gestellt. Vor etwa zehn Jahren entstand innerhalb der
Richterschaft eine Fachgruppe für Menschenrechte. Die Justizminister Michalek,
Berger und Brandstetter organisierten Symposien und Seminare unter dem Titel
„Justiz und Zeitgeschichte“. Friedrich Zawrel habe ich vor rund fünfzehn Jahren
als Vortragenden für die Justiz gewonnen; er hat diese Funktion bis zu seinem
Tod ausgeübt. Vor bald zehn Jahren konnte ich, dank der Unterstützung einer
neuen Generation von Beamten im Justizministerium, mit den Historikern Claudia
Kuretsidis-Haider und Winfried Garscha ein zeitgeschichtliches Ausbildungsmodul
entwerfen. Etwa 120 angehende Richter und Staatsanwälte haben seither daran teilgenommen,
die Gedenkstätten in Mauthausen und Am Spiegelgrund besucht, mit Friedrich Zawrel
und Werner Vogt diskutiert. Bei diesen Lehrgängen fließen nicht selten Tränen; die
Seminare haben, so hoffe ich, nicht nur die Teilnehmenden, sondern die Justiz
als solche verändert und beeinflusst. Das Modell findet mittlerweile auch im
Ausland Interesse. Europaweit gibt es in der Justizausbildung bisher nämlich kaum
eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Faschismus.
Justizminister Brandstetter
hat seit seinem Amtsantritt all diese Initiativen unterstützt, Veranstaltungen
und geschichtliche Forschung forciert und Maßnahmen zur Sensibilisierung des
Justizpersonals gesetzt. Es geht schließlich darum, sich nicht nur der
Geschichte bewusst zu sein, sondern die Lehren aus früheren Verbrechen zu ziehen
und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht und in Haftanstalten zu entwickeln.
In seiner Stellungnahme zum
AULA-Verfahren in Graz bezeichnete der zuständige Sektionschef im Justizministerium,
Christian Pilnacek, die Einstellungsbegründung als „grobe Fehlleistung“ und
sprach von einer „unsäglichen Diktion.“ Die Begründung sei „unfassbar und in
sich menschenverachtend.“
Eine solch
klare, öffentliche Schelte ist für die Justiz ein Novum.
Der Fall Aula zeigt, dass die
vielfältigen Bemühungen des Ausbildungssystems der Justiz noch lange nicht am Ziel
sind. Wenn sich ein ähnlicher Fall in zehn Jahren wiederholen sollte, dann wird
die verbale Replik des Justizministeriums hoffentlich von der lauten Entrüstung
einer breiten Kollegenschaft und raschen Klarstellungen der Berufsvertretung begleitet
sein. Im besten Fall ist bis dahin eine Behördenkultur entstanden, in der auch
die unteren Behördenvertreter sich nach Fehlleistungen bei Opfern und
Öffentlichkeit entschuldigen.
Vor ziemlich genau einem Jahr,
am 20.2.2015, ist der große Friedrich Zawrel verstorben. Justizminister
Brandstetter hat Zawrel bei der Trauerfeier gewürdigt. Dem Justizkritiker
Werner Vogt hat Brandstetter im September 2015 das Goldene Verdienstzeichen der
Republik überreicht. Die Aufführung des Nestroy-Preis-gekrönten Theaterstücks
von Nikolaus Habjan über die Lebenswege von Zawrel und Gross im
Justizministerium hatte Zawrel gerade noch erlebt.
Der Justizapparat hat während
der letzten beiden Jahrzehnte einen Quantensprung zum Positiven hin erfahren. Die
Vorgänge in Graz sind ein Rückschlag und zeichnen ein Bild der
Widersprüchlichkeit, wie es der Zweiten Republik insgesamt noch immer zu eigen
ist.

Dr. Oliver Scheiber ist Richter in Wien. Dieser Text
gibt seine persönliche Ansicht wieder.
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