Interview mit dem Standard vom 6.2.2020

Richter über Kurz‘ WKStA-Kritik: „Dann kommt der Rechtsstaat ins Rutschen“

Die Kritik des Kanzlers an der Justiz hat Wellen geschlagen. Dass Kurz eine Aussprache will, ist für den Richter Oliver Scheiber ein Tabubruch

 

Marie-Theres Egyed

 

 

Oliver Scheiber sorgt sich um den Rechtsstaat.
Foto: Der Standard/Cremer
Der von Bundeskanzler Sebastian Kurz einberufene – und von Justizministerin Alma Zadić zur „Aussprache“ herabgestufte – runde Tisch über die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sorgt für Kritik. Oliver Scheiber, Gerichtsvorsteher am Bezirksgericht Wien-Meidling, empörte sich in den sozialen Medien. Der Richter ist auch als Autor tätig, mit „Mut zum Recht!“ schrieb er ein „Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat“. Zuvor beschäftigte er sich mit einer Reform der Sozialdemokratie. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt er, warum er das als dramatische Entwicklung sieht und derartige Tendenzen oft Vorboten autoritärer Regierungsstile seien.

STANDARD: Was stört Sie daran, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz einen runden Tisch einberufen hat, bei dem Verfahrensdauer, Vertrauen in die Justiz und Unabhängigkeit und Objektivität diskutiert werden sollen?
Scheiber: Entweder liegt beim Bundeskanzler ein völliges Missverstehen der Gewaltentrennung und Checks and Balances in einem Rechtsstaat vor – diese Naivität und dieses Unwissen würden mir Angst machen. Oder er will Signale an die Staatsanwaltschaft senden, künftig anders vorzugehen. Das wäre ein unzulässiger Übergriff des Kanzlers auf Organe der Gerichtsbarkeit.
STANDARD: Geht es darum, Kontrolle über die Staatsanwaltschaft zu gewinnen?
Scheiber: In der Verfassung sind die Staatsanwaltschaften der Gerichtsbarkeit zugeordnet und haben eine besondere Stellung. Sie besteht keinesfalls in einer Unterordnung zum Kanzler. Es gibt auch eine klare Qualitätskontrolle für Staatsanwaltschaften und Gerichte. Alles, was etwa die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft macht, unterliegt der Aufsicht von Oberstaatsanwaltschaft, Justizministerium und Weisungsrat. Jeder Grundrechtseingriff wie eine Hausdurchsuchung, Festnahme oder Beschlagnahmung bedarf der Bewilligung durch einen Richter und kann gerichtlich bekämpft werden.
STANDARD: Zunächst wollten sich die Staatsanwälte noch bei Kurz beschweren, dass ihre Unabhängigkeit von ihm infrage gestellt wurde. Jetzt bestellt aber er sie zu sich.
Scheiber: Was Kurz bei diesem Hintergrundgespräch gesagt haben soll, hat Richtervereinigung und Staatsanwälte zu Recht irritiert. Da ist es legitim, dass sie das Gespräch suchen. Es kann aber nicht sein, dass ein Kanzler, während aktueller politischer Strafverfahren, mit den Staatsanwälten über ihre Arbeitsweise reden will. Wer das nicht sieht, hat Demokratie und Rechtsstaat nicht verstanden. Das ist eine dramatische Entwicklung.
STANDARD: Inwiefern?
Scheiber: Das ist ein Tabubruch. Wenn sich Institutionen nicht mehr wechselseitig respektieren und nicht auf Augenhöhe begegnen, kommt der Rechtsstaat ins Rutschen. Parlament, Regierung und Gerichtsbarkeit haben abgegrenzte eigene Bereiche, der Kanzler darf nicht in die Gerichtsbarkeit eingreifen.

STANDARD: Woher kommt die plötzliche Skepsis von Kurz gegenüber der Justiz?
Scheiber: Wir sehen in Ungarn, Polen oder bei Trump, dass Angriffe auf Institutionen, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und die Justiz oft Vorboten autoritärer Regierungsstile sind. Unter Türkis-Blau wurde der ORF massiv kritisiert, die Angriffe auf die Justiz sind möglicherweise die Fortsetzung.
STANDARD: Sie appellieren an Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Was kann er tun?
Scheiber: Der Bundespräsident hat in den vergangenen Monaten immer wieder auf die Verfassung hingewiesen. Es ist wichtig, ein stärkeres Verfassungsbewusstsein zu entwickeln und das Funktionieren des Staatswesens verständlich zu machen. Die Regierung darf nicht bei der Justiz intervenieren. Es wäre gut, jetzt auch diese verfassungsrechtlichen Grundsätze in Erinnerung zu rufen. (Marie-Theres Egyed, 6.2.2020)
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Nikolaus Lehner über „Mut zum Recht“ in der Wiener Zeitung

Appell für notwendige Reformen in der Justiz



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Die Neuerscheinung „Mut zum Recht!“ von Oliver Scheiber ist ein Gesamtkunstwerk und ein Manifest zugleich.

Das Plädoyer ist in zehn Thesen strukturiert, die Oliver Scheiber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat.
© adobe.stock/everythingpossible





Dieses Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat „Mut zum Recht!“ von Oliver Scheiber ist für mich ein Gesamtkunstwerk und auch ein Manifest, nämlich ein Appell für die endlich durchzuführenden notwendigen Reformen in der Justiz. Der vormalige Kabinettschef einer Justizministerin hat durch diese Position den Überblick beziehungsweise Durchblick über den gesamten Justizapparat, nunmehr ist er Gerichtsvorsteher eines Wiener Bezirksgerichtes und sieht die Probleme der Justiz im Alltag.
Strukturiert ist dieses Plädoyer in zehn Thesen, die Scheiber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat. In der ersten These beweist er, dass die Kunst der Justiz wichtige Impulse liefert. Die Kunst spendet Anregungen und liefert oft Kritik. Er beschreibt aus der berühmten Erzählung des Literaturnobelpreisträgers Anatole France „Crainquebille“, wie sich oft ein kleiner Irrtum eines Justizorgans im Laufe der Jahre zur Tragödie eines Menschen (hier eines französischen Staatsbürgers) ausgeweitet hat.

Vernetzung mit der Kunst


Nikolaus Lehner war mehr als 40 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist nunmehr Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik, Autor und Kurator für Ausstellungen. Er selbst bezeichnet sich auch gern als Flaneur, Provokateur und politischen Beobachter. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt. Gregor Schweinester - © Foto: Gregor Schweinester

Nikolaus Lehner war mehr als 40 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist nunmehr Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik, Autor und Kurator für Ausstellungen. Er selbst bezeichnet sich auch gern als Flaneur, Provokateur und politischen Beobachter. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt. Gregor Schweinester – © Foto: Gregor Schweinester
Ich möchte nunmehr einen kleinen Beitrag zu diesem aufsehenerregenden Fall in Frankreich liefern und mache auf den österreichischen Autor Otto Hans Ressler mit seiner großartigen Novelle „Die Verleumdung“, erschienen in der Edition Splitter in Wien, aufmerksam, die historische Hintergrundfolie des vergessenen Antisemitismus vor 1914 in der Habsburgermonarchie. Die Hauptfigur, der Fabrikant Baron Salomon Schön, klagt den rechtsradikalen Reichsratsabgeordneten Gerwald Holomek wegen Rufschädigung und Ehrenbeleidigung. Vieles aus dem beschriebenen Gerichtsverfahren erinnert an die Jetztzeit, weil Ressler Zitate auch von lebenden Politikern verwendet hat.

"Mut zum Recht!" Das "Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat" des langjährigen Richters Oliver Scheiber ist im November im Falter Verlag erschienen. 232 Seiten, EAN: 9783854396604

„Mut zum Recht!“ Das „Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat“ des langjährigen Richters Oliver Scheiber ist im November im Falter Verlag erschienen. 232 Seiten, EAN: 9783854396604
Scheiber fordert zu Recht, dass die Justiz die Vernetzung mit der Kunst für die Aus- und Fortbildung der Richter stärker nutzen soll.
In der zweiten These wünscht sich der Autor ein Mehr an Gerechtigkeit, indem die leider noch immer vorhandene Klassenjustiz durch eine neue Kultur innerhalb der Justiz eine stärkere Ressourcenverteilung bewirken soll. Leitbild der Justiz müssen der gleiche einfache Zugang zum Recht für alle und das faire Verfahren sein. Im geltenden Zivilverfahren herrscht durch die hohen Gerichtsgebühren ein Ungleichgewicht, im Strafverfahren werden auffallend oft sogenannte „heikle“ Fälle wegen angeblicher Komplexität eingestellt, oder es wird eben bis zur Verjährung ermittelt. Die Justiz muss innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals verständlich, fair und emphatisch agieren. Das bedeutet mit möglichst wenig Formalismen kommunizieren, einen effizienteren Rechtsschutz und die Gelegenheit für jedermann, ausführlich angehört zu werden.
In der dritten These stellt der Verfasser mit Recht fest, wie wichtig Leitfiguren sind. Derzeit fehlen in der österreichischen Justiz solche Persönlichkeiten, die genügend engagiert sind und im System innovativ wirken. Schon bei der Grundausbildung sollte die Kritikfähigkeit und Selbstreflexion gestärkt werden. Mein Beitrag dazu ist der Umstand, dass jeder Richter genügend Kreativität haben muss, um sich (und den Parteien) den Ärger mit dem Sachverständigen(un)wesen zu ersparen. Die Sachverständigen haben mich oft an reine „Lohnschreibereien“ erinnert, wobei ich nicht unbedingt mangelnde Ethik behaupten möchte, jedenfalls aber mangelnde Qualität und die jeweilige Abhängigkeit vom Auftraggeber – klassischer Fall sind die von den Staatsanwälten bestellten Sachverständigen.
Imponierend ist der Gedanke von Scheiber im Familien-, Jugendstraf- und Erwachsenenschutzrecht runde Tische einzuführen, um eine gemeinsame Lösungssuche aller Beteiligten zu ermöglichen.
In der vierten These behandelt Scheiber die großen Probleme im Zusammenhang mit dem Faschismus und schildert den Fall Gross. Zu meiner Verwunderung als damaliger Verteidiger des Heinrich Gross weist Scheiber nach, dass erst eine Weisung des damaligen Justizministers notwendig war, aufgrund des erdrückenden Beweismaterials Gross anzuklagen. Die Republik hätte schon längst Gross anklagen müssen, und das erkennende Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, ein Beweisverfahren durchzuführen. Tatsächlich war es so, dass ganz im Gegenteil Heinrich Gross jahrzehntelang der Hauptsachverständige der Justiz im Landesgericht für Strafsachen Wien war.

Mängel im Strafrecht

Die These fünf ist ein Narrativ betreffend die Mängel im Strafrecht bezüglich der aktuellen gesetzlichen Bestimmungen. Maßnahmen für eine Reform sind folgende:
Befreiung des Rechtsmittelverfahrens vom Formalismus der Nichtigkeitsgründe; obligatorische anwaltliche Vertretung in allen Strafverfahren, also nicht nur wie bisher in der Untersuchungshaft, sondern auch in der Strafhaft.
Gerade im Verfahren bei der bedingten Entlassung habe ich selbst noch festgestellt, wie oft nicht genügend qualifizierte Sprengel- und Rechtshilferichter den Antrag eines Delinquenten in wenigen Minuten abgeschmettert haben, weil er ohne Anwalt und nach jahrelanger Verbüßung einer Strafe geschwächt und im Hinblick auf die Autorität dieses Richters sprach- und machtlos war. Unter dem Vorwurf der Nicht-Qualifikation erblicke ich die nicht genügend geschärfte Empathie und die totale Überlastung vieler Richter in zahlreichen Gerichten Österreichs. Scheiber fordert die Vernetzung der Gerichte mit den Sozialarbeitern und den Forschungseinrichtungen, und es sollte endlich ein forensischer Lehrstuhl eingerichtet werden.
Für mich nicht überzeugend ist Scheibers Forderung nach der Schaffung dreier statt wie bisher zweier Instanzen, weil durch die bisher unrichtige Einschätzung der Bedeutung der Justiz nicht einmal genügend Mittel für die korrekte Gestaltung zweier Instanzen zur Verfügung stehen.
In der These sechs behauptet Scheiber, dass Europa unser Rechtssystem verbessert. Mir fehlt allerdings ein europäischer Kanon in der Justiz. Seine Forderung, die Justiz sollte in Brüssel verstärkt eigene Gesetzesinitiativen einbringen und so den europäischen Rechtsraum stärker mitbestimmen, finde ich realitätsfremd, weil Österreich allein ohne die vorherige Absprache mit größeren und mächtigeren Staaten nichts bewegen kann.
In der siebenten These beschäftigt sich Scheiber mit der Sprache und Kommunikation der Justiz, also dem Zugang zum Recht. Das Setting ist generell zu modernisieren.
Leider wird der juristische Nachwuchs an den Universitäten zur Unverständlichkeit erzogen. Endlich muss als Kernkompetenz der Rechtsberufe die Fähigkeit, juristische Sachverhalte allgemein verständlich auszudrücken und sich einer einfachen Sprache zu bedienen, erkannt werden. Die Justiz müsste eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit an den Tag legen und Public-Relation-Profis einbinden. Dazu gehören eine mehrsprachige Internetseite und der Ausbau der Servicestellen, ebenso eine Zusammenarbeit der Justiz mit der Sprach- und Kommunikationswissenschaft.
In der achten These fordert Scheiber eine nicht nur räumliche Trennung von Staatsanwaltschaften und Gerichten, also keine Unterbringung im selben Gebäude, sondern auch keine öffentliche Vertrautheit von Richtern und Staatsanwälten.
Scheiber postuliert zu Recht, dass Staatsanwaltschaften über Anträge der Polizei oder Gerichte über Anträge der Staatsanwaltschaften – wie oft nicht üblich – über telefonische Ansuchen möglich sein sollen. Aufgrund der modernen Technik entsteht auf diese Art und Weise keine Zeitverzögerung durch eine schriftliche Erledigung.
Einen großen Fortschritt stellt die audiovisuelle Aufzeichnung aller Einvernahmen und Verhandlungen dar. Für alle Asyl- und Strafverfahren fordert er eine obligatorische unabhängige Rechtsvertretung.
In der neunten These ist das Narrativ eine politische Justiz, gemeint wohl gesellschaftspolitisch und nicht parteipolitisch oder gar ideologisch determiniert. Allerdings ist durch das Weisungsrecht des Justizministers die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet. Trotz der Einführung des sogenannten Weisenrates, übrigens ein Fremdkörper in unserem System, sowie der nunmehr notwendigen Schriftlichkeit der Begründung der Weisung, bleibt weiterhin die mögliche Gefahr eines vorauseilenden Gehorsams bestehen. Ich, Lehner, fordere die Abschaffung der Dienstbesprechungen.

Richter als Spiegel

In der zehnten These ist der Kanon, dass die Justiz ihre Unternehmungs- und Kommunikationskultur stark verdichten muss, da durch die Digitalisierung und Globalisierung alles in Bewegung ist. Scheibers Vorschlag, dass die Richter ein Spiegelbild der Zusammensetzung der Bevölkerung darstellen sollen, gefällt mir sehr.
Der derzeitige Justizminister, Clemens Jabloner, stellte den stillen Tod der Justiz in den Raum. Der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Friedrich Forsthuber, ruft zur Rettung des Rechtsstaates auf. Der engagierte Staatsanwalt Bernd Ziska meint, “ der Patient Justiz liegt im Wachkoma“, und ich erblicke „high noon“.
Die Legisten des Justizministeriums sollen sich Oliver Scheiber als Vorbild nehmen, der Text seines Werkes ist für jedermann verständlich und nicht dadaistisch. Mögen seine Vorschläge so rasch wie möglich umgesetzt werden.

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„Null-Toleranz-Botschaften sind leere Schlagworte” – Interview für verfassungslos

„Null-Toleranz-Botschaften sind leere Schlagworte”

Oliver Scheiber im Interview zur Lage der Justiz und Reform des Strafrechts.

Strafverschärfungen sollen den Gewaltschutz fördern. Doch wie wirksam ist diese Herangehensweise wirklich? Valentina Klemen und Ricardo Parger trafen den Strafrichter Oliver Scheiber, um über die tägliche Praxis bei Gericht, die geplante Strafrechtsreform sowie über den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt zu sprechen.
Parger: Herr Scheiber, Sie sind nicht nur Gerichtsvorsteher an einem Bezirksgericht in Wien, sondern engagieren sich auch außerhalb dieser Tätigkeit. Inwiefern dürfen oder sollen sich Richter öffentlich politisch äußern?
Scheiber: Wenn ich bei mir persönlich beginne, dann war zivilgesellschaftliches Engagement stets ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit und meines Agierens. Selbstverständlich erfordert der Richterberuf eine Menge besonderer Verpflichtungen und Rücksichtnahmen. Diese ergeben sich zum Teil aus dem Gesetz: Zum Beispiel dürfen Richter*innen keine Vorstandsfunktionen in Kapitalgesellschaften annehmen, müssen eine ethische Herangehensweise bei öffentlichen Auftritten an den Tag legen und auch eine gewisse Distanz zu politischen Parteien haben. Wichtig ist eine saubere Trennung [von beruflicher Tätigkeit und privatem Engagement] und Professionalität im Beruf. Grundsätzlich würde ich jedoch aus meiner Biographie heraus sagen, dass der Beruf des Richters/der Richterin ein zivilgesellschaftliches Engagement nicht ausschließen darf und im Sinne der freien Meinungsäußerung auch nicht ausschließen kann.

Klemen: Die derzeitige Lage der Justiz liefert ausreichend
Anlässe für ein solches Engagement. Man hört ständig, es seien zu wenig
finanzielle Mittel vorhanden, bei der Staatsanwaltschaft fehle es an Personal.
Trotzdem wird Budget gekürzt und Planstellen werden nicht nachbesetzt. Das
zeigt sich auch in komplizierten Korruptions- und Wirtschaftsstrafverfahren,
wie zuletzt bei der Eurofighter-Causa. Wie nehmen Sie das in der Praxis wahr?
Scheiber: Die aktuellen
Schwierigkeiten haben eine lange Vorgeschichte. Die Justiz ist traditionell ein
sehr sparsames Ressort mit wenigen Ermessensausgaben. Als dann die
gleichmäßigen Kürzungen in allen Ressorts vor etwa 20, 30 Jahren begonnen
haben, war die schon damals schlanke Justiz natürlich doppelt betroffen. In den
letzten Jahren haben wir jedoch gesehen, dass bei der Justiz gekürzt wird,
während z.B. bei der Polizei Aufstockungen erfolgen. Das hat definitiv zu einer
Schieflage geführt.
Parger: Könnte man das als einen Angriff auf den Rechtsstaat
interpretieren?
Scheiber: Könnte man, wenn man
unterstellen mag, dass dahinter ein Plan oder eine Absicht steht. Es ist
natürlich bei jeder politischen Partei, die ein (eher) autoritäres Staatsbild
vor sich hat, eine Tendenz da, die Polizei zu stärken und Ressourcen bei
kontrollierenden Einrichtungen wie Justiz oder Parlament zurückzunehmen.
Parger: Viele
Richter*innen fühlen sich im Stich gelassen und fürchten sogar, dass die
finanzielle Situation der Justiz den Rechtsstaat gefährde. Dazu kommen
wiederholte Angriffe der bis vor kurzem regierenden freiheitlichen Partei.
Herbert Kickl [ehemaliger Innenminister] hat etwa die europäische
Menschenrechtskonvention infrage gestellt und damit die Verfassung – die Grundlage
unseres Rechtsstaates. Sehen Sie das auch so drastisch wie Ihre
Richterkolleg*innen?
Scheiber: Ich würde es schon so drastisch sehen, weil ich
glaube, es gibt bei diesen Entwicklungen hin zum Autoritären immer einen
Zeitpunkt, an dem das Ganze kippt und kaum mehr rückgängig zu machen ist. Ein
solch kritischer Moment war die BVT-Affäre, die Gott sei Dank viele
wachgerüttelt hat. Zum anderen sei erwähnt, dass es Tradition der FPÖ ist, sich
mit der Justiz schwer zu tun. Das war bei der ersten schwarz-blauen  Koalition unter Schüssel ähnlich.
Klemen: Auf der einen
Seite gibt es Kürzungen im Bereich der Justiz, auf der anderen Seite werden
etwa in Wirtschaftsstrafverfahren sowie auch im allgemeinen Strafrecht
scheinbar höhere Anforderungen an die Justiz gestellt. 2018 ist in Erinnerung
als Jahr mit verhältnismäßig vielen Morden an Frauen. Deren Zahl hat sich im
Vergleich zu 2014 mehr als verdoppelt. Sehen Sie Zusammenhänge zwischen dem
Ressourcen- und Personalmangel in der Justiz und dem Anstieg an Gewalttaten
gegen Frauen?
Scheiber: Bei der Einschätzung wäre ich vorsichtig. Klar ist,
dass darüber Aufschlüsse, Forschungen sowie Studien fehlen. Es ist schon
denkbar, dass dies eine gewisse Häufung ist, die in dem einen Kalenderjahr
aufgetreten ist. Ich kann keinen direkten Konnex herstellen zwischen schlechter
Budgetsituation und dem raschen Anstieg der Kriminalität genau in diesem
Bereich. Im Jahr 2019 setzt sich das auch zum Glück bislang nicht so fort.
Klemen: Mangelnde
Ressourcen können auch die effiziente Abwicklung des Ermittlungsverfahrens
erschweren. Seitens der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser etwa wurde
kritisiert, dass dies zur Folge haben kann, dass Täter nicht in
Untersuchungshaft kommen und dass Opfer daher oftmals auch nach Erstattung der
Anzeige weiterhin in Gefahr sind.
Scheiber: Bei vielen Beratungs- und Unterstützungsvereinen für
Opfer oder gefährdete Personen wurden die Mittel gekürzt. Dass das negative
Folgen hat, ist naheliegend. Dass sich das auch auswirkt auf ein längeres
Fortbestehen oder Nichtabbrechen von Gefahrensituationen, ist auch naheliegend.
Die Untersuchungshaftfrage sehe ich nicht unbedingt als den Knackpunkt.
Vielmehr glaube ich, dass wir ein Defizit bei Gefährlichkeitsprognosen und
Prognoseentscheidungen haben und dass dieser Mangel zu einem Anstieg der
Gewaltkriminalität führen kann. Außerdem besteht ein Kommunikationsproblem.
Polizei, Staatsanwaltschaft, Psychiatrien und Krankenhäuser kommunizieren zu
schwerfällig miteinander. So werden etwa wesentliche Informationen, teilweise
aus Datenschutzerwägungen, nicht gegenseitig ausgetauscht. Meines Erachtens ist
dies ein starkes Element dafür, dass Gefahrenlagen nicht rechtzeitig
abgebrochen werden.
Parger: Sie sind auch
Vorstandsmitglied in der Opferschutzeinrichtung Weißer Ring. Inwiefern war
diese Organisation von Einsparungsmaßnahmen durch den Staat betroffen?
Scheiber: Es ist generell schwierig, öffentliche Gelder zu
lukrieren. Auch für die besten Zwecke ist es schwierig geworden. Im Bereich des
Opferschutzes gibt es die psychosoziale und die juristische Prozessbegleitung.
Wenn etwas passiert ist, dann hat das Opfer Anspruch auf staatliche Leistungen
sowie Opferschutzleistungen. Das hilft bei der Vermeidung der Gewalttaten aber
praktisch gar nicht. Gefahren zu erkennen und einzugreifen, bevor etwas
passiert, ist die größte Herausforderung.
Parger: Was wären
solche Institutionen, die die Gefahr erkennen könnten?
Scheiber: Das kann sowohl die Schule
selbst sein, der etwas auffällt, das kann aber auch ein Kind sein, das einem
Lehrer berichtet. Das kann natürlich
auch der praktische Arzt sein, der bei einer ständigen Patientin
Gewalteinwirkungen feststellt. Das kann eine Notaufnahme im Krankenhaus sein,
aber natürlich auch die Polizei selbst.
Klemen: Wo könnte man
Ihres Erachtens nach ansetzen?
Scheiber: Wichtig ist die Information der Öffentlichkeit:
Sensibilisierung auf altersgerechte Art und Weise, auch bei Kindern,
Jugendlichen und der Lehrerschaft. Ein weiterer Punkt ist sicher die
Fortbildung, das heißt eine Sensibilisierung auch von Jurist*innen.
Klemen: Kommen wir zur geplanten
Strafrechtsreform – dem sogenannten dritten Gewaltschutzgesetz. Dieses umfasst
ein Bündel verschiedener Änderungen, die im Herbst beschlossen werden sollen.
Unter anderem werden zwei Ziele verfolgt: Es 
soll im Bereich der Gewalt- und Sexualdelikte bei einigen Tatbeständen
zu einer Straferhöhung kommen. Außerdem sollen die Opferrechte in der
Strafprozessordnung eine umfassende Erweiterung erfahren. Insgesamt gehe es
darum – so die frühere Staatssekretärin Edtstadler – Tätern gegenüber „null
Toleranz“ zu zeigen. Was halten Sie von dieser Zielsetzung?
Scheiber: Ich halte diese
Null-Toleranz-Botschaften für leere Schlagworte und denke, sie sind auch
wissenschaftlich widerlegt. Wir haben die USA mit einem starken Strafanspruch,
sehr vielen Haftstrafen und gleichzeitig einer hohen Kriminalität. Es ist
hinlänglich ausdiskutiert, dass Straferhöhungen nicht zu einer Senkung  der Kriminalität führen. Der
Gesetzesvorschlag enthält einige sinnvolle Maßnahmen im Bereich des
Opferschutzes. Wo er jedoch im StGB ansetzt, ist er eher schädlich, weil der
Ermessensspielraum der Richter*innen zu stark eingeschränkt werden soll.
Klemen: § 201 StGB – das Verbrechen der Vergewaltigung: Hier
soll es zu einer Erhöhung der Mindeststrafe von einem auf zwei Jahre kommen.
Wie beurteilen Sie diese Verschärfung? Könnte sie sich auch gegenteilig, d.h.
nicht im Sinne des Reformzweckes auf Ihr richterliches Urteil auswirken?
Scheiber: Starre Regelungen wie
Mindeststrafen haben vielerlei ungünstige und zum Teil verheerende Folgen. Sie
sind generell ein sehr untaugliches Instrument, wenn man von wenigen Fällen
absieht. Man muss immer vor Augen haben, dass sowohl die Straftaten in ihrer
Ausformung völlig unterschiedlich sind, als auch die Täterpersönlichkeiten.
Ein Strafrecht mit dem Ziel,
Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, muss Richter*innen ein
möglichst flexibles Instrumentarium geben. 
Das schafft man mit Mindeststrafen ab. Opferschutz muss immer auch die
Täter und die Auswirkungen der Strafe auf diese mitdenken. Es ist ein
schlechter Dienst an den Opfern, einfach blind auf den Täter hinzuhauen.
Parger: Das Strafrecht soll das Ziel verfolgen, eine
maßgeschneiderte Strafe für die Täter zu urteilen?
Scheiber: Genau! Das ist aus einem
humanistischen Zugang zum Strafrecht notwendig, aber auch ganz pragmatisch
wegen des Opferschutzes und des Schutzes der Gesellschaft. Die Fragen sollten
sein: Wie gelingt es, dass es möglichst wenige Straftaten gibt? Wie erreiche
ich eine geringe Rückfallquote? Dafür muss das Strafrecht flexibel sein, denn
einmal ist eine Haftstrafe angemessen, ein anderes Mal eine Therapie oder eine
Kombination aus beidem. 
Parger: Bei sexueller und familiärer Gewalt sind es
überwiegend Männer, die Frauen und Kindern Gewalt zufügen. Wie ist Ihre
Erfahrung mit dem Erfolg von Burschen- bzw. Männerarbeit? Wie sehr wird in der
Praxis ein Fokus darauf gesetzt, Anti-Gewalt-Training in einer Weisung zu
erteilen oder Burschen möglichst jung zu sensibilisieren?
Scheiber: Ich glaube, wir haben
immer noch zu wenig Angebote für männliche Gewalttäter. Es wird oft als
Schwäche ausgelegt, wenn sich Burschen oder Männer Therapien unterziehen. Das
Gewaltschutzgesetz vor 20 Jahren hat schon die Möglichkeit eröffnet, Männer bei
familiärer Gewalt aus der Wohnung zu weisen. Obwohl diese Regelung sehr
fortschrittlich war, hat man den Fehler gemacht, sich in Folge zu wenig um
diese weggewiesenen Männer zu kümmern. Das fällt letztlich allen Beteiligten
auf den Kopf.
Klemen: Wie entscheiden Sie in der Praxis? Welche Kriterien
werden bei der Beurteilung herangezogen, ob ein Täter während seiner Haftstrafe
Therapie machen muss oder nicht?
Scheiber: Hier muss unterschieden
werden. Wir haben einerseits den großen Bereich des Maßnahmenvollzuges:
psychisch kranke Täter, die nicht im normalen Strafvollzug unterkommen. Daneben
gibt es den normalen Strafvollzug mit verschiedenen Varianten. Wird eine Person
zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt, entscheidet das Gericht darüber, ob
Auflagen dazukommen, das heißt ob Weisungen erteilt werden. Das kann eine
Drogenentzugsbehandlung oder auch eine Anti-Aggressionstherapie sein. Spricht
das Gericht jedoch eine unbedingte Strafe aus [das bedeutet, dass der Täter in
Strafhaft kommt], dann obliegt diese Entscheidung dem Strafvollzug selbst, d.h.
der Gefängnisverwaltung und den Strafvollzugsinstanzen.
Klemen: Die Reform umfasst auch Änderungen im
Jugendstrafrecht. So soll der Strafrahmen von jungen Erwachsenen mit jenem von
Erwachsenen gleichgesetzt werden. Außerdem soll die Möglichkeit lebenslanger
Haftstrafen geschaffen werden. Unter 20-Jährigen lebenslange Haftstrafen zu
geben war zuletzt Anfang des 19. Jahrhunderts möglich. Halten Sie diese
Änderung für einen Rückschritt?
Scheiber: Es ist einfach die
Rückkehr des plumpen Vergeltungsgedankens. Dabei handelt es sich mit Abstand um
den schlimmsten Punkt in diesem Gesetzesvorschlag. Ich hoffe immer noch, dass
es nicht umgesetzt wird. Ich halte die Idee für bösartig und wider jeden Trend.
Eine Art Gegenaufklärung kann man sagen.
Parger: Sprechen wir über Ihr Buch Sozialdemokratie – letzter Aufruf. Dort schreiben Sie gleich zu
Beginn: „Wer wo im Gerichtssaal sitzt, ob jemand sich bei den Angeklagten, bei
den RichterInnen, bei den AnwältInnen oder SchuldnerInnen wiederfindet. Das
hängt stark von jenem Zufall ab, in welche soziale Umgebung, in welche Familie
er oder sie geboren wurde.“ Im Strafgericht wird auf Basis der individuellen
Schuld geurteilt. Es wird wenig über das familiäre Umfeld und über die soziale
Herkunft gesprochen. Wie könnte man mehr darauf eingehen?
Scheiber: Sieht man sich das österreichische
StGB an, so würde ich meinen, dass die Praxis dem Gesetz hinterherhinkt. Unser
Gesetz stammt aus den 1970er Jahren, einer stark aufklärerischen, progressiven
Phase der Justizgesetzgebung. Das Gesetz hat seit damals einen breiten
Horizont, ist menschenfreundlich und denkt unter Berücksichtigung der sozialen
Hintergründe. Das sieht man an einigen Formulierungen. Wenn man die Milderungs-
und Erschwerungsgründe betrachtet, ist erkennbar, dass die Milderungsgründe
deutlich überwiegen. Das Gesetz denkt schon weit in die Täterbiographien
hinein. Die praktische Umsetzung dessen ist eher unbefriedigend. Wir
beschäftigen uns in Österreich ausführlich mit der Tat, jedoch recht wenig mit
der Persönlichkeit des Täters. Das ist bereits bei einem Blick auf den
Akteninhalt erkenntlich. Rund 95% des Papieraktes drehen sich um die Tat und
ihre Modalitäten. In anderen Ländern, etwa in der Schweiz, ist dies anders.
Dort beschäftigt sich etwa ein Drittel des Aktes mit der Person. Auch Verfahren
werden anders geführt. So teilt man in anderen Ländern die Verhandlung in
verschiedene Abschnitte: Zunächst wird überprüft, ob es zu einem Freispruch
oder Schuldspruch kommt. Im Falle eines Schuldspruchs käme dann ein zweiter
Teil der Verhandlung, der sich mit der Person des Täters und der Frage nach
einer geeigneten Sanktion beschäftigt.
Klemen: Woran liegt es, dass es im Bereich der sexuellen
Gewalt zwar viele Anzeigen gibt, es aber im Verhältnis dazu zu wenigen
Verurteilungen kommt? Weil die Staatsanwaltschaft erst gar nicht Anklage gegen
die Verdächtigten  erhebt, sondern das
Verfahren einstellt?
Scheiber: Ich glaube der Knackpunkt
bei Sexualdelikten und bei dieser Form der familiären Gewaltdelikte ist, dass
es sich um eine besondere Form der Kriminalität handelt. Sie passiert meistens
ohne Zeug*innen. Das führt oft dazu, dass sich im Ermittlungsverfahren zwei
Aussagen gegenüberstehen. Daher ist die Geschwindigkeit bei solchen Delikten
von besonderer Bedeutung. Alles, was an Beweisen sehr schnell gesichert wird,
erleichtert eine Anklageerhebung. Je mehr Zeit vergeht, umso schwieriger wird
das. Aus diesem Grund würde ich den Schwerpunkt bei der Unterstützung der Opfer
setzen. Bereits einfache Handlungen, etwa das Fotografieren der Verletzungen,
können im Verfahren einen wesentlichen Unterschied machen. Darüber müssen Opfer
aufgeklärt werden. Wird das vergessen und kann man die Verletzung eine Woche
später nicht mehr erkennen, ist die Beweislage aus strafrechtlicher Sicht
bereits ganz anders.
Klemen: Sie haben bereits angesprochen, dass hier auch die
Umgebung, etwa Freunde, Bekannte und Nachbarn aufmerksam sein sollen.



Scheiber: Genau und ich glaube, dass
man auch gesetzlich etwas tun sollte, um klarzustellen, dass es jedenfalls
nicht gesetzwidrig sein kann, wenn Institutionen wie die Schule oder der
Kindergarten Verdachtsmomente mitteilen und Informationen weitergeben. Wir
merken oft eine Hemmung seitens der Lehrerschaft. Oft werden Informationen
nicht weitergegeben, aufgrund des „Datenschutzes“. Klar ist: Überall dort, wo auch
nur der Verdacht besteht, dass Menschen gefährdet sind, sollten diese
Überlegungen keine Rolle spielen dürfen.
Klemen: Vielen Dank für die spannenden Einblicke. Haben Sie
als Abschluss noch eine Botschaft, die Sie unseren Leser*innen mitgeben möchten?
Egal, in welcher Rolle jemand vor Gericht auftritt: Jeder hat ein Recht darauf, dass ihm die staatlichen Behörden zuhören! Es ist ausgesprochen wichtig, Menschen ernst zu nehmen und die Vielschichtigkeit von Situationen mitzudenken. Es lohnt sich stets, Menschen zumindest fünf ehrliche Minuten zu schenken, denn wenn man ihnen Raum gibt, haben sie auch etwas zu sagen.
Wer mehr über Oliver Scheiber erfahren will, kann ihm auf seinem Blog oliverscheiber.blogspot.com sowie auf Twitter folgen.
Information für Betroffene und Unterstützer*innen:
Frauenhelpline: 0800/222 555
(anonym, kostenlos, Onlineberatung)
Männerberatung: https://www.maenner.at

Gewaltfreie Nachbarschaften aufbauen: https://stop-partnergewalt.at

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Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat – Gastkommentar für DIE PRESSE

Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat

(c) Peter Kufner


Die Arbeit von Gerichten und Staatsanwaltschaften ist heute eine völlig andere als vor 50 oder 20 Jahren. Um den berechtigten Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen, muss sich die Justiz in vielen Bereichen ändern.


Der Wiener Jurist und Publizist Oliver Scheiber legt ein Buch zu Rechtsstaat und Justiz vor, in dem er in zehn Kapiteln die Funktionsweise des Rechtswesens beschreibt und Vorschläge zu Reformen und neuen Herangehensweisen in der Justiz unterbreitet. „Die Presse“ bringt einen exklusiven Abdruck von Thesen aus zwei Kapiteln, die auch für die laufenden Regierungsverhandlungen im Justizbereich Anstöße liefern können:

Eine funktionierende Justiz trägt dazu bei, einen Ort lebenswert zu machen. So wie das Bildungs- oder Gesundheitssystem bildet die Gerichtsbarkeit einen Eckpfeiler des demokratischen Rechtsstaats. Kompetente Familiengerichte schützen Kinderrechte, ein gutes Grundbuch- und Firmenbuchsystem stärkt den Wirtschaftsstandort, ein effizientes Strafrechtssystem schafft Sicherheit im Land.

Vorschläge zum Strafverfahren

Der Rechtsschutz im Strafverfahren sollte erhöht werden:
•Schaffung von drei statt bisher zwei Instanzen;
•Befreiung des Rechtsmittelverfahrens vom Formalismus der Nichtigkeitsgründe und sonstiger Formzwänge;
•Verpflichtende anwaltliche Vertretung in allen Strafverfahren und während jeder Anhaltung in Haft (nicht nur wie bisher in der Untersuchungshaft, auch in Strafhaft).
Eine verpflichtende anwaltliche Vertretung in allen Strafverfahren, von der Anklageerhebung über das Urteil bis hin zum Ende der Haftstrafe, entspräche dem Gebot der Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem und bedeutete einen (auch menschenrechtlichen) Qualitätssprung für das Strafrecht. Die verpflichtende anwaltliche Vertretung während der Zeit des Vollzugs der Strafe, also der Inhaftierung, wäre besonders wichtig.
Ein eigener Abschnitt der Hauptverhandlung sollte sich der Täterpersönlichkeit widmen.
Die verpflichtende Audio- und Videoaufzeichnung aller Vernehmungen und Verhandlungen macht die Nachprüfung aller Verfahren einfacher, schützt die Behörden vor falschen Vorwürfen und wäre ein einfaches Mittel zu guter Dokumentation und gutem Rechtsschutz.

Die Justiz im Wandel

Die Vorstellungen der Öffentlichkeit von Justiz sind einem laufenden Wandel unterworfen. Um den berechtigten Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen, muss die Justiz eine völlige Änderung ihrer Unternehmens- und Kommunikationskultur anstreben.
Die Arbeit von Gerichten und Staatsanwaltschaften ist heute eine völlig andere als vor 50 oder 20 Jahren. Die Ansprüche an ein faires Verfahren sind gestiegen. Rechtsanwaltschaft und Bevölkerung treten vor Gericht selbstbewusster auf. Die Aufgabe der Richterschaft hat sich verändert.
Personalauswahl: Die nächste Generation von Richterinnen und Richtern sollte bunter sein und die Zusammensetzung der Bevölkerung besser widerspiegeln. Anzustreben wären mehr Mobilität und ein häufigerer und einfacherer Wechsel zwischen verschiedenen Rechtsberufen. Bei der Personalauswahl ist es zukunftsweisend, kommunikativen und sozialen Fähigkeiten mehr Augenmerk zu schenken. Empathiefähigkeit und die Bereitschaft zuzuhören sind zentrale Kompetenzen von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten.
Der nötige Paradigmenwechsel sollte im Zusammenwirken mit den rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten erfolgen. Der juristische Nachwuchs sollte völlig anders ausgebildet werden. Durch die Entwicklung von Kreativität, besserer kommunikativer Kompetenzen, von mehr kritischem Denken und mehr politischem Bewusstsein. Eine leicht verständliche Sprache muss vom Beginn der Ausbildung an als hoher Wert vermittelt werden.
Die Justizausbildung benötigt eine Justizakademie, um einen Qualitätssprung zu machen. Eine ressourcenmäßig ordentlich ausgestattete Akademie könnte bisherige Mankos in Personalauswahl und Ausbildung beim Justizpersonal ausgleichen: Sie könnte eine Diversity- und Didaktikstrategie entwickeln, die Gesellschaft durch gezielte Anwerbung von Menschen mit Migrationshintergrund oder mit einer Behinderung im Justizpersonal besser abbilden und bisher vernachlässigten Bereichen wie politischer Bildung, Soziologie, Psychologie/Psychiatrie Raum in der Ausbildung einräumen.
Eine höhere Durchlässigkeit und Bewegung zwischen den Rechtsberufen bringen mehr Wissen und Erfahrung in die Justiz. Maßnahmen und Strategien, die zum Wechsel zwischen Rechtsanwaltschaft und Richterberuf motivieren, sind hier notwendig.
Zudem benötigt die Justiz mehr wissenschaftliche Studien. Zu nahezu allen Rechtsbereichen besteht wenig an interdisziplinärer juristisch-soziologischer Forschung. Daher mangelt es in zentralen Feldern wie dem Familen- und Strafrecht an gesicherten Grundlagen und Daten für eine zukunftsweisende Steuerung und Weiterentwicklung.
Die Ressourcenlage der Justiz ist aktuell prekär. Es werden dringend Investitionen benötigt, um den Kanzleibereich der Gerichte zu einem modernen Sekretariatswesen weiterzuentwickeln, in dem die Teamarbeit zentral ist.
Die Digitalisierung des Justizbetriebs muss sich der modernsten Angebote bedienen; durch den Kostendruck der letzten Jahre wurde auf Systeme gesetzt, die schon bei ihrer Einführung veraltet waren. Langfristig ist das der teurere Weg.

Mehr Flexibilität

Die Justizverwaltung benötigt mehr Flexibilität. Entsprechend ausländischen Vorbildern sollten alle Führungsfunktionen der Justiz neu ausgeschrieben werden. Bewerber sollten sich zu einem auszuarbeitenden Leitbild bekennen müssen, das faires Verfahren, Grundrechte, Bürgernähe und Verständlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Die Leitungsfunktionen bei Gerichten und Staatsanwaltschaften sollten nicht mehr auf Lebenszeit, sondern befristet vergeben werden.
Alle Justizorgane sollten ähnlich dem Bildungs- und Gesundheitssektor regelmäßig mittels Fragebögen durch Verfahrensparteien sowie Anwältinnen und Anwälte evaluiert werden.
Eine neue Unternehmenskultur im Familien-, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht muss durch runde Tische, Fallkonferenzen und kurzfristig einberufene Besprechungen mit allen Beteiligten gekennzeichnet sein.
Oliver Scheiber: „Mut zum Recht! Plädoyer
für einen modernen Rechtsstaat“.
232 Seiten, Falter Verlag, 2019.
Scheibers Buch wird am Montag, den
2. Dezember, um 18.30 Uhr in der Musiksammlung der Wien-Bibliothek, Wien 1, Bartensteingasse 9, präsentiert.


E-Mails an:debatte@diepresse.com


DER AUTOR

Oliver Scheiber (* 1968) ist Jurist, Richter in Strafsachen und seit 2009 Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling in Wien. 1999 bis 2000 leitete er die Justizabteilung an der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU in Brüssel; 2007 bis 2008 arbeitete er im Kabinett von Justizministerin Maria Berger. Zahlreiche Publikationen, Lehrbeauftragter.

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Interview für den falter 48/19 – „Wir Richter müssen politische Menschen sein“

„Wir Richter müssen politische Menschen sein“

Die Justiz stirbt den leisen Tod, klagt der Justizminister. Der Strafrichter Oliver Scheiber stimmt zu. Ein Gespräch über Klassenjustiz und die Ohnmacht der Bürger vor Gericht



FLORIAN KLENK



Politik,
FALTER 48/19

vom 27.11.2019


Es gibt nicht viele Strafrichter, die sich auch als Citoyens verstehen und öffentlich das Wort ergreifen. Der Leiter des Bezirksgerichts Meidling, Oliver Scheiber, ist so einer. Im Falter Verlag hat der schillernde Jurist soeben seine Streitschrift „Mut zum Recht!“ vorgelegt. Das Buch wird am 2. Dezember in der Bartensteingasse 9 präsentiert. Ein Gespräch über die notwendigen Reformen bei Gerichten und in Gefängnissen und den Wert von Literatur für Juristen.
Falter: Herr Scheiber, in Ihrem neuen Buch beklagen Sie, die Strafjustiz habe es vor allem auf kleine Kriminelle abgesehen, von denen am wenigsten Widerstand zu erwarten sei. Nun haben vorvergangene Woche Hausdurchsuchungen bei zwei ehemaligen Finanzministern, beim Generalanwalt von Raiffeisen, beim ehemaligen Vizekanzler und beim Ex-Finanzstaatssekretär stattgefunden, sowie bei zwei Bossen der Glücksspielindustrie – ist die scharfe Klassenjustiz-These Ihres Buches überholt?
Oliver Scheiber: Ganz und gar nicht. Mein Buch wirft einen Blick auf das System Strafrecht, nicht auf einzelne Fälle oder Prozesse. Praktisch in allen Staaten der Erde haben Strafgerichte und Anklagebehörden eher die kleinen Delinquenten im Auge, während die Verfolgung der großen Verbrechen schleppend, wenn überhaupt erfolgt. Das ist eine Schieflage, über die wir sprechen müssen.
Wir erleben derzeit weitreichende Ermittlungen in den Schaltzentralen der früheren Regierung. Macht Ihnen das Hoffnung?
Scheiber: Die Ermittlungen, die wir derzeit erleben, sind in der Geschwindigkeit und Effizienz tatsächlich auffällig. Die politische Lage hat sich in Österreich seit Ibiza und seit dem Misstrauensantrag gegen die Regierung Kurz/Strache aber auch völlig neu gemischt. Wir beobachten Entwicklungen, die wir so noch nicht kennen. Dass die Wirtschafts-und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) so entschlossen vorgeht, so schnell Beweise sichert und weiter sucht, ist auf jeden Fall bemerkenswert. Und dass das gerade unter einer parteipolitisch unabhängigen Beamtenregierung passiert, dieser Zusammenhang fällt jedem auf, der diese Systeme seit langem beobachtet.
Gerade noch stand die WKStA unter enormem Beschuss. Sie habe sich, so der Vorwurf, in der Affäre rund um die Razzia des Bundesamts für Verfassungsschutz (BVT) von FPÖ-Innenminister Herbert Kickl antreiben lassen und sich in der Eurofighter-Affäre in einen medial ausgeschlachteten Kleinkrieg mit dem Justizministerium verwickelt.
Scheiber: Die jüngste Bilanz der WKStA ist durchwachsen. Aber sie ist eine enorm wichtige Institution. Die Gründungsidee anno 2008/09 war, den Forderungen von Wissenschaft und Europarat nachzukommen. SPÖ-Justizministerin Maria Berger, bei der ich im Kabinett arbeitete, wollte damals eine von Weisungen des Ministeriums unabhängige Anklagebehörde schaffen. Das war politisch nicht durchzusetzen. Strafbar gestellt wurde das sogenannte Anfüttern und mit Walter Geyer …
…. dem ehemaligen grünen Justizsprecher und Wirtschaftsstaatsanwalt, der heute im grünen Verhandlungsteam sitzt …
Scheiber: … hatte die Behörde eine über alle Parteigrenzen hinweg akzeptierte fachlich herausragende Persönlichkeit an der Spitze.
Blicken wir nun nach unten. Sie haben als Bezirksrichter rund 15.000 Verfahren abgewickelt, in Ihrem Buch schildern Sie einige sehr verstörende Fälle, wo Kranke, Arme, Traumatisierte und Suchtkranke mit der vollen Wucht des Gesetzes rechnen müssen. Eine junge, drogenkranke Frau sei wegen eines Schadens von 3000 Euro mehr als drei Jahre gesessen.
Scheiber: Dieser Fall berührt mich heute noch. Die Frau war sehr lange drogensüchtig, also psychisch erkrankt, und wurde immer wieder rückfällig, um die Sucht zu finanzieren. Sie stahl Kosmetika. Ihre Vorstrafen wurden schlagend und irgendwann musste sie drei Jahre absitzen, weil man Gewerbsmäßigkeit angenommen hat. Das ist völlig unangemessen.
Einer Ihrer Vorwürfe lautet zugespitzt: Das Schwert des Strafrechts trifft die Armen. Wörtlich schreiben Sie: „So entsteht eine zynische Klassenjustiz.“ Das ist ein harter Vorwurf.
Scheiber: Ehe jetzt die Empörung losbricht: Der Vorwurf richtet sich gegen das System, nicht gegen einzelne Richter und Ankläger. Die Frage ist immer, wen man sich vorknöpft, wo man überhaupt sucht, wer ins Gefängnis kommt und wer nicht, bei wem Hausdurchsuchungen gemacht werden und bei wem nicht, bei wem Telefonüberwachungen gemacht werden und bei wem nicht. Setzen wir unsere Instrumentarien gleich ein? Das beste Beispiel ist für mich die Umweltkriminalität.
Die Kriminalstatistik registriert anno 2017 nur eine einstellige Zahl an Verurteilungen wegen Umweltdelikten.
Scheiber: Das ist sicher unangemessen. Es gibt derartig viele offenkundige Umweltvergehen -man braucht nur ans Görschitztal denken -, wo die Strafrechtspraxis zahnlos ist. Stellen wir uns nun vor, wir hätten eine Sonderbehörde für Umweltkriminalität mit 20 Sonderstaatsanwälten. Wir haben ja auch Sondereinheiten für Drogenkriminalität, für Straßenkriminalität oder für Einbruchsdiebstähle.
Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass sich Richter aus einer recht homogenen Gruppe rekrutieren und zu sehr eine sich selbst rekrutierende Klasse bilden.
Scheiber: Ja , wir sind immer noch zu wenig „bunt“. Unsere Richterschaft ist zum Beispiel sehr jung, die Biografien sind üblicherweise Gymnasium, Universität, der Eintritt in den Justizdienst, Ruhestand. Ich glaube aber, dass es sehr wichtig wäre, den Beruf aufzumachen für Leute mit anderen Berufserfahrungen. Rechtsanwälte, aber auch Leute, die zehn Jahre in der Privatwirtschaft oder in der Sozialarbeit waren und dann völlig quereinsteigen wollen, sollten Richter werden können. Wir haben in den letzten Jahren aber schon sehr viele Leute mit Doppelstudien -Wirtschaft vor allem -aufgenommen. Aber mehr Doppelausbildungen aus dem Bereich Psychologie, Soziologie und Ähnlichem würden uns guttun.
Eines der stärksten Kapitel Ihres Buches kreist um die Frage, was Richter aus Literatur und Kunst lernen können. Sie zitieren ausführlich Anatol Frances Justiz-Drama „Crainquebille“. Warum ist das Schicksal dieses Mannes für Sie heute noch so wichtig?
Scheiber: Weil es die Ohnmacht gut zeigt, in die Beschuldigte fallen; die schwierige Lage, in der jeder ist, der vor Gericht steht. Es geht um einen kleinen Gemüsehändler, dem zu Unrecht ein Mini-Delikt vorgeworden wird – die Beleidigung eines Polizisten. Er weiß, dass er unschuldig ist. Aber der Übermacht von Polizei und Justiz, die ihm da etwas vorwirft, was er nicht getan hat, steht er machtlos gegenüber. Denn der Richter glaubt dem Polizisten nur deshalb, weil er Polizist ist. So kommt es binnen kürzester Zeit dazu, dass sich der Unschuldige selbst schuldig fühlt und nun darüber nachdenkt, wie er seine Schuld tilgen kann, die gar nicht existiert. Es gibt einen Stummfilm zu diesem Roman, wo die Richter überlebensgroß werden. Auch unsere Rituale, die Sprache, in alten Gebäuden auch die Architektur wirken auf Beschuldigte monströs.
Der Justizpalast ist immer noch eine Kathedrale des Rechts, in der der Untertan wie ein Winzling wirkt. Im Grauen Haus fühlt sich der Bürger sofort verschluckt wie bei Kafka. Die Richterbank ist erhöht, der Angeklagte sitzt auf der knarzenden Beschuldigtenbank und hat nicht einmal Platz, seine Akten vor sich auszubreiten.
Scheiber: Langsam ändert sich die Architektur. Gerichtsneubauten sind völlig anders. Das neu sanierte Gericht in Salzburg zum Beispiel ist ein transparenter Bau geworden. Die Richter kommunizieren auf Augenhöhe.
Aber ist das nicht auch wieder nur ein Schein? Ein Richter übt ja tatsächlich Gewalt aus. Er ist kein Case-Manager und kein Sozialarbeiter, er kann die Bürger fesseln lassen.
Scheiber: Richtig. Ich will auch nicht den Anschein erwecken, als hätte der Richter keine Macht. Das soll von Beginn an klar sein. Aber das kann man auf verschiedene Weise kommunizieren. Das muss ich nicht durch Kreuze oder Riesenadler oder Talare zeigen. Das kann ich auch durch ein Gespräch kommunizieren.
Die Sprache der Gerichte ist für Bürgerinnen und Bürger oft komplett unverständlich. Ist das eine Machtdemonstration?
Scheiber: Bei den wenigen Erhebungen, die wir dazu machen, wie die Justiz ankommt in der Bevölkerung, ist die Verständlichkeit immer der Hauptkritikpunkt. Wir müssen Verständlichkeit von Urteilen als Wert erkennen. Eine komplizierte Sprache hindert den Zugang zum Recht, verhindert Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Wenn Richterinnen und Richter gut arbeiten und dann das Urteil so verschachtelt formulieren, dass auch Maturanten nicht auf den ersten Blick sehen können, wer den Prozess gewonnen hat, dann ist viel der guten Arbeit umsonst. Was sich aber im Strafrecht noch immer hält, ist eine gewisse Brutalität der Sprache, ein sprachlicher Popanz, der sich auch bei kleinen Ganoven so liest, als wäre eine Bagatelle das schwerste Verbrechen. Es geht das Augenmaß verloren: Okay, da hat einer ein Problem, er hat was Falsches gemacht, aber es waren nur 250 Euro.
Es zieht sich durch das Buch, dass es Alltagsfälle gibt -Raufereien in Parks, kleine Dramen in Familien, Notfälle, Kinder, die ihre Eltern verlieren und durchdrehen -, die mit einer unglaublichen Empathielosigkeit abgehandelt werden. Warum ist das so?
Scheiber: Weil wir auch eine Bürokratiemaschine sind, die alle Fälle ablaufmäßig gleich behandelt und die nicht darauf trainiert ist, dem einzelnen Menschen sehr viel Zeit zu widmen. Das ist eine Tradition unseres österreichischen Strafrechts, dass wir sehr stark auf die Tat schauen -was ist da passiert, hat der das tatsächlich begangen oder nicht? – und sehr wenig auf die Persönlichkeiten. Die Schweiz macht das anders. Die widmet sehr viel Zeit und Aktenteile der Täterpersönlichkeit. Ich glaube auch, dass unsere juristische Ausbildung sehr technokratisch ist, berechtigterweise sehr stark den Gesetzestext oder die juristischen Details, Verfahrensordnungen, Formalpunkte im Auge hat, daneben aber viel zu wenig den Menschen, gesellschaftliche Zusammenhänge und Kommunikation.
In Ihrem Buch findet sich der Satz: „Die alten Nazis prägten mit ihrer autoritären und menschenverachtenden Haltung die Strafjustiz sehr lange. Die Nachwirkungen dieses Weltbilds waren vor allem an den Strafgerichten bis in die 1990er-Jahre spürbar.“ Und die Staatsanwaltschaft Graz schrieb kürzlich: „Es ist nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte (…), da sich unter den Inhaftierten (unbestritten) Rechtsbrecher befanden.“ Hat die Justiz heute auch noch ein NS-Problem?
Scheiber: Nein, der Satz ist nicht repräsentativ für die österreichische Justiz und das Ministerium hat sofort reagiert. Es hat uns trotzdem enorm getroffen. Das Problem liegt woanders: Dort, wo es reine Strafgerichtshöfe gibt, in Wien und Graz, verändern sich auch die Juristinnen und Juristen. Es ist menschlich, soziologisch und psychologisch nachvollziehbar, dass, wenn Menschen Jahrzehnte mit Verbrechen zu tun haben, deren Weltbild ein anderes ist, als wenn sie sich einmal mit einem familienrechtlichen Problem und einmal mit einem aktienrechtlichen Problem beschäftigen. Da entsteht eine Art Tunnelblick. Richter sollten deshalb durch verschiedene Arbeitsbereiche rotieren und nicht ein Leben lang nur Strafrecht oder nur Familienrecht machen.
Einen großen Teil des Buches widmen Sie auch den Gefängnissen, die voll sind wie nie.
Scheiber: Die ungefährlichen Leute müssen endlich anders „bestraft“ werden. Gefängnisse sollten gefährlichen Leuten vorbehalten sein, Leuten, die jemandem an den Kragen gehen, die Körperverletzungsdelikte in wiederholtem oder schwerem Ausmaß begehen und die von einer schweren Vermögenskriminalität nicht abzuhalten sind. Gefängnisse sollten nicht da sein für Leute, die, aus welchen Gründen auch immer, immer wieder kleinere Vermögensdelikte begehen.
Sie kritisieren in Ihrem Buch die sogenannten „Salzburger Beschlüsse“, mit denen sich die Richterschaft parteipolitische Distanz auferlegt. Sie schreiben, dies führe zu einer „Verdammung alles Politischen“. Es sei „ein unnötiger atmosphärischer Graben“ entstanden. Sollen Richter wieder politischere Menschen werden?
Scheiber: Mir geht es nicht um Parteipolitik. Richter sollen Distanz zur Parteipolitik halten. Aber Richter müssen politische Menschen sein in dem Sinne, dass sie die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in allen Dimensionen wahrnehmen. Ich plädiere für eine gemeinsame gesellschaftliche Zusammenarbeit von Politik und Rechtsberufen, die im Moment zu wenig stattfindet. Fehlender Diskurs erschwert die Verbesserung des Systems. Das mag zum Teil an der Politik liegen, aber ich kann mich an Zeiten erinnern, wo der Justizausschuss im Parlament ein wirklich spannendes Gremium war, weil dort leidenschaftliche Juristen drinnen waren und es gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit mit Vertretern der Richterschaft gegeben hat.
Das heißt, die Politik verliert das Interesse an der Justiz und umgekehrt? Ist das der Grund für den stillen Tod der Justiz?
Scheiber: Es gibt eine wechselseitige Entfremdung. Und wir sehen in den Nachbarstaaten, wo autoritäre Tendenzen greifen, wie wichtig der Rechtsstaat für eine Demokratie ist. Die Polizei geht offensiv in die Medien, meiner Meinung nach schon zu offensiv. Wir haben heute Fernsehsendungen, wo Fernsehteams Polizisten begleiten, wie sie an Wohnungstüren läuten und den Leuten Vorhaltungen machen und fragen, ob sie in die Wohnung schauen dürfen. Das kann nicht der Weg der Justiz sein. Der Weg der Justiz wäre eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, wo man die Tätigkeit erklärt. Das würde ich mir wünschen. Ich sehe auch die Gefahr, dass sich der öffentliche Dienst gar nicht mehr zu Wort meldet, wenn Grundrechte verletzt oder bedroht werden. Wir müssen uns zum Beispiel eingestehen, dass uns beim Asylrecht wirklich der Rechtsstaat wegrutscht. Gewichtige Stimmen aus der Rechtsanwaltschaft bestätigen das.
Und warum schweigt die Beamtenschaft? Aus Feigheit oder aus parteipolitischer Enthaltsamkeit?
Scheiber: Wir haben traditionell eine stark obrigkeitsstaatliche Haltung. Ich glaube, dass auch die Befristung der höheren Beamten mitspielt. Die Befristung der Sektionschefs hat dazu geführt, dass das Josephinische Beamtenverständnis unter die Räder kommt. Leute, die sich keiner Partei, sondern nur der Republik und nur dem Recht verpflichtet fühlen, sind unter Druck geraten. Das zieht sich durch bis unten, weil auch der Sachbearbeiter seine Karriere gefährdet, wenn er sagt: „Ich finde das Schild Ausreisezentrum nicht okay in Traiskirchen.“
Die letzte Seite Ihres Buches ist der Klappentext: Da steht geschrieben, seit Christian Broda -das war der letzte sozialdemokratische Justizreformer – habe es ein solches progressives Plädoyer für die Erneuerung der Justiz nicht gegeben. Herr Scheiber, wollen Sie in die Politik wechseln?
Scheiber: (Lacht.) Nein.
Oliver Scheiber
geboren 1968, ist Jurist, Strafrichter und Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling. 1999-2000 leitete er die Justizabteilung an der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU in Brüssel. Er arbeitete im Kabinett von Justizministerin Maria Berger (SPÖ) und ist Vorstandsvorsitzender des Instituts für Rechts-und Kriminalsoziologie

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