Interview: Dietmar Dworschak
Will der Titel Ihres Buches „Mut zum Recht“ sagen, dass unser Recht ohnehin ganz gut da steht, aber nicht optimal ausgeübt wird?
Oliver Scheiber: Es braucht mehr Mut zur Anwendung des Rechts, aber auch zur Weiterentwicklung. Man sollte insgesamt mehr machen aus der Rechtsordnung.
Sie sagen: Rechtswissenschaft ist Sozialwissenschaft. Warum eigentlich?
Oliver Scheiber: Weil sich’s zu einem guten Teil um den Menschen dreht. Nicht immer. Wir können hochentwickelte Zusammenführungen von Aktiengesellschaften nehmen, da ist der menschliche Faktor nicht so im Vordergrund. Bei allem, was wir im Familienrecht, im Strafrecht, im Mietrecht haben, geht es sehr stark um Menschen und um Konfikte. Deshalb Sozialwissenschaft.
Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Ausbildung zum Juristen. Ich frage dies mit Blick auf die Ärzteausbildung, der man nachsagt, gerade im psychologischen Bereich einige Lücken aufzuweisen?
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Vergleich zur Medizin ein guter ist. Da gibt es einige Verwandtschaften. Ein wesentlicher Punkt ist einmal die Verständlichkeit. Das sehen wir auch in den Evaluierungen zur Justiz. Sie verfügt über ein hohes Ansehen in der Bevölkerung, gleichzeitig aber wird festgestellt, dass sie für viele Menschen nicht verständlich ist. Das ist ein großes Manko. Ich glaube, es ist für jeden Beruf eine Schwäche, wenn er sich nicht verständlich macht. Sicher braucht man eine Fachterminologie, es muss aber trotzdem möglich sein, verständlich zu kommunizieren.
Führt nicht das Erlernen der sogenannten Fachsprache bereits im Studium von der Normalsprache weg?
Oliver Scheiber: Ja, drum glaube ich, dass hier schwerpunktmäßig bei den Universitäten angesetzt werden müsste. Was Gerichte und Anwaltschaft tun, ist, hart gesagt: die Deformationen, die die Leute im Studium erlitten haben, wieder wettzumachen. Die Fachsprache wird im Studium zu übertrieben gefördert, es findet eine Erziehung zur Unverständlichkeit statt. Der andere Punkt, den auch Sprachwissenschaftler kritisieren, ist, dass sich die schriftlichen Entscheidungen der Justiz eigentlich nie an die Parteien wenden, sondern immer nur an die Rechtsmittelinstanz. Das menschlich nachvollziehbare Interesse der Richter ist, dass ihre Entscheidungen halten. Wenn diese nicht halten, schadet das natürlich der Karriere, deshalb wird bei der Entscheidung vornehmlich die Sprache verwendet, die die Instanz versteht.
In Ihrem Buch kommt nicht selten der Begriff „Klassenjustiz“ vor. Sie weisen darauf hin, dass man bei unseren Gerichten lieber „die Kleinen“, also die Letzten in einer Verantwortungskette anklagt. Verstehe ich das richtig auch als Kritik an der richterlichen Kollegenschaft?
Oliver Scheiber: Ich glaube, das ist generell eine Frage des Strafrechts, die über Österreich hinaus gehend diskutiert werden muss. Wir sind jetzt in einer Zeit, wo vieles humanistischer geworden ist, da ist es auch Zeit, in der Justiz Grundsatzfragen zu überdenken. Das Unternehmensstrafrecht ist ein gutes Beispiel, weil es ganz einfach wäre, bei bestimmten Umweltvergehen oder Arbeitsunfällen das Unternehmen zu verfolgen, und nicht Einzelpersonen. Beim Unternehmensstrafrecht gibt es allerdings ganz stark ein Ausbildungsproblem. Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz hat in Österreich nie richtig zu leben begonnen, und das ist vor allem eine Schulungsfrage.
Gibt es eine Neigung, bei der Strafverfolgung und dann auch im Gericht auf jene zuzugreifen, von denen man den geringsten Widerstand erwartet?
Oliver Scheiber: Delikte gibt es viele, das Dunkelfeld ist groß. Selektieren tut im Wesentlichen einmal die Polizei. Überwache ich U-Bahn-Stationen oder schicke ich meine Leute in irgendwelche Villen oder Seeuferpromenaden…usw. Die Staatsanwaltschaft führt diese Selektion dann weiter. Mein Anliegen ist hier ein Soziales: Es soll gleichmäßig alle Schichten treffen. Hier geht es auch um Ressourcen. Die Ressourcen sollen dort eingesetzt werden, wo die größten Schäden drohen. Das heißt: Vernünftigerweise konzentriere ich mich als Staat auf die Verfolgung von Mord, Raub und Vergewaltigung, aber auch von großen Gemeingefährdungsdelikten wie Umweltverbrechen, Lebensmittelvergiftungen etc.
Ein Zitat aus Ihrem Buch: „Polizei und Justiz konzentrieren sich auf die Verfolgung sozial und wirtschaftlich schwacher Menschen bzw. jener Kriminalitätsfelder, die für sozial und wirtschaftlich Schwache naheliegend sind.“ Gleichzeitig weisen Sie darauf hin, dass bei Umweltvergehen, bei Pharma und Medizin sowie bei der Finanz- und Börsenkontrolle wesentlich weniger Ermittlungs- und Verfolgungsdruck entwickelt wird. War das in der Geschichte nicht immer so?
Oliver Scheiber: Das war sicher immer so. Aber ich denke, es hat sich doch einiges auch geändert. Mit der Einrichtung der Wirtschafts- und Korruptions-Staatsanwaltschaft ist doch ein Feld aufgetan worden, wo man in der angesprochenen Hinsicht wesentlich mehr tut als früher. Im Umweltbereich sollte man ebenfalls mehr tun. Es gibt auch in Österreich Gegenden, wie zum Beispiel das Görschitztal, wo gesundheitliche Schäden in großem Ausmaß da sind, wo sich aber strafrechtlich viel zu wenig tut, um in irgendeiner Weise abschreckend zu wirken.
Sie kritisieren die aktuell praktizierte Form der Verhandlung vor Gericht als nicht mehr zeitgemäß, weil viel zu hierarchisch, sie sprechen von „Über-Inszenierung“…?
Oliver Scheiber: Ja, das betrifft aber nicht alle Bereiche. Im Familienrecht habe ich schon positive Beispiele erlebt. Es beginnt immerhin ein Umdenken, speziell in der Architektur, wo es schon Ansätze gibt, Verhandlungssituationen „auf Augenhöhe“ zu schaffen, wie zum Beispiel in den neuen Gerichtsgebäuden von Salzburg oder Korneuburg. Mit der Mediation und mit der Diversion gibt es bereits Instrumente, die die Kommunikation stark verändert haben. Den begonnenen Paradigmenwechsel sollte man aber weiter forcieren.
Sie fordern die Gleichstellung zivil- und strafrechtlicher Verfahren, was den Instanzenzug betrifft. Wo sehen Sie hier im Moment das Problem?
Oliver Scheiber: Das Problem ist, dass man in einem relativ undramatischen Zivilverfahren sehr oft drei Instanzen zur Verfügung hat und diese drei Instanzen auch ohne größere Formzwänge durchlaufen werden können, was ich zum Beispiel im Familienrecht auch sehr angemessen finde, dass umgekehrt aber im Strafrecht, wo es um Freiheitsstrafen geht, im Regelfall nur zwei Instanzen zur Verfügung stehen. Der Rechtszug bei Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr endet bei den Landesgerichten, wodurch sich keine höchstgerichtliche Rechtsprechung herausbilden kann.
In Ihrem Buch loben Sie Österreichs Medien mehrfach für ihre Rolle bei der Aufdeckung von Skandalen. Diese Tendenz wäre mir, den „Falter“ ausgenommen, eigentlich nicht besonders aufgefallen. Dafür bekomme ich immer wieder mit, dass Medien von Beamtenseite mit Insiderinformationen, oder nennen wir es „Amtsgeheimnissen“ versorgt werden. Ist das für Sie okay?
Oliver Scheiber: Wenn sehr viele Interna weitergegeben werden ist das für mich ein Zeichen, dass mit der Behörde etwas nicht stimmt. Wenn ich nämlich Missstände aufzeigen kann, dann regelt sich das normalerweise intern. Wenn Informationen an Medien weitergegeben werden bedeutet das zumeist, dass in der Behörde ein Druck besteht, etwas unter der Decke zu halten. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, dass Informationen besser auf diesem Weg in die Öffentlichkeit kommen als gar nicht. Es ist wichtig, dass wir einen stabilen Informantenschutz bewahren, denn ohne diesen wären die meisten Skandale, beginnend beim AKH, nicht in die Medien gelangt.
Wir haben es seitens der Beamtenschaft also nicht mit einer Art Nudelsieb zu tun, was die Bewahrung von Informationen betrifft?
Oliver Scheiber: Nein, da bin ich nicht sehr beunruhigt, da alle Experten sagen, dass sehr viel von den Verfahrensparteien weitergegeben wird. Nur der kleinere Teil kommt aus den Behörden, zumal diese im Ermittlungsverfahren gar kein Interesse daran haben, dass etwas hinausgelangt.
Sie fordern mehr Kommunikation zwischen Justiz und Öffentlichkeit. Dabei beziehen Sie sich auf das skandinavische Modell, wo Entscheidungen von Höchstgerichten im Internet veröffentlicht werden. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich hier in Österreich in absehbarer Zeit etwas ändert, zumal wir in Sachen Behördentransparenz weltweit am letzten Platz stehen?
Oliver Scheiber: Da bin ich wenig zuversichtlich. Es gibt so viele Anküdigungen… Jeder aufstrebende Politiker in Österreich verspricht mehr Transparenz, und in Wirklichkeit tut sich gar nichts.
Weiter zum Thema Kommunikation: 2002 hat Jörg Haider den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs verhöhnt und damit ganz bewusst das Ansehen der Justiz geschädigt. Haben Sie das Gefühl, dass die österreichischen Politiker seither in sich gegangen sind und der Justiz so etwas wie Respekt entgegenbringen?
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Schaden rund um die Ortstafeln und Haiders Verspottung der Justiz schon nachhaltig gewirkt haben. Ich glaube aber, dass wir mittlerweile wieder grundsätzlich eine Stimmung haben, in der Institutionen respektiert werden. Ich halte es jedoch für gefährlich, wenn gewissermaßen strukturell „Verwunderung“ über Urteile ausgesprochen wird. Dem einzelnen Bürger steht es zu, dass er auf dem Weg aus dem Gerichtssaal sagt „Ich kann mich nur wundern…“ Als Politiker, vor allem in Regierungsverantwortung, muss ich mir schon überlegen, ob ich mich da wundern will – oder ob man es nicht besser dabei belässt, zu sagen: „das Gericht hat entschieden, so ist es.“
Wenn Sie in der Nacht aufgeweckt und nach Ihren drei wichtigsten Wünschen zur Verbesserung der Justiz in Österreich gefragt werden, was sagen Sie dann?
Oliver Scheiber: Deutliche Ressourcenkorrektur als ersten Punkt. Als zweites würde ich mir eine andere Unternehmenskultur wünschen, vor allem, was die Kommunikation betrifft. Und als dritten Punkt, auch wenn es nicht direkt Justiz ist: Ich glaube, dass man das Asyl- und Fremdenrecht neu denken muss. Hier sollten wir bei null beginnen.
Herr Dr. Scheiber, danke für das Gespräch.