Das Grundrecht Gesundheit – nicht für alle?

Kommentar der Anderen für den Standard vom 17.4.2020

Oliver Scheiber

Das Grundrecht Gesundheit – nicht für alle?

In der Krise sind Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entstanden, deren Recht auf Gesundheit und Leben unterschiedlich geschützt wurde
Oliver Scheiber


Im Gastkommentar fordert der Richter Oliver Scheiber, dass Grundrechtsdiskussionen künftig breiter geführt werden müssen. Etwa in der Umwelt- und Klimafrage.

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben Grundrechtsdiskussionen ausgelöst. Es geht zum einen um die Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen, die in die Grundrechte der persönlichen Freiheit, des Privatlebens, der Erwerbsfreiheit und der Versammlungsfreiheit eingreifen. Und zum anderen um die App des Roten Kreuzes, ein Warnsystem, das mit einem Datenabgleich verbunden ist.
Gesetzliche Eingriffe, Grundrechtseingriffe im Besonderen, beruhen in der Regel auf Abwägungen. Wenn man in seiner Wohnung in der Nacht Musik nicht unbegrenzt laut spielen darf, dann bedeutet das für den, der gern laut Musik hört, eine Einschränkung. Zugleich schützt es aber die Freiheit des Nachbarn, ruhig zu schlafen. Und so ist das bei den meisten gesetzlichen Vorgaben. Tempolimits im Straßenverkehr stören den, der gern schnell fährt, sie schützen aber Gesundheit, Leben, Ruhe der anderen und sollen den Schadstoffausstoß reduzieren.

Vernünftiger Ausgleich

Die meisten Grundrechtseingriffe führen uns also zur Frage der Verhältnismäßigkeit: Eingriffe sind so auszugestalten, dass sie einen vernünftigen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung schaffen oder zwischen Interessen des Einzelnen und denen der Allgemeinheit oder des Staates. Handyüberwachung etwa ist ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre, aber nach überwiegender Ansicht zur Aufklärung der allerschwersten Straftaten und unter richterlicher Kontrolle ein verhältnismäßiges Mittel des Strafrechts.
Diese Verhältnismäßigkeit dient als Schlüsselkriterium, wenn wir Grundrechtseingriffe auf ihre Legitimität und Sinnhaftigkeit prüfen. Das andere, bisher viel zu wenig beachtete Kriterium, ist jenes der Gleichheit. Wenn wir aus der Vogelperspektive auf die Vielzahl der grundrechtsrelevanten staatlichen Regelungen und Eingriffe blicken, erfolgen all diese Maßnahmen im Idealfall unter dem Postulat der Gleichbehandlung aller Menschen. Es soll nicht bei der einen Gruppe mehr, bei der anderen weniger Eingriffe geben, und es dürfen nicht verschiedene Schutzniveaus entstehen.

Schutz für Bevölkerung

Bei den Corona-Maßnahmen geht es primär darum, eine Überlastung des Gesundheitswesens und damit sehr hohe Sterberaten zu verhindern. Geschützt werden soll die gesamte Bevölkerung in ihrem Recht auf Leben und Gesundheit durch diverse Beschränkungsmaßnahmen, die viele treffen. Die Ausgangsbeschränkungen und Geschäftssperren sind grundrechtlich gut vertretbar, wenn sie auf Basis wissenschaftlicher Bewertung zielgerichtet und befristet eingesetzt werden. Gerade die oft beklagten Einschränkungen beim Joggen oder bei Städtereisen sind wohl sehr gut zumutbar und angemessen, um viele schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern. Die Beschränkungen sind es auch wert, wenn es ausschließlich um den Schutz des besonders exponierten Gesundheitspersonals geht. Wenn wir nicht an unseren sozialen und zivilisatorischen Errungenschaften kratzen wollen, sind Beschränkungen auch gerechtfertigt, wenn sie nur die Gruppe sehr alter Menschen schützen.
Die schwierigeren Fragen sind jene unter dem Gleichheitsaspekt: Die Geschäftsschließungen hatten das Ziel, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit starkem Kundenkontakt und damit Infektionsrisiko zu schützen. War es so gesehen vertretbar, Supermarktpersonal und Reinigungskräfte wochenlang ungeschützt weiterarbeiten zu lassen? Und ist es vertretbar, ausgerechnet das Personal der Baumärkte frühzeitig wieder in den Kundenkontakt zu schicken?

Verpflichtung zur Weiterarbeit

Tatsächlich sind mehrere Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entstanden, deren Recht auf Gesundheit und Leben unterschiedlich geschützt wurde. Medizinisches Personal hat zu Recht von Beginn an nach Schutzkleidung verlangt; langsam sehen wir, dass auch bei Supermarktkassen gute Plexiglaslösungen möglich sind. Zumindest im Nachhinein scheint, dass das Supermarkt- und Trafikpersonal oder auch Zusteller lange unzureichend geschützt wurden. Das grundrechtliche Problem liegt also weniger bei den Ausgangsbeschränkungen und Schließungen, als bei der Verpflichtung einzelner Arbeitnehmergruppen zur Weiterarbeit unter unzureichenden Schutzmaßnahmen.


Schutzmaßnahmen im Lebensmittelhandel kamen erst relativ spät.

Foto: APA / Helmut Fohringer
Grundrechtsdiskussionen benötigen in der Zukunft einen breiteren Ansatz. Das gilt etwa für die Umwelt- und Klimafrage. Wenn die Durchschnittstemperaturen und Feinstaubbelastungen rasch ansteigen, dann bedroht das nach unserem heutigen Wissensstand massiv Gesundheit und Leben von Menschen. Handeln wir also so entschlossen, wie das in den letzten Wochen praktiziert wurde: Großräumige Fußgänger- und Begegnungszonen, niedrige Tempolimits und geänderte Grenzwerte für Maximalverbrauch und Schadstoffausstoß von Fahrzeugen sind verhältnismäßige und gebotene Mittel, die Gesundheit der breiten Bevölkerung zu schützen.

Neuverteilung der Macht

Die grundrechtliche Lehre aus der Corona-Pandemie sollte sein, dem gesundheitlichen Schutz der Allgemeinheit mehr Bedeutung beizumessen und das Entstehen besser und schlechter in ihrer Gesundheit und in ihrem Leben geschützter Gruppen von Menschen zu vermeiden. Das gelingt nicht ohne eine Neuverteilung gesellschaftlicher Macht: Denn der gute Lebensstil von vielen ging die letzten Jahrzehnte auf Kosten der Gesundheit und Freiheit von noch viel mehr Menschen. Eine grundrechtsorientierte neue Politik umfasst radikale Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen genau so wie eine bedingungslose Seenotrettung im Mittelmeer.
Corona hat gezeigt, zu welchen Anstrengungen unsere Gesellschaften im Stande sind; nutzen wir sie dazu, allen Menschen ihre auf dem Papier garantierten Rechte tatsächlich zukommen zu lassen. (Oliver Scheiber, 17.4.2020)

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Florian Zillner: Rezension zu „Mut zum Recht“

Für die österreichische Richterzeitung hat Florian Zillner mein Buch „Mut zum Recht“ rezensiert. Der Text ist in der Richterzeitung 2020/1-2 erschienen (S. 26)

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Rezension: „Mut zum Recht“ von Oliver Scheiber
Dem viel beschworenen „leisen Tod“ der Justiz setzt Oliver Scheiber Visionen entgegen. Mit seinem Buch „Mut zum Recht“ formuliert der Wiener Strafrichter ein leidenschaftliches Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat. In seiner Streitschrift spart der Autor nicht mit Kritik am System, warnt vor einer Klassenjustiz und verlangt von seinen Kolleg*innen mehr politisches Engagement. Hat er damit wirklich recht?
Das Jahr 2019 stellte die heimische Justiz vor große und viel diskutierte Herausforderungen: Durch die jahrelangen und zusätzlich verschärften Einsparungen und die weitreichende Reduktionen im Personalbereich an den Rand der Funktionstüchtigkeit gedrängt. BVT-Affäre und öffentlich ausgetragene Konflikte zwischen WKStA und Zentralstelle. Ein Justizminister, Mitglied einer einzigartigen Expertenregierung, der von einem „stillen Tod der Justiz“ sprechen muss und in einem viel beachteten Wahrnehmungsbericht nicht bloß personelle, sondern auch dramatische strukturelle Mängel in der Gerichtsbarkeit, Strafvollzug sowie Maßnahmenvollzug aufzeigt.
Das Ende November im Falter-Verlag erschienene Buch des Vorstehers des BG Meidling Oliver Scheiber greift all diese Entwicklungen auf. Der Autor begnügt sich allerdings nicht mit einem Lamento über die herrschenden Zustände. Herausgekommen ist eine außerordentliche Streitschrift. Entgegen der sonstigen, zwar verständlichen, aber größtenteils lähmenden Gepflogenheiten übt der Autor offene Kritik. Nicht nur an der Politik, sondern auch an der Justiz und ihren Protagonisten.
Die Medien nahmen das Buch mit Begeisterung auf. Nikolaus Lehner nannte das Buch in der Wiener Zeitung ein Gesamtkunstwerk und Manifest. Für die Wochenzeitung „Falter“ ist der Autor nicht bloß Strafrichter, sondern „Citoyen.“ Der Standard sieht in Oliver Scheiber „das Gegenteil von Betriebsblindheit.“ und kürt ihn kurzer Hand zum „obersten Justizkritiker“.
Die kollegiale Skepsis schlägt bei derartigen Jubelmeldungen sofort Alarm: Handelt es sich wirklich um das progressivte Plädoyer für eine Erneuerung der Justiz seit Chrisitan Broda? Wäre es nicht einfacher, das Buch zu verdammen und den Autor am besten gleich mit? Stichwort „linke Justiz“?
Immerhin bemühte sich die Richterschaft jahrzehntelang darum, ihren Mitgliedern das Versprechen abzuringen, sich nicht politisch zu äußern. Von den Richter*innen wurde – und wird – Zurückhaltung und Distanz zum politischen Tagesgeschäft gefordert. Immer mit dem Ziel vor Augen, dadurch jeglichen Anschein von Parteilichkeit oder gar Parteinahme zu vermeiden.
Oliver Scheiber bricht bewusst mit der Konvention, die sich die Richterschaft spätestens mit den Salzburger Beschlüssen auferlegt hat. Er macht klar, dass er die Distanzierung – Verdammung, wie er es nennt – allen Politischen innerhalb der Richterschaft für falsch hält. Durch sie sei schleichend ein unnötiger atmosphärischer Graben zwischen Politik und Justiz entstanden. Ähnliches macht er im Verhältnis zu den Medien aus. Auch hier gelinge es nicht, eine Kommunikation auf Augenhöhe herzustellen. Nur im Verband mit Politik und Medien sei es aber möglich, den Rechtsstaat zu reformieren und letztendlich auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.
Das Ziel, das Oliver Scheiber in zehn Kapiteln und jeweils darauf aufbauenden Thesen verfolgt, tritt mit der notwendigen Klarheit hervor: Einerseits die Verteidigung und andererseits die Fortentwicklung des liberalen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats.
Sein Hauptaugenmerk richtet Scheiber dabei immerzu auf die Rechtsunterworfenen. Ohne unnötig zu skandalisieren wird der Umgang der heimischen Justiz mit jenem Teil der Bevölkerung analysiert, dem der Autor im richterlichen Berufsalltag begegnet. Das ehemalige Kabinettsmitglied im BMJ sucht dabei nach den Ursachen für Fehlentwicklungen und findet sie in allen Bereichen. Sowohl interne als auch externe Faktoren macht er dafür verantwortlich, dass die guten Leistungen der Justiz nicht mehr Akzeptanz in der Bevölkerung fänden. Der mangelnde Rückhalt erleichtere es wiederum populistischen Strömungen in der Politik, schlechten Einfluss auf den Rechtsstaat zu nehmen oder die Unabhängigkeit von gerichtlichen Entscheidungen in Frage zu stellen. Inhaltlich spannt er dabei den Bogen von der französischen Literatur an der Wende zum 20. Jahrhundert hin zu den Niederungen eines Verhandlungstages in Strafsachen am BG Meidling.
Die Analysen sind eindeutig und bestechend scharf formuliert. Sie sind richtig und tun weh. Wenn Scheiber etwa über den Sprachgebrauch von Jurist*innen schreibt, den er für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als unverständlich bezeichnet. Oder die Behauptung aufstellt, dass sich die Strafgerichtsbarkeit zu sehr auf die minderschwere Kriminalität konzentriert und sich vor der Verfolgung wirtschaftlich potenter Täter*innen drückt. Letztendlich gelingt Oliver Scheiber der Beweis, dass das Rechtssystem (unbewusst?) zwischen arm und reich unterscheidet und dies – auch – von der Richterschaft großteils widerstandslos hingenommen wird.
Man will diesen Befund nicht teilen. Einfacher wäre es, ihn erbost zurück zu weisen. Doch dazu sind die Beobachtungen des Autors zu präzise und dessen Ableitungen nicht widerlegbar. Schadet er damit dem Ansehen der Gerichtsbarkeit? Erweist er den Richter*innen und Staatsanwält*innen einen Bärendienst, indem er zu sehr auf die Versäumnisse des Systems hinweist?
Mitnichten. Das Buch verteilt keineswegs die Schuld selbstgerecht an die Kollegenschaft. Wiederholt verweist Oliver Scheiber auf die hervorragenden Leistungen der Justiz im internationalen Vergleich. Vielmehr bildet der Text eine Wirklichkeit ab, die eben existiert. Die sich tagtäglich an jedem Gericht in Österreich abspielt. Eine Wirklichkeit, welche die Entscheidungsorgane vor große Herausforderungen stellt und von diesen gemeistert wird. Der Text beschränkt sich zwar großteils auf den Strafbereich, würdigt dennoch den wertvollen Beitrag, den Kolleg*innen abseits davon zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten.
Allzu oft wird dies als eine reine Selbstverständlichkeit abgetan. Nur Recht und Justiz sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie bedürfen des aufopferungsvollen Einsatzes der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Darin besteht die Leistung dieses Buchs. Es formuliert den Anspruch an das System, die Politik und die Mitarbeiter*innen gemeinsam für den Erhalt des Rechtsstaats zu kämpfen. Alleine die Nennung der großen Zahl seiner Mitstreiter*innen aus Justiz, Kultur, Politik und Medien und bietet durchaus Grund zum Optimismus, dass Zustände wie sie in Polen oder Ungarn herrschen, auf absehbare Zeit in Österreich nicht Einzug halten können.

Wenn das Buch daher Politik machen will, dann bitte mehr davon!


Florian Zillner


(Florian Zillner ist Richter in Oberösterreich)

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Interview mit anwalt aktuell

„Mut zum Recht“

OLIVER SCHEIBER
Jusstudium (Dr. iur.) in Salzburg, 1995 Ernennung zum Richter in Wien. 1999–2000 Leiter der Justizabteilung bei der Europäischen Kommission, Justizattaché im Rat der Europäischen Kommission. 2007–2008 Stv. Kabinettschef unter Justizministerin Dr. Maria Berger. Seit 1.1.2009 Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling, Wien.
PLÄDOYER. In seinem Buch „Mut zum Recht“ listet Richter und Gerichtsvorsteher Oliver Scheiber 10 Themen zur Verbesserung der österreichischen Justiz auf. Im Gespräch mit ANWALT AKTUELL geht es um unverständliche Juristensprache, unsymmetrische Verbrechensverfolgung, unausgewogene Instanzenzüge und vieles mehr…
Interview: Dietmar Dworschak

Will der Titel Ihres Buches „Mut zum Recht“ sagen, dass unser Recht ohnehin ganz gut da steht, aber nicht optimal ausgeübt wird?
Oliver Scheiber: Es braucht mehr Mut zur Anwendung des Rechts, aber auch zur Weiterentwicklung. Man sollte insgesamt mehr machen aus der Rechtsordnung.

Sie sagen: Rechtswissenschaft ist Sozialwissenschaft. Warum eigentlich?
Oliver Scheiber: Weil sich’s zu einem guten Teil um den Menschen dreht. Nicht immer. Wir können hochentwickelte Zusammenführungen von Aktiengesellschaften nehmen, da ist der menschliche Faktor nicht so im Vordergrund. Bei allem, was wir im Familienrecht, im Strafrecht, im Mietrecht haben, geht es sehr stark um Menschen und um Konfikte. Deshalb Sozialwissenschaft.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Ausbildung zum Juristen. Ich frage dies mit Blick auf die Ärzteausbildung, der man nachsagt, gerade im psychologischen Bereich einige Lücken aufzuweisen? 
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Vergleich zur Medizin ein guter ist. Da gibt es einige Verwandtschaften. Ein wesentlicher Punkt ist einmal die Verständlichkeit. Das sehen wir auch in den Evaluierungen zur Justiz. Sie verfügt über ein hohes Ansehen in der Bevölkerung, gleichzeitig aber wird festgestellt, dass sie für viele Menschen nicht verständlich ist. Das ist ein großes Manko. Ich glaube, es ist für jeden Beruf eine Schwäche, wenn er sich nicht verständlich macht. Sicher braucht man eine Fachterminologie, es muss aber trotzdem möglich sein, verständlich zu kommunizieren.

Führt nicht das Erlernen der sogenannten Fachsprache bereits im Studium von der Normalsprache weg?
Oliver Scheiber: Ja, drum glaube ich, dass hier schwerpunktmäßig bei den Universitäten angesetzt werden müsste. Was Gerichte und Anwaltschaft tun, ist, hart gesagt: die Deformationen, die die Leute im Studium erlitten haben, wieder wettzumachen. Die Fachsprache wird im Studium zu übertrieben gefördert, es findet eine Erziehung zur Unverständlichkeit statt. Der andere Punkt, den auch Sprachwissenschaftler kritisieren, ist, dass sich die schriftlichen Entscheidungen der Justiz eigentlich nie an die Parteien wenden, sondern immer nur an die Rechtsmittelinstanz. Das menschlich nachvollziehbare Interesse der Richter ist, dass ihre Entscheidungen halten. Wenn diese nicht halten, schadet das natürlich der Karriere, deshalb wird bei der Entscheidung vornehmlich die Sprache verwendet, die die Instanz versteht.

In Ihrem Buch kommt nicht selten der Begriff „Klassenjustiz“ vor. Sie weisen darauf hin, dass man bei unseren Gerichten lieber „die Kleinen“, also die Letzten in einer Verantwortungskette anklagt. Verstehe ich das richtig auch als Kritik an der richterlichen Kollegenschaft?
Oliver Scheiber: Ich glaube, das ist generell eine Frage des Strafrechts, die über Österreich hinaus gehend diskutiert werden muss. Wir sind jetzt in einer Zeit, wo vieles humanistischer geworden ist, da ist es auch Zeit, in der Justiz Grundsatzfragen zu überdenken. Das Unternehmensstrafrecht ist ein gutes Beispiel, weil es ganz einfach wäre, bei bestimmten Umweltvergehen oder Arbeitsunfällen das Unternehmen zu verfolgen, und nicht Einzelpersonen. Beim Unternehmensstrafrecht gibt es allerdings ganz stark ein Ausbildungsproblem. Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz hat in Österreich nie richtig zu leben begonnen, und das ist vor allem eine Schulungsfrage.

Gibt es eine Neigung, bei der Strafverfolgung und dann auch im Gericht auf jene zuzugreifen, von denen man den geringsten Widerstand erwartet?
Oliver Scheiber: Delikte gibt es viele, das Dunkelfeld ist groß. Selektieren tut im Wesentlichen einmal die Polizei. Überwache ich U-Bahn-Stationen oder schicke ich meine Leute in irgendwelche Villen oder Seeuferpromenaden…usw. Die Staatsanwaltschaft führt diese Selektion dann weiter. Mein Anliegen ist hier ein Soziales: Es soll gleichmäßig alle Schichten treffen. Hier geht es auch um Ressourcen. Die Ressourcen sollen dort eingesetzt werden, wo die größten Schäden drohen. Das heißt: Vernünftigerweise konzentriere ich mich als Staat auf die Verfolgung von Mord, Raub und Vergewaltigung, aber auch von großen Gemeingefährdungsdelikten wie Umweltverbrechen, Lebensmittelvergiftungen etc.

Ein Zitat aus Ihrem Buch: „Polizei und Justiz konzentrieren sich auf die Verfolgung sozial und wirtschaftlich schwacher Menschen bzw. jener Kriminalitätsfelder, die für sozial und wirtschaftlich Schwache naheliegend sind.“ Gleichzeitig weisen Sie darauf hin, dass bei Umweltvergehen, bei Pharma und Medizin sowie bei der Finanz- und Börsenkontrolle wesentlich weniger Ermittlungs- und Verfolgungsdruck entwickelt wird. War das in der Geschichte nicht immer so?
Oliver Scheiber: Das war sicher immer so. Aber ich denke, es hat sich doch einiges auch geändert. Mit der Einrichtung der Wirtschafts- und Korruptions-Staatsanwaltschaft ist doch ein Feld aufgetan worden, wo man in der angesprochenen Hinsicht wesentlich mehr tut als früher. Im Umweltbereich sollte man ebenfalls mehr tun. Es gibt auch in Österreich Gegenden, wie zum Beispiel das Görschitztal, wo gesundheitliche Schäden in großem Ausmaß da sind, wo sich aber strafrechtlich viel zu wenig tut, um in irgendeiner Weise abschreckend zu wirken.

Sie kritisieren die aktuell praktizierte Form der Verhandlung vor Gericht als nicht mehr zeitgemäß, weil viel zu hierarchisch, sie sprechen von „Über-Inszenierung“…?
Oliver Scheiber: Ja, das betrifft aber nicht alle Bereiche. Im Familienrecht habe ich schon positive Beispiele erlebt. Es beginnt immerhin ein Umdenken, speziell in der Architektur, wo es schon Ansätze gibt, Verhandlungssituationen „auf Augenhöhe“ zu schaffen, wie zum Beispiel in den neuen Gerichtsgebäuden von Salzburg oder Korneuburg. Mit der Mediation und mit der Diversion gibt es bereits Instrumente, die die Kommunikation stark verändert haben. Den begonnenen Paradigmenwechsel sollte man aber weiter forcieren.

Sie fordern die Gleichstellung zivil- und strafrechtlicher Verfahren, was den Instanzenzug betrifft. Wo sehen Sie hier im Moment das Problem?
Oliver Scheiber: Das Problem ist, dass man in einem relativ undramatischen Zivilverfahren sehr oft drei Instanzen zur Verfügung hat und diese drei Instanzen auch ohne größere Formzwänge durchlaufen werden können, was ich zum Beispiel im Familienrecht auch sehr angemessen finde, dass umgekehrt aber im Strafrecht, wo es um Freiheitsstrafen geht, im Regelfall nur zwei Instanzen zur Verfügung stehen. Der Rechtszug bei Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr endet bei den Landesgerichten, wodurch sich keine höchstgerichtliche Rechtsprechung herausbilden kann.

In Ihrem Buch loben Sie Österreichs Medien mehrfach für ihre Rolle bei der Aufdeckung von Skandalen. Diese Tendenz wäre mir, den „Falter“ ausgenommen, eigentlich nicht besonders aufgefallen. Dafür bekomme ich immer wieder mit, dass Medien von Beamtenseite mit Insiderinformationen, oder nennen wir es „Amtsgeheimnissen“ versorgt werden. Ist das für Sie okay?
Oliver Scheiber: Wenn sehr viele Interna weitergegeben werden ist das für mich ein Zeichen, dass mit der Behörde etwas nicht stimmt. Wenn ich nämlich Missstände aufzeigen kann, dann regelt sich das normalerweise intern. Wenn Informationen an Medien weitergegeben werden bedeutet das zumeist, dass in der Behörde ein Druck besteht, etwas unter der Decke zu halten. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, dass Informationen besser auf diesem Weg in die Öffentlichkeit kommen als gar nicht. Es ist wichtig, dass wir einen stabilen Informantenschutz bewahren, denn ohne diesen wären die meisten Skandale, beginnend beim AKH, nicht in die Medien gelangt.

Wir haben es seitens der Beamtenschaft also nicht mit einer Art Nudelsieb zu tun, was die Bewahrung von Informationen betrifft?

Oliver Scheiber: Nein, da bin ich nicht sehr beunruhigt, da alle Experten sagen, dass sehr viel von den Verfahrensparteien weitergegeben wird. Nur der kleinere Teil kommt aus den Behörden, zumal diese im Ermittlungsverfahren gar kein Interesse daran haben, dass etwas hinausgelangt.

Sie fordern mehr Kommunikation zwischen Justiz und Öffentlichkeit. Dabei beziehen Sie sich auf das skandinavische Modell, wo Entscheidungen von Höchstgerichten im Internet veröffentlicht werden. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich hier in Österreich in absehbarer Zeit etwas ändert, zumal wir in Sachen Behördentransparenz weltweit am letzten Platz stehen?
Oliver Scheiber: Da bin ich wenig zuversichtlich. Es gibt so viele Anküdigungen… Jeder aufstrebende Politiker in Österreich verspricht mehr Transparenz, und in Wirklichkeit tut sich gar nichts.

Weiter zum Thema Kommunikation: 2002 hat Jörg Haider den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs verhöhnt und damit ganz bewusst das Ansehen der Justiz geschädigt. Haben Sie das Gefühl, dass die österreichischen Politiker seither in sich gegangen sind und der Justiz so etwas wie Respekt entgegenbringen? 
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Schaden rund um die Ortstafeln und Haiders Verspottung der Justiz schon nachhaltig gewirkt haben. Ich glaube aber, dass wir mittlerweile wieder grundsätzlich eine Stimmung haben, in der Institutionen respektiert werden. Ich halte es jedoch für gefährlich, wenn gewissermaßen strukturell „Verwunderung“ über Urteile ausgesprochen wird. Dem einzelnen Bürger steht es zu, dass er auf dem Weg aus dem Gerichtssaal sagt „Ich kann mich nur wundern…“ Als Politiker, vor allem in Regierungsverantwortung, muss ich mir schon überlegen, ob ich mich da wundern will – oder ob man es nicht besser dabei belässt, zu sagen: „das Gericht hat entschieden, so ist es.“

Wenn Sie in der Nacht aufgeweckt und nach Ihren drei wichtigsten Wünschen zur Verbesserung der Justiz in Österreich gefragt werden, was sagen Sie dann?
Oliver Scheiber: Deutliche Ressourcenkorrektur als ersten Punkt. Als zweites würde ich mir eine andere Unternehmenskultur wünschen, vor allem, was die Kommunikation betrifft. Und als dritten Punkt, auch wenn es nicht direkt Justiz ist: Ich glaube, dass man das Asyl- und Fremdenrecht neu denken muss. Hier sollten wir bei null beginnen.

Herr Dr. Scheiber, danke für das Gespräch.

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Bei Stöckl vom 6.2.2020

Ich danke Barbara Stöckl für die Einladung in die Sendung vom 6.2.2020. Bis 13.2.2020 noch in der TV-THEK nachzusehen.

Ursula Strauss, Marcos Nader, Herbert Fechter und Oliver Scheiber zu Gast in „Stöckl.“

Barbara Stöckl im Nighttalk mit einmal mehr höchst interessante Persönlichkeiten
Donnerstag, 6. Februar 2020
23.00 Uhr, ORF 2
Untertitelung: ORF TELETEXT S 777
In der aktuellen Ausgabe des ORF-Nighttalks „Stöckl.“ sind am Donnerstag, dem 6. Februar 2020, um 23.00 Uhr in ORF 2 Schauspielerin Ursula Strauss, Boxer und „Dancing Star“ Marcos Nader, Künstlermanager Herbert Fechter und Bezirksrichter Oliver Scheiber zu Gast bei Barbara Stöckl:

Bezirksrichter Oliver Scheiber

Oliver Scheiber gibt im Gespräch mit Barbara Stöckl Einblick in seinen Alltag als Richter. Der Vorsteher des Wiener Bezirksgerichts Meidling kritisiert in seinem Buch „Mut zum Recht!“, dass die Strafjustiz vor allem die Armen treffe: „Strafgerichte und Anklagebehörden haben eher die kleinen Fälle im Auge, während die Verfolgung der großen Verbrechen schleppend erfolgt“, so der Jurist, der für mehr Empathie im Gerichtssaal plädiert.
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Oliver Scheiber

Buch von Oliver Scheiber
Mut zum Recht!Falter Verlag

Schauspielerin Ursula Strauss

Mit Kriminalität beschäftigt sich auch Ursula Strauss seit Jahren. Die Schauspielerin dreht für die beliebte ORF-Serie „Schnell ermittelt“ bereits die siebente Staffel. Derzeit ist sie am ORF-1-Serienmontag in der neuen Comedyserie „Wischen ist Macht“ als Chefin eines Putztrupps zu sehen. Welche Erfahrungen hat sie persönlich mit Ordnung und Chaos gemacht? Tut Putzen tatsächlich der Seele gut?
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Ursula Strauss

Link:


ORF-Serie: Wischen ist Macht
montags, 21.05 Uhr, ORF 1

Künstlermanager Herbert Fechter

Was die innere Ordnung betrifft, hat Herbert Fechter viel von den Shaolin-Mönchen gelernt. Der Künstlermanager feiert als Produzent der Bühnenshow „Die Mönche des Shaolin Kung-Fu“, die ab Mitte Februar wieder durch Österreich tourt, 25-jähriges Jubiläum. Wie hat das Eintauchen in diese Kultur sein eigenes Leben verändert?
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Herbert Fechter

Link:


Bühnenshow
Die Mönche des Shaolin Kung Fuab 14.2. auf Österreich-Tour

Boxer und „Dancing Star“ Marcos Nader

Marcos Nader ist Österreichs Aushängeschild im Boxen. Der IBF International Champion im Mittelgewicht verteidigte Ende des vergangenen Jahres erfolgreich seinen Titel. Nun wartet eine ganz andere Herausforderung: Ab 6. März nimmt er an der neuen Staffel des ORF-1-Tanzevents „Dancing Stars“ teil.
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