Erscheint am 5.3.2019: Sozialdemokratie – letzter Aufruf!

Übermorgen Dienstag erscheint mein Buch „Sozialdemokratie: letzter Aufruf!“ Das profil bringt in seiner heute erscheinenden Ausgaben einen Vorabdruck.
Etwa seit dem Jahreswechsel habe ich das Gefühl, dass die politische Entwicklung in Österreich so unangenehm verläuft, dass jede/r, der/die kann, aktiv werden sollte. So ist der nun vorliegende kurze Band entstanden. Die aktuelle Regierung hat unverkennbar autoritäre Züge und betreibt eine Entsolidarisierung der Gesellschaft. Das bräuchte dringend eine kraftvolle, geeinte Opposition als Gegengewicht. Die schon sehr lange währende Schwäche der Sozialdemokratie ist in dieser politischen Konstellation fatal; sie bedeutet, dass Demokratie und Rechtsstaat ernsthaft in Gefahr kommen. Was tun? Jedenfalls: etwas tun! Ich habe aufgeschrieben, was mich zum Teil schon lange beschäftigt hat. Das Ergebnis ist ein Aufruf an das gesamte linke Lager (und in erster Linie naturgemäß an die SPÖ), sich völlig neu aufzustellen und gemeinsam Demokratie, Grundrechte und Sozialstaat zu verteidigen. Ich weiß, dass ich mir leichter tue als viele, weil ich keiner Partei angehöre und keine eigene politische Ambition habe; dennoch will ich möglichst viele Menschen in und außerhalb der Parteien ermuntern, aktiver zu werden und sich der autoritären Entwicklung entgegenzustellen. Es wird schwierig, aber es kann gehen.
Die Chance EU-Wahl ist mit der Zersplitterung des linken Lagers bereits weitgehend vertan. Die kommende Wahl in Wien braucht eine ganz andere, eine solide, konzentrierte, lange Vorbereitung. Es lohnt sich, gemeinsam für ein weltoffenes, soziales und solidarisches Wien zu kämpfen. Die vielen kritischen, munteren Köpfe in der Sozialdemokratie dürfen sich nicht länger vertrösten lassen – sie müssen das Bündnis mit allen solidarisch und humanistisch Gesinnten bilden und eigene Themen setzen.
Das aktuelle profil 10/2019 mit dem Vorabdruck ist bereits als Papierausgabe und online erhältlich: https://aboshop.vgn.at/…/einzel-und-sonder…/digitalausgaben/ Ich danke dem profil und Edith Meinhart für das frühe Angebot des Vorabdrucks.
Das Buch „Sozialdemokratie: letzter Aufruf!“ ist ab Dienstag in Wien erhältlich:

Im 1. Bezirk:
Buchhandlung „Der Buchfreund“, 1010 Wien, Sonnenfelsgasse 4 (fünf Min. vom Stephansplatz, www.buch-schaden.at)

Im 7. Bezirk:
Buchhandlung Posch, Lerchenfelder Str. 91-93, 1070 Wien, https://poschbuchhandlung.at/buchhandlung-posch.html

Infos zum Versand des Buches unter aufruf@gmx.at.


Buchpräsentation am Sonntag, 17. März 2019, um 11.00 Uhr, in der Roten Bar des Volkstheaters in Wien
http://www.volkstheater.at/stueck/sozialdemokratie-l

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Die Hüter der Grundrechte – Text für DIE ZEIT 3/2019

Die Hüter der Grundrechte

Der Verfassungsgerichtshof muss wegen der Politik der Regierung immer öfter als Kontrollorgan eingreifen. Wird er nun demnächst an die Leine gelegt?


Ein Gastbeitrag von Oliver Scheiber



Der nächste brisante Fall für den Verfassungsgerichtshof nimmt bereits Gestalt an. Nach den Plänen der Regierung sollen bei der Reform der Mindestsicherung vorzeitig aus der Haft entlassene Straftäter, die zu mehr als sechs Monaten Gefängnis verurteilt waren, bis zum regulären Strafende keine Mindestsicherung mehr erhalten. Kommt es zu solch einem Beschluss im Parlament, dann wird die Regelung wohl vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) landen, weil sie im Konflikt mit dem Gleichheitsgrundsatz stehen dürfte. Es wäre dies ein weiteres Puzzlestück in einer Serie jüngster Reformen, die rasch vor dem Höchstgericht landeten.


Zuletzt hat der Gerichtshof
mehrere Regierungsprojekte als verfassungswidrig qualifiziert und aufgehoben.
Damit wird die Rolle des Verfassungsgerichts in der politischen Arena
prominenter und auch die Frage der Richterbesetzungen erhält Brisanz.

Nach Jahrzehnten des Ausbaus der Grundrechtsordnung
erlebt Österreich seit einigen Jahren durchaus im europäischen Trend eine Phase
des Rückbaus von Menschenrechten und eine Infragestellung rechtsstaatlicher
Errungenschaften. 

Der rechtsstaatliche Motor stottert seit Jahren. Die
repressive Seite des Staates tritt stärker hervor und bedeutet eine Schwächung
der Bürgerrechte. Man denke nur an die vielen Überwachungsmaßnahmen.
Angetrieben wird diese Schwächung des Grundrechtssystems und der
Rechtsstaatlichkeit einerseits vom autoritär orientierten Rechtspopulismus,
andererseits – und schon länger – von einer repressiven Polizei- und
Strafrechtspolitik in Folge der islamistischen Terroranschläge seit 9/11. In
Österreich hat dieser Prozess durch die populistische Instrumentalisierung der
Fluchtbewegung ab 2015 an Dynamik gewonnen. Seither werden die in der Genfer
Flüchtlingskonvention und Menschenrechtskonvention gewährten Menschenrechte
offen in Frage gestellt. Im Fremdenrecht überschreitet der Staat immer häufiger
rote Linien der Menschenrechte, bei Sozialleistungen werden schwache
Personengruppen wie Fremde, aber auch Haftentlassene diskriminiert.

Viele dieser Entwicklungen haben sich seit einigen
Jahren abgezeichnet. Die Regierung Kurz bzw. einzelne Landesregierungen, an
denen die FPÖ beteiligt ist, scheut vor selbstbewusst vorgetragenen
Grenzüberschreitungen in Verfassungsfragen nicht zurück.
Nun ist es nicht so, dass der Gesetzgeber, das
Parlament, völlig frei agieren kann. Die österreichische Verfassung sieht
vielmehr, ähnlich anderen demokratischen Rechtsstaaten, ein System der checks and balances vor. Gesetzgebung,
Verwaltung und Gerichtsbarkeit kontrollieren einander wechselseitig, keine
Institution verfügt über uneingeschränkte Macht. Die Kontrolle der Gesetzgebung
ist in erster Linie Sache des Verfassungsgerichtshofs. Er überprüft die
Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Seit Antritt der Regierung Kurz hat der
Gerichtshof bereits mehrere Gesetzesprojekte oder neue Verwaltungspraktiken,
wie zuletzt den Entzug österreichischer Staatsbürgerschaften, aufgehoben oder
gestoppt.

Sehen wir uns die Chronologie im Detail an. Im österreichischen
politischen System hat die jeweilige Regierung eine starke Rolle. Sie ist es in
der Regel, die dem Parlament Gesetzesvorschläge übermittelt und diese dort
mittels ihrer Parlamentsmehrheit und eines strikt gehandhabten Klubzwangs mehr
oder weniger durchwinkt. Das Selbstbewusstsein der Mandatare ist nicht
übermäßig ausgeprägt; die ÖVP-Fraktion stimmte binnen kurzer Zeit zuerst für
ein strenges Rauchverbot in der Gastronomie, nach dem Regierungswechsel
dagegen.  Die Regierung Kurz hat die
Diskussion über einige Regierungsvorschläge de facto ausgehebelt, indem sie die
Gesetzesentwürfe nur binnen ganz kurzer Fristen begutachten lässt. Zudem hat
der ehemals renommierte Verfassungsdienst der Regierung durch seine
Verschiebung vom Bundeskanzleramt ins Justizministerium an Einfluss verloren. Er
war bisher eine angesehene Stimme in Verfassungsfragen, nunmehr spielt er kaum
mehr eine Rolle in der politischen Willensbildung. All dies erleichtert die
rasche Beschlussfassung von Gesetzen, die im Spannungsfeld zu Verfassung und
Grundrechten stehen. Die Verwaltung ist zur Umsetzung der einmal beschlossenen
Gesetze verpflichtet. Die Neigung, Bedenken gegen eine politische erwünschte
Vorgangsweise zu äußern, ist in einer von Obrigkeitshörigkeit gekennzeichneten heimischen
Verwaltung wenig ausgeprägt.

Der Verfassungsgerichtshof ist bei der Bewahrung der
Verfassung und zentraler Grundrechte wie des Gleichheitssatzes oder des fairen
Verfahrens nicht ganz allein. In der BVT-Affäre konnte das Kabinett des
Innenministers seine Vorstellungen polizeiintern und bei Staatsanwaltschaft und
Erstgericht schnell durchsetzen, auf der Ebene des Oberlandesgerichts wurde die
Dynamik des Systems Kickl jedoch gestoppt. Die durchgeführten
Hausdurchsuchungen wurden als nicht gesetzeskonform qualifiziert.

Die neue Regierungskonstellation rückt den
Verfassungsgerichtshof ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Gerichtshof erfüllt,
wie alle Verfassungsgerichte, eine politische Funktion. Das ergibt sich aus
seiner Aufgabe, die ihm die Verfassung selbst zuweist. Indem der Gerichtshof
Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüft, wird er zum Akteur des politischen
Prozesses. Dies wird in gesellschaftlich wichtigen Fragen wie im Familienrecht
deutlich und bei allen Fragen, die medial stark diskutiert werden, etwa der
Anfechtung der Bundespräsidentschaftswahl. Es ist folgerichtig, dass sich die
Politikwissenschaft vermehrt der Rolle des Gerichts zuwendet. Die
Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs hat wichtige Forschungsprojekte zur Rolle
des VfGH geleitet, die die traditionellen Forschungen der Rechtswissenschaft
ergänzen. In der Zusammenschau zeigt sich, dass das österreichische
Verfassungsgericht sein Rollenverständnis im Laufe seines Bestehens verändert
hat. Lange Zeit verfolgte der Verfassungsgerichtshof gerade im
Grundrechtsbereich ein zurückhaltendes Rollenverständnis. Seit den
1980er-Jahren legt der Gerichtshof seine Rolle in Grundrechtsfragen aktiver an.
Die überwiegende Expertenmeinung geht dahin, dass das Gericht sich eher als
Kontrollorgan denn als politischer Entscheidungsträger versteht. Angelehnt an
das Verständnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die
Einhaltung der Menschenrechtskonvention prüft, ist auch der
Verfassungsgerichtshof zu feineren Prüfungen übergegangen und nutzt den
Gleichheitssatz dazu, die Grundrechte im Wege der Interpretation fortzuentwickeln.
So gehen etwa viele Entwicklungen des Familienrechts, wie z.B. die Ehe für
alle, auf die Rechtsprechung des VfGH zurück.

Aber können und werden die Richterinnen und Richter
des hohen Gerichts einen Schutzwall um die Verfassung errichten, wenn
autoritäre Tendenzen zunehmen? Oder gibt es Loyalitäten zur Regierung, die sie
daran hindern? Der Verfassungsgerichtshof besteht aus einer Präsidentin und
einem Vizepräsidenten sowie zwölf weiteren Richterinnen und Richtern, dazu
kommen sechs Ersatzmitglieder. Alle sind unversetzbar und unabhängig, das Amt
endet mit dem 70. Lebensjahr. Sie sind keine Berufsrichter und üben im
Regelfall eine oder mehrere weitere Tätigkeiten aus. Bei Neubesetzungen gibt es
verschiedene Vorschlagsmodi, im Ergebnis wählt aber die jeweilige
Regierungsmehrheit die Richterinnen und Richter aus. Der frühere VfGH-Präsident
Ludwig Adamovich formulierte es so: „Es kommt niemand hinein, der nicht das
Vertrauen einer politischen Kraft hat. Doch dass die Richter deshalb wie
ferngesteuerte Zinnsoldaten agieren, ist nicht wahr.“ Das gilt bisher so.

Der Verfassungsgerichtshof berät nicht öffentlich,
die Öffentlichkeit erfährt nicht, wie Abstimmungen im Richterkollegium
ausgegangen sind und es gibt auch kein Sondervotum einzelner Richter, wie es
viele andere Staaten kennen. Dies hat den Nachteil, dass der Diskussionsprozess
innerhalb des Gerichts nicht transparent ist; zugleich bietet es den Vorteil,
dass die Richter im Schutz der Vertraulichkeit entsprechend ihrer Überzeugung
abstimmen können und nicht unter Druck der Partei kommen, die sie nominiert
hat. Dieses Prinzip hat bisher gut funktioniert; der Verfassungsgerichtshof
geriet seit 1945 nie in den Verdacht, Erfüllungsgehilfe der jeweiligen
Regierung zu sein. Vielmehr bescheinigt die Wissenschaft dem VfGH ein hohes
Ausmaß an Autonomie gegenüber aktuellen politischen Strömungen. So fanden alle
Parteien genügend Anlässe, sich über Entscheidungen zu ärgern. Aktuell werden
neun der 14 Verfassungsrichter den Regierungsparteien ÖVP und FPÖ zugerechnet;
nichtsdestotrotz fällen sie Urteile, die den Vorstellungen der Regierung Kurz
zuwiderlaufen.

Wie so oft ist es freilich die FPÖ, die auch im
Zusammenhang mit dem Höchstgericht Tabubrüche setzt. Sie tat dies durch
persönliche Beleidigungen des früheren Präsidenten Adamovich ebenso wie durch
jahrelanges Ignorieren der Urteile zu zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten –
ein beispielloser Vorgang in der Zweiten Republik. Deshalb finden die
Richternominierungen, die die FPÖ nun als Regierungspartei vornimmt, besondere
Beachtung. Im Frühjahr 2018 soll ein verfassungsjuristisch nicht ausgewiesener
Jurist und Kronenzeitung-Kolumnist als Verfassungsrichter im Gespräch gewesen
sein. Auch wenn es ein Gerücht gewesen sein mag; es beunruhigt allein die
Tatsache, dass seine Nominierung für möglich gehalten wurde.

Tatsächlich nominiert hat die FPÖ schließlich einen
fachlich anerkannten Medienrechtsanwalt und einen Linzer Rechtsprofessor. Beide
wurden ernannt. Mit dem Linzer Professor setzte die Regierung einen Tabubruch, hatte
dieser doch Europa als „multikriminelle Gesellschaft“ bezeichnet, an deren Entstehung
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Mitverantwortung trage. Damit
arbeitet nun jemand am höchsten Gericht, der offenbar den Grundkonsens des
Nachkriegseuropas, die Absage an Nationalismus und Hass, nicht mitträgt. Die
zitierte Aussage stellt nicht nur die Assoziation von mulitikulturell und
kriminell her, sie kommuniziert zugleich die Ablehnung supranationaler Gerichte
mit. Man wird sehen, wie sehr es dem Richterkollegium gelingt, eine solche
Persönlichkeit in die gemeinsame Grundrechtstradition einzubinden.

Die Nominierung der Höchstrichter ist eine
unterschätzte politisch-strategische Entscheidung, bleiben die Richter doch bis
zum 70. Lebensjahr im Amt. Regierungen treffen damit weit über ihre eigene
Amtszeit hinaus gesellschaftspolitische Weichenstellungen. In den kommenden zehn
Jahren stehen nur drei Nachbesetzungen am Verfassungsgericht an, ab 2029 kommt
es dann jedenfalls zu einer Verjüngungswelle mit sechs weiteren Neubesetzungen.
Mittelfristig darf man also darauf vertrauen, dass der Verfassungsgerichtshof
seine Rolle als Bewahrer des gewachsenen europäischen Menschenrechtssystems
entschlossen wie bisher ausübt.

Dr. Oliver Scheiber ist Richter, Lehrbeauftragter an der Universität
Wien und FH Wien sowie Vorsitzender des Vorstands des Instituts für Rechts- und
Kriminalsoziologie. Er gibt hier seine persönliche Ansicht wieder.



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Die EU-Menschenrechtskonvention und wir – Falter Radio vom 30.1.2019

Die EU-Menschenrechtskonvention und wir – #137


FALTER Radio. Der Podcast mit Raimund Löw


podcasT
Die EU-Menschenrechtskonvention und wir – #137



https://www.falter.at/falter/radio/89e1e9433e604235ad7bd95445fcbb62/die-eu-menschenrechtskonvention-und-wir-137

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Ein Weihnachtsgeschenk im Namen der Republik

Der Verfassungsgerichtshof hat diese Woche mit einer Entscheidung dem fremdenfeindlichen Furor fürs Erste Einhalt geboten.
Wilfried Embacher und Oliver Scheiber  (DIE PRESSE Printausgabe 20.12.2018)
Der Verfassungsgerichtshof spricht seine Urteile im Namen der Republik. Und so hat er mit seiner Entscheidung vom 17. Dezember E 3717/2018, für die Republik ausgesprochen, wie Behörden in einem rechtsstaatlichen Verfahren Tatsachen festzustellen haben. Konkret hielt der Verfassungsgerichtshof fest, dass das Landesverwaltungsgericht Wien mit einem Erkenntnis einen Wiener in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt hatte.


Der betroffene Wiener ist in der Türkei geboren. Vor 40 Jahren ließ er sich in Österreich nieder. 1996 legte er die türkische Staatsangehörigkeit zurück und besitzt nun seit 22 Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft. Im Dezember 2017 stellte die Wiener Landesregierung – gestützt auf eine angebliche türkische „Wählerevidenzliste“ – fest, dass der Mann die türkische Staatsangehörigkeit wieder angenommen und dadurch die österreichische Staatsbürgerschaft verloren habe; diese Annahme gründet sich allein auf die angebliche Wählerevidenzliste.
Kein taugliches Beweismittel

Das Wiener Landesverwaltungsgericht bestätigte diesen Bescheid der Wiener Landesregierung. Der Verfassungsgerichtshof dagegen kam zum Ergebnis, dass diese „Wählerevidenzliste“ ein fraglicher, nicht authentischer und hinsichtlich seines Ursprunges und des Zeitpunktes seiner Entstehung nicht zuordenbarer Datensatz sei, der kein taugliches Beweismittel für die Feststellung der Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit darstellt.
Diese Entscheidung des Verfassungsgerichts bedeutet für Tausende Menschen das Ende einer existenzbedrohenden Verunsicherung. Tausende Österreicherinnen und Österreicher mussten befürchten, staatenlos zu werden, neue Aufenthaltstitel und Beschäftigungsbewilligungen zu benötigen und schlimmstenfalls sogar das Land verlassen zu müssen, in dem viele seit ihrer Geburt leben.
Der Verfassungsgerichtshof stellte das bis vor Kurzem Selbstverständliche fest: Man kann eben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft verlieren, nur weil man auf einer Liste steht, die von einer politischen Partei als Wählerevidenzliste bezeichnet wird, deren Herkunft und Richtigkeit aber ungeklärt sind. Auf dieser Grundlage kann keine rechtsstaatlich verbindliche Entscheidung zum Nachteil der Betroffenen getroffen werden. Diese Menschen bleiben also im Namen der Republik deren Bürgerinnen und Bürger.
Der Verfassungsgerichtshof kommt zum einzigen in einem demokratischen Rechtsstaat vertretbaren Ergebnis. Die politische Vorgeschichte zeigt aber, wie schnell wesentliche Einrichtungen der Republik ins Wanken geraten: Im Mai 2017 veröffentlicht die damalige Oppositionspartei FPÖ unter medialem Getöse eine türkische Wählerevidenzliste, auf der sich ihrer Meinung nach österreichische Staatsbürger befanden. Sie forderte die zuständigen Behörden auf, festzustellen, dass diese Menschen durch die Wiederannahme der türkischen Staatsbürgerschaft die österreichische Staatsbürgerschaft verloren hätten.
Die Behörden reagierten zunächst zurückhaltend, veranlassten eine Klärung der türkischen Rechtslage und versuchten, durch technische Überprüfungen die Herkunft der Liste oder Manipulationen daran aufzuklären. Die FPÖ gab an, dass ihr die Liste anonym zugespielt worden sei und sie daher zur Klärung der Herkunft dieser Liste nichts beitragen könne.
Mittlerweile wurde aus der Oppositions- eine Regierungspartei. Medien berichteten immer wieder über den Verdacht illegaler Doppelstaatsbürgerschaften. Weder die Behörden noch gewählte Volksvertreter setzten sich nachdrücklich für 100.000 betroffene Österreicherinnen und Österreicher ein, denen auf einmal der Verlust der Existenzgrundlage drohte.
Niemals bei Rot über die Straße

In dieser Gemengelage erließen Behörden in verschiedenen Bundesländern die ersten Bescheide, mit denen der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft festgestellt wurde. Die überraschende Begründung: Die Vermutung, dass die Wählerevidenzliste nur Namen in Österreich lebender türkischer Staatsbürger enthält, konnte nicht widerlegt werden.
Das bedeutet: Die Behörden vertraten die Ansicht, die Bürger müssten beweisen, dass sie keine türkische Staatsbürgerschaft besitzen. Das wäre so, als ob man aufgefordert würde zu belegen, dass man niemals in seinem Leben die Straße bei Rot überquert hat. Menschen, die in Österreich geboren waren, sollten auf einmal den Beweis antreten, dass sie keine türkische Staatsbürgerschaft hatten. Umso überraschender war es, dass Verwaltungsgerichte in verschiedenen Bundesländern die Beweiswürdigung der Behörden für schlüssig hielten und vom Verwaltungsgerichtshof bestätigt wurden.
Kommt bald nächste Hetzjagd?

So blieb es wieder einmal dem Verfassungsgerichtshof vorbehalten, den Rechtsstaat und seine wichtigsten Grundsätze zu schützen. Er stellte sich vor jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auf einmal einer politischen und medialen Hetzjagd ausgesetzt waren, für die sich Behörden einspannen ließen. Der Verfassungsgerichtshof findet in seiner Entscheidung und der sie begleitenden Presseaussendung deutliche Worte für die Mangelhaftigkeit des Verfahrens: Das Höchstgericht führt damit aber auch vor Augen, wie binnen weniger Monate Fundamente des Rechtsstaats unter Beteiligung von Medien, Behörden und Gerichten ins Wanken geraten sind.
Rund 100.000 Österreicherinnen und Österreicher waren auf einmal einer existenzbedrohenden Handlungsweise der Behörden ausgesetzt. Gerade jene politischen Kräfte, die für sich in Anspruch nehmen, eine Law-and-Order-Haltung zu vertreten, pflegen einen so fahrlässigen Umgang mit grundlegenden Werten der Rechtsordnung, dass das Auftauchen neuer Listen mit Namen für die nächste Hetzjagd vorhersehbar ist.
Mit seiner Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof dem fremdenfeindlichen Furor fürs Erste Einhalt geboten. So kann man der Republik fröhliche Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünschen, als Geschenk liegt diesmal die Bewahrung des Rechtsstaates unter dem Christbaum. Man muss an das Land und seine Bürgerinnen und Bürger aber auch appellieren, langsam aufzuwachen. Auf Dauer können 14 Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs den Rechtsstaat nicht allein zusammenhalten.

DIE AUTOREN


Mag. Wilfried Embacher (geboren 1965 in Klagenfurt) hat in Graz und Wien Rechtswissenschaften studiert. Seit 1998 in Wien als Rechtsanwalt eingetragen, seit 2005 Mitglied des Menschenrechtsbeirats, seit 2010 Partner bei Embacher Neugschwendtner. Spezialisiert auf Fremden- und Asylrecht sowie auf Verfassungsrecht und Grundrechte. [ Fabry ]
Dr. Oliver Scheiber (geboren 1968 in Wien) wurde 1995 zum Richter ernannt und ist seit 2009 Vorsteher des Bezirksgerichts Wien Meidling. Er ist Lehrbeauftragter an der Uni Wien, Mitglied der Österr. Juristenkommission und Vorstandsmitglied des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie. Im Text gibt er seine persönliche Meinung wieder. [ Fabry ]

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Umbruch im Rechtsstaat

Beitrag zum Sammelband „Zu Ende gedacht – Österreich nach Türkis-Blau“ hrsg von Nikolaus Dimmel und Tom Schmid (2018); Bestellungen unter: https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=875&action=cover

Umbruch im Rechtsstaat
Rechtspopulistische
und Rechtsaußen-Parteien identifizieren klassischerweise zwei große
Außenfeinde: Medien und Gerichtsbarkeit. Aktuell beobachten wir dies in den
USA, in der Türkei, in Polen und Ungarn. Medien und Justiz bilden das Korrektiv
zur Präsentation falscher Daten und Zusammenhänge, mit denen alle
Rechtspopulisten arbeiten. Es überrascht daher nicht, dass die Neuauflage von
Schwarz-Blau unmittelbar nach Amtsantritt den Anchorman der wichtigsten
Nachrichtensendung des Landes, Armin Wolf, attackierte. Wolf zählt zu den
führenden Journalisten des deutschsprachigen Raums und ist vielfach
ausgezeichnet. Er ist damit das Gesicht des freien Qualitätsjournalismus im
Land. Im nächsten Schritt ist, nachdem bereits erste Gerichtsentscheidungen
zugunsten Wolfs ausgefallen sind, mit Kritik der Regierung an der Justiz zu
rechnen. Nicht anders war es unter Schwarz-Blau I. Der politisch unliebsame
Jugendgerichtshof wurde aufgelöst, die FPÖ führte Kampagnen gegen einzelne
Richter, die für FPÖ-Causen zuständig waren. Jörg Haider verhöhnte den
Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes. Rechtspopulisten und extreme Rechte
greifen nach dem staatlichen Sicherheitsapparat, sie schwächen und
delegitimieren dagegen andere staatliche Institutionen. Spott gegenüber Justiz
und Parlament gehören zum Einmaleins der extremen Rechten. Als „multikriminelle
Gesellschaft“ sieht etwa der Linzer Professor Andreas Hauer Europa, und an
ihrer Entstehung trage der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
Mitverantwortung. Die schwarz-blaue Regierung hat als ihre markanteste
justizpolitische Aktion Hauer zum Richter des Verfassungsgerichtshofs nominiert
und damit eine rote Linie überschritten: sie bringt jemanden ans höchste
Gericht, der den Grundkonsens des Nachkriegseuropa, die Absage an Nationalismus
und Hass, nicht mitträgt. Die Nominierung legitimiert Hauers Aussage, die
gleich mehrere Botschaften mittransportiert: sie stellt die Assoziation von
mulitikulturell und kriminell her, unterstellt somit anderen Kulturen generell
Kriminalität. Zugleich wird die Ablehnung supranationaler Gerichte und eine
Absage an Europa mitkommuniziert; eine Haltung, die alle Nationalisten Europas
verbindet. Es spiegelt wohl die Angst vor der neuen Regierung wieder, dass mit
Heinz Mayer ein einziges (emeritiertes) Mitglied der heimischen Rechtswissenschaft
die Stimme gegen diese Personalie erhoben hat. Die Nominierung der Höchstrichter
ist bedeutend; bleiben diese doch bis zum 70. Lebensjahr im Amt. Regierungen
treffen damit weit über ihre eigene Amtszeit hinaus gesellschaftspolitische
Weichenstellungen. Die Umbenennung des Justizministeriums in ein Ministerium
für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz ist unschwer als auch
nominelles Zurückstutzen der Justiz zu lesen. Aber mit welcher Justiz hat es die
Regierung zu tun?

Oscar Bronner,
einer der wichtigsten Journalisten im Nachkriegsösterreich und Gründer des
Nachrichtenmagazins profil und der
Tageszeitung Der Standard, hat in den
1960er-Jahren die personelle Kontinuität der Richterkarrieren nach dem Nazi-Regime
thematisiert und sich einen Schlagabtausch mit Christian Broda geliefert.
Broda, selbst NS-Opfer und auf Grund der von ihm inspirierten Reformen des
Rechtssystems bis heute wichtigster Justizminister der Zweiten Republik, war
nicht bereit, NS-belastete Richter ähnlich wie in Deutschland mittels
Pensionierungen aus dem Dienst zu entfernen. Bis in die 1990er-Jahre sprachen NS-affine
Richter Recht. Danach fand eine merkliche Öffnung der heimischen Justiz statt,
die vor allem durch den EU-Beitritt angetrieben war. Austauschprogramme für
Richterinnen und Richter quer durch die EU haben zu einem offenen, liberalen
Klima beigetragen. Österreichs Richterschaft heute entspricht wohl am ehesten
einem liberal-konservativen Milieu; die Sympathisanten des Rechtspopulismus
sind eine Minderheit, rechtextreme Positionen werden breit abgelehnt. Österreichs
Richterinnen und Richter sind bei ihrer ersten Ernennung sehr jung, im Allgemeinen
führt die Biographie über Schule und Studium direkt ins Richteramt.
Recht als Privileg der Wohlhabenden

Die neue
Regierung wird Tendenzen zu einer Klassenjustiz stärken. Schon jetzt gehören
Österreichs Gerichtsgebühren zu den höchsten Europas und erschweren den Zugang
zum Recht. Der wöchentliche Amtstag der Bezirksgerichte, an dem jede/jeder
kostenlos Rechtsauskunft bei Gericht erhält und auch Anträge direkt beim
Richter/bei der Richterin zu Protokoll geben kann, ist ein österreichisches Spezifikum
und ein wichtiges Element einer bürgernahen Justiz. Man wird besonders darauf
achten müssen, dass der Amtstag nicht unter dem Scheinargument des Sparzwangs
abgeschafft wird. Denn die Verfahrenshilfe wirkt nur für Personen mit einem Einkommen
bis zu 1.000,- EUR. Für eine breite Schicht von Arbeitern und Angestellten sind
Gerichtsverfahren dagegen unerschwinglich geworden.
Kanzler und
einzelne Regierungsmitglieder lassen erkennen, dass wissenschaftliche Daten und
Erkenntnisse für die Justizpolitik künftig wenig Rolle spielen werden. Die schwarz-blaue
Regierung wird gewisse Trends, die schon länger Schwachpunkte eines an sich
guten Justizsystems waren, verstärken: so wird das
Verbandsverantwortlichkeitsgesetz kaum angewandt, was Unternehmen zu Gute kommt
und kleine Mitarbeiter beschädigt. Die Verbandsverantwortlichkeit sieht die
Möglichkeit vor, nicht nur Personen, sondern auch Firmen strafrechtlich zu
belangen. Anklagen wegen Fahrlässigkeit etwa nach Arbeitsunfällen ergehen aber
nach wie vor gegen Arbeiter der unteren Ebene, während die Unternehmen
strafrechtlich ungeschoren bleiben und damit auch bei gehäuften Fehlleistungen
ihre Gewerbeberechtigung behalten.
Obwohl die
Kriminalität in Österreich seit Jahrzehnten massiv rückläufig ist, zeichnet die
Regierung ein Bild der Unsicherheit und Gefahr. Die Justiz ihrerseits setzt
viel an Ressourcen für Kleinkriminalität wie Ladendiebstähle ein, während
Umweltkriminalität kaum und Korruption zu wenig entschieden verfolgt werden. Eine
forcierte Korruptionsbekämpfung ist von einer Regierung, die erklärtermaßen
Anliegen der Wirtschaft und Industrie vertritt, nicht zu erwarten. Zweckmäßiger
als 2000 neue Polizisten wäre freilich eine Aufrüstung der ExpertInnen der
Korruptions- und Umwelteinheiten.

Gesellschaft und
Justiz gehen, nicht nur in Österreich, mit Minderheiten oft harsch um. Ausländische
Staatsbürger werden härter angefasst, schneller in Untersuchungshaft genommen,
strenger bestraft, seltener vorzeitig entlassen. Negative Trends werden sich
unter Schwarz-Blau verstärken. Die Standards der Asylverfahren liegen schon
deutlich unter dem Niveau des sonst in Österreich Üblichen und von der
Menschenrechtskonvention Geforderten; deshalb wird ein extrem hoher Anteil
erstinstanzlicher Entscheidungen aufgehoben. Im von der Regierung verbreiteten
Klima, das Zuwanderung und Migration permanent als problematisch thematisiert,
werden sich diese Fehlentwicklungen verstärken. Dies gilt auch für die
Stigmatisierung von Suchtmittelabhängigen, die traditionell selektiv verfolgt
werden. Polizeiliche Ermittlungen werden sich noch stärker auf die sozial
schwächste Gruppe drogenkranker Menschen konzentrieren, nämlich Wohnungslose
und Schwerkranke, die in U-Bahn-Stationen und bei Bahnhöfen Drogen kaufen. Drogenkranke,
die besseren Schichten angehören und in Clubs oder Wohnungen Kokain
konsumieren, bleiben weitgehend unbehelligt. Der massive Ressourceneinsatz im
Bereich der Ladendiebstähle und des bloßen Drogenkonsums steht im krassen
Missverhältnis etwa zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität; die
Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, bundesweit zuständig für die
schwersten Wirtschaftsverbrechen, nimmt kaum einmal Verdächtige in
Untersuchungshaft. Das wichtige Mittel gegen Wirtschaftskriminalität, die
rasche Beschlagnahme und Sicherstellung krimineller Gelder, funktioniert in der
Praxis nicht im nötigen Ausmaß.

Die mangelnde
Sensibilität der schwarz-blauen Regierung für Kranke hat sich bereits in der
Diskussion um das Erwachsenenschutzgesetz (Sachwalterschaftsrecht) gezeigt; die
Ambitionen im Strafvollzugs- und Massnahmensektor und der damit verbundenen
psychiatrischen Versorgung werden ähnlich gering sein. Reformen der letzten
Legislaturperiode zeigen, wie mit einfachen Mitteln viel erreicht werden kann:
die Umsiedlung der Haftanstalt Korneuburg in eine architektonisch moderne
Struktur (mehr Glas, breitere Gänge, mehr Raum) haben zu einem Rückgang von zwei
Drittel der von Häftlingen konsumierten Psychopharmaka geführt. Mit der
Einführung von Gesprächsforen für jugendliche Straftäter, an denen Eltern,
Lehrer, Polizei, Jugendamt, Staatsanwaltschaft und Gericht teilnehmen, konnte
die Zahl jugendlicher Untersuchungshäftlinge massiv reduziert, in Wien eine
Zeit lang auf Null gebracht werden. Unter der schwarz-blauen Regierung droht nun
eine weitere Stärkung der Justizwache, also gleichsam eine Militarisierung des
Strafvollzugs zulasten der Planstellen für medizinisches Personal, für
Sozialarbeiter und Psychologen.
Politisch denken, Klassenjustiz verhindern

Recht ist ein
großartiges Gestaltungsmittel. Kreativ eingesetzt ist es ein Instrument des
empowerment. Diese Möglichkeiten gilt es Studierenden der Rechtswissenschaft künftig
näherzubringen. Darüber hinaus ist die Fähigkeit zum politischen Denken zu
fördern. Gerade die Justiz benötigt diese Kompetenz, die nichts mit einer
parteipolitischen Durchdringung zu tun hat, um die Bedeutung ihrer Handlungen
einschätzen zu können. Ein unpolitischer Zugang, der ja immer Haltungslosigkeit
einschließt, wird bei der Justiz zur Gefahr für das Staatswesen.

Die Justiz ist
immer und derzeit besonders gefordert, den Rechtsstaat zu verteidigen und zu
garantieren. Wie weit Österreich auf diesem Weg ist, ist schwer einschätzbar:
der so genannte Fall Aula aus 2015 – die Staatsanwaltschaft Graz hatte aus der
Zeitschrift Aula rechtsextreme Thesen zur Kriminalität von KZ-Insassen
unkritisch übernommen – hat einen Rückschlag bedeutet. Auf der anderen Seite
sehen wir heute eine Justiz, die geflüchteten JuristInnen aus aller Welt
Praktika anbietet und sich um ihre Eingliederung in den österreichischen
Arbeitsmarkt bemüht; junge Richterinnen und Richter arbeiten oft in der
Flüchtlingshilfe oder nehmen Asylwerber bei sich zu Hause auf. Seit zehn Jahren
besuchen künftige Richterinnen und Richter zeitgeschichtliche
Ausbildungsmodule, sie beschäftigen sich mit der NS-Zeit und ihrer
Aufarbeitung, mit vergangenen und aktuellen autoritären Regimen und diskutieren
Strategien, wie die Justiz den Rechtsstaat sicherstellen kann. Die Lage ist
insgesamt genau so widersprüchlich und unübersichtlich, wie sich das für unsere
österreichische, europäische und westliche Gesellschaft insgesamt sagen lässt.

Machtwille und
autoritäre Affinität der schwarz-blauen Regierung sind nicht zu unterschätzen.
Mehrere Protagonisten und viele ihrer Mitarbeiter sind in Burschenschaften
organisiert, die ein undemokratisches System im Kleinen repräsentieren. Die
Aufnahmeverfahren der Burschenschaften sind ein Demütigungsritual, in dem die
neuen Mitglieder gebrochen werden. In Verbindung mit deutschnationalem
Gedankengut ist das die denkbar schlechteste Vorbereitung auf
Verantwortungsübernahme im Rechtsstaat.

Wie damit
umgehen? Die Ursachen für die Irrationalität und die Verwerfungen des
politischen Lebens in Österreich, aber auch global, liegen primär in der aus
den Fugen geratenen Vermögens- und Einkommensverteilung. In Verbindung mit
unzureichender politischer und geschichtlicher Bildung und den Eigenheiten der
social media erleichtert das das Schüren von Neid und Hass; dies kommt dem
sündenbockgetragenen und auf Verschwörungstheorien aufbauenden Rechtspopulismus
entgegen. Diese tieferliegenden Ursachen, die zur Bildung der schwarz-blauen
Regierung geführt haben, lassen sich für die österreichische Opposition und die
Zivilgesellschaft kurzfristig nicht beheben. Es geht im Moment darum, unsere
demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen vor dauerhaften Schäden zu
bewahren. Denn der Regierungseintritt der FPÖ bedeutet keine politische Normalität.
Umfärbungen in Ministerien und staatsnahen Betrieben hat es immer gegeben. Die
Besonderheit des Regierungseintritts der extremen Rechten liegt im Bruch mit
dem europäischen Grundkonsens des „Nie wieder“, auf dem die europäische
Einigung und die europäischen Staaten nach 1945 aufbauen. Um dieses
gesellschaftliche Fundament der Solidarität, des Friedens, der Freiheit und
Antifaschismus gilt es kurzfristig zu kämpfen. Die US-amerikanische Justiz liefert
uns dabei das beste Vorbild. Den autoritären und von Gewaltentrennung wenig
gerührten Bestrebungen von Präsident Trump hat die amerikanische Justiz gleich
in den ersten Wochen von Trumps Amtsperiode einiges entgegengesetzt. In der
Frage der Einwanderungsdekrete hat die Justiz ihre Unabhängigkeit bewiesen;
Urteile auch von kleinen Gerichten der ersten Instanz wurden sehr schnell (oft
binnen weniger Tage) und mit langen, rechtlich exzellenten Begründungen
schriftlich ausgefertigt. Das System der checks
and balances
der staatlichen Macht hat funktioniert. Österreich, wo
Verfassungsbewusstsein und Zivilcourage des öffentlichen Dienstes weniger
ausgeprägt sind und wo vorauseilender Gehorsam verbreitet ist, ist hier
gefordert. Und dennoch darf man optimistisch sein, dass nach 70 Jahren
Demokratie die entscheidenden Player, zu denen die Justiz und die Rechtsberufe
gehören, in ihrem Grundrechtsbewusstsein so gefestigt sind, dass sie einem
breiteren Angriff auf den Rechtsstaat entschlossen Widerstand leisten werden. Das
wird große Konzentration und das Engagement sehr vieler erfordern, wenn die
Regierung weiterhin mit vielen verbalen, inhaltlichen und personellen
Einzelmaßnahmen ein Klima schafft, das der Schaffung autoritärer Strukturen und
Verhältnisse wie in Ungarn oder Polen entgegenkommt.  

Dr. Oliver Scheiber ist Richter und Gerichtsvorsteher
in Wien. Er ist Vorsitzender des Vorstands des Instituts für Rechts- und
Kriminalsoziologie und Lehrender an der Universität Wien. Er gibt hier seine
persönliche Ansicht wieder.
Bibliographie:
Alain Badiou,
Wider den globalen Kapitalismus, Ullstein (2016).
Oscar Bronner,
Die Richter sind unter uns. Schriften zur Zeit – Forum Sonderheft 1 (1965).
Anatole France,
Crainquebille, Hans Carl Verlag (1951).
Simon Kravagna,
Schwarze Dealer – weiße Behörden. Selektive Strafverfolgung von schwarzen
Dealern in Wien. Dissertation an der Universität Wien (2005).
Walter
Pilgermair, Wandel in der Justiz, Verlag Österreich (2013).
Henry David
Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, Diogenes (2010).
Maurizio Torchio,
Das angehaltene Leben, Zsolnay (2017).

Werner Vogt, Die
Wahrheit hinter 16 Lügen, Die Presse online 17.5.2013, https://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/1403710/Die-Wahrheit-hinter-16-Luegen
(Stand 24.3.2018).
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