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Friedrich Zawrel (juridikum 4/2002)

Der Lebensweg von Friedrich Zawrel ist Gegenstand von Büchern, Filmen und Theaterstücken. Seit Jahren berichtet Zawrel in Schulen von den Verbrechen der Nationalsozialisten, deren Opfer er selbst war. Die Stadt Wien würdigte Friedrich Zawrel für sein Engagement 2008 mit dem Goldenen Verdienstzeichen. Am 15. Mai 2013 überreichte Bundesministerin Claudia Schmied Friedrich Zawrel das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich

Vor kurzem sprach Friedrich Zawrel gemeinsam mit dem Schauspieler Nikolaus Habjan, der für seine Figurentheaterproduktion „Friedrich Z.- Erbbiologisch und sozial minderwertig.“ den Nestroy-Preis 2012 erhielt, vor angehenden Richterinnen und Richtern. Ich durfte Friedrich Zawrel bereits 2002 kennenlernen – unter dem Eindruck dieser ersten Begegnung habe ich damals einen Beitrag für die Zeitschrift juridikum (Heft 4/2002) verfasst, den ich, einem Wunsch Friedrich Zawrels gern entsprechend, nun online stelle. 
Friedrich Zawrel und Nikolaus Habjan beim Vortrag vor RichteramtsanwärterInnen
in  der Gedenkstätte im Otto Wagner Spital in Wien am 17.10.2013

Friedrich Zawrel – ein Lebensschicksal als Mahnung

Text für die Zeitschrift juridikum, Heft 4/2002

Oliver Scheiber

28. April 2002, Wien, Zentralfriedhof.

An diesem Tag findet am Wiener Zentralfriedhof die
Beisetzungsfeier für die von den Nationalsozialisten ermordeten Kinder vom
Spiegelgrund statt. Rund sechzig Jahre nach ihrer Ermorderung finden die Kinder
eine letzte Ruhestätte. Friedrich Zawrel hat viele der Toten persönlich
gekannt. Ein paar Tage später wird Friedrich Zawrel seine kleine Wohnung in
Ottakring verlassen und ins Cafe Hummel in der Josefstadt fahren, um dort
einige Richter zu treffen und ihnen aus seinem Leben zu berichten; er wird
zuerst von seiner defekten Heizung und seiner Bypass-Operation erzählen, dann
von seiner Jugend und seinem Lebensweg, der ein Leidensweg war. Dazwischen wird
er mit einem verschmitzten Lächeln immer wieder von den Menschen schwärmen, die
ihn in den letzten Jahren unterstützt haben und ihm lieb geworden sind: von
Waltraud Häupl, Karin Mosser, Hannah Lessing und Werner Vogt.

Juli 1935, Wien-Kaisermühlen.

Friedrich Zawrel ist fünf Jahre alt, als seine Mutter die
Miete für die kleine Wohnung in Kaisermühlen nicht mehr zahlen kann. Die
Familie wird delogiert, die Kinder werden der Mutter abgenommen und in die
Kinderübernahmestelle gebracht. Für Friedrich Zawrel beginnt ein jahrelanger
Leidensweg: zunächst kommt er zu Pflegeeltern nach Simmering. Dort wird er
geschlagen, er muss bis neun Uhr abends in der Landwirtschaft arbeiten. Wegen Wehrunwürdigkeit
seines Vaters bleibt Friedrich Zawrel vom deutschen Jungvolk und der
Hitlerjugend ausgeschlossen – für den Volkschüler bedeutet der Ausschluss
Verhöhnungen durch die Mitschüler und eine bleibende Außenseiterrolle. 1939
läuft Friedrich Zawrel endgültig von der Pflegefamilie davon und wird
schließlich 1941, elf Jahre alt, in das Städtische Erziehungsheim „Am
Spiegelgrund“ eingewiesen. Bei der Aufnahme wird er von Dr. Heinrich Gross
untersucht.       
In den folgenden Jahren wird Friedrich Zawrel in wechselnden
Heimen untergebracht; die meiste Zeit wird er am Spiegelgrund angehalten. Er
wird Zeuge des Euthanasieprogramms der Nazis, der systematischen Ermordung von
Kindern. Friedrich Zawrel wird von Heinrich Gross, von anderen Ärzten und vom Pflegepersonal
jahrelang gefoltert. Heinrich Gross verabreicht Zawrel die gefürchteten
“Speibinjektionen”: sie lösen tagelange schwere Übelkeit aus. Andere
Injektionen bewirken, dass die Muskeln versagen und schmerzen; die Kinder
können tagelang nicht gehen. Immer wieder wird Zawrel Opfer der Wickelkur: er
wird vom Personal in nasse Leintücher gewickelt und tagelange so verschnürt
liegen gelassen; Zawrel liegt im eigenen Urin. 
Nicht nur einmal wird er von Erziehern und Ärzten geschlagen, wiederholt
in die kalte Badewanne und anschließend auf den Steinboden geworfen. Das Essen
wird ihm und den anderen Kindern von sadistischen Schwestern vom Teller auf den
Boden geschüttet, so dass die Kinder es aufschlecken müssen. Die von den
Schwestern über die Kinder angelegten schriftlichen Aufzeichnungen
(“Schwesternberichte”) enthalten über Friedrich Zawrel unter anderem folgende
Eintragungen: „aktiv antisozial, staatsfeindliche Gesinnung. Bei einem Gespräch
über die Kriegslage zeigt er Schadenfreude und würdigt Siege und Erfolge zu
wenig. Er strebt auf die Seite der Feinde. Wenn die Bolschewiken kommen, werde
er zu den Partisanen gehen.“ Von einem Erzieher wird Zawrel sexuell
missbraucht; die Ärzte werden die Schuld dem Kind zuweisen und den Vorfall als
Ausdruck einer charakterlichen Missbildung Zawrels werten.
Der
Leiter der Anstalt „Am Spiegelgrund“, Illing, stellt Zawrel immer wieder nackt
auf ein Podest vor Schwesternschülerinnen und erläutert mit einem Zeigestab die
Merkmale der „erbbiologischen und soziologischen Minderwertigkeit“ des Kindes.
Unter dem Gelächter der jungen Frauen treibt er das Kind mit einem Zeigestab
auf das Podest und vom Podest herunter. Für Friedrich Zawrel wurde dies zur
schlimmsten aller Qualen – es wird mehr als fünfzig Jahre dauern, bis er über
diese erniedrigenden Vorführungen sprechen kann. „Ich verdanke es Hannah
Lessing, dass ich das, spät aber doch, aufgearbeitet habe“, sagt er heute. „Ich
bin früher davongelaufen, wenn junge Frauen auf der Straße neben mir gelacht
haben.“
Friedrich Zawrel überlebt den Spiegelgrund auf Grund seiner
außergewöhnlichen Willensstärke und Zähigkeit. Er flieht 1944 mit Hilfe einer
Krankenschwester aus der Anstalt und hält sich als Kohlenausträger über Wasser.
Ein Bekannter des Kohlenhändlers behauptet, Zawrel habe versucht, ihn zu
betrügen. Ein Straverfahren wird eingeleitet; ausgerechnet Ernst Illing
erstattet ein Gutachten im Gerichtsverfahren. In seinem Gutachten vom 12.1.1944
schreibt Illing über den damals 14-jährigen Friedrich Zawrel: „charakterlich abartig,
monströse Gemütsarmut“. Er zitiert den oben wiedergebenen Schwesternbericht
über die vermeintliche politische Unzuverlässigkeit des Kindes Zawrel. Den
sexuellen Missbrauch Zawrels durch den (deswegen gerichtlich verurteilten)
Erzieher lastet Illing dem missbrauchten Kind an und spricht von „homosexuellen
Vorkommnissen“. Zawrel stamme aus einer „erbbiologisch und soziologisch
minderwertigen Familie“.
Der abstruse Inhalt dieses Gutachtens wird Friedrich Zawrel
ein Leben lang verfolgen: zunächst führt es dazu, dass der 14-Jährige zu
achtzehn Monaten Jugendhaft verurteilt wird. Friedrich Zawrel wird in die
Haftanstalt Rüdengasse eingeliefert. Als sich die Russen Wien nähern, wird
Zawrel mit 300 anderen Kindern auf ein Schiff gebracht, das Richtung Passau fährt.
Die Nazis versuchen in ihrem Wahn, die Kinder nach Deutschland zu bringen. Am
Schiff verhungern und verdursten ungezählte Kinder; Zawrel muss zusehen, wie
die Leichen über Bord geworfen werden. Die Amerikaner befreien die Kinder in
Regensburg. Am Weg zurück nach Wien wird Zawrel ohne Geld und Unterkunft von
Gendarmen angetroffen. Er wird wegen Landstreicherei festgenommen und zum
zweiten Mal gerichtlich verurteilt – zu acht Tagen Gefängnis.
Die Gerichte werden sich mehr als dreißig Jahre später nicht
scheuen, das Gutachten des wegen des Mordes an unzähligen Kindern
hingerichteten Nazi-Arztes Illing vom 12.1.1944 wiederum zur Grundlage eines
Urteils zu machen. 
Das erste Zusammentreffen zwischen Friedrich Zawrel und
Heinrich Gross datiert aus dem Jahr 1941. Gross ist damals 26 Jahre alt. 1932
ist er der Hitlerjugend beigetreten, 1933 der SA, 1938 der NSDAP. 1939
promoviert er und wird 1940 Anstaltsarzt am Spiegelgrund. In der dortigen
Anstalt fallen 789 Kinder dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer.

Jänner 1960, Wien.

Heinrich Gross wird am 21.1.1960 in die Liste der
gerichtlich beeideten Sachverständigen, Fachgebiet Psychiatrie, eingetragen.
Bereits seit 1958 erstattet er Gutachten für Gerichte. Die Nachkriegsjustiz ist
mit Gross wohlwollend verfahren: zwar wurde er 1948 in Untersuchungshaft
genommen und 1950 wegen „Beihilfe zum Totschlag an Kindern“ zu zwei Jahren
schweren Kerkers verurteilt; bereits 1951 wurde das Urteil wegen angeblicher
Verfahrensmängel aber wieder aufgehoben und zur neuerlichen Verhandlung an den
Volksgerichtshof zurückverwiesen. Kurz darauf wird das Verfahren ohne
neuerliche Verhandlung – aus prozessökonomischen Gründen im Hinblick auf die
verbüßte Untersuchungshaft – eingestellt. Gross beantragt „Haftentschädigung“:
sein Antrag wird abgewiesen, der Verdacht sei nicht entkräftet.
Friedrich Zawrel ist es nach der Befreiung durch die
Amerikaner und die Verurteilung wegen Landstreicherei weniger gut ergangen.
1950 arbeitet Friedrich Zawrel bei einer Auslieferfirma; er ist Mitfahrer im
LKW und mit dem Inkasso beauftragt. Dabei laufen große Geldmengen durch seine
Hände. Zawrel geniert sich für seine Vorstrafen; er hat sie seinem Chef bei der
Einstellung verschwiegen. Der Chef mag den damals 21-jährigen Zawrel und drängt
ihn 1950 immer mehr, den Führerschein zu machen. Friedrich Zawrel erkundigt
sich bei der Polizei: die beiden Vorstrafen werden nicht gelöscht und bilden
ein Hindernis für die Ablegung der Führerscheinprüfung. Zawrel legt seinem Chef
nun alles offen: dieser sagt nur: „Hättest Du mir das früher erzählt, hätte ich
Dich weniger sekkiert wegen dem Führerschein. Es bleibt alles, wie es ist, mach
nur Deine Arbeit.“ Für Friedrich Zawrel ist aber nichts wie früher. 2002 sagt
er darüber: „Ich habe das Inkassogeld gehabt und Waren geliefert wie vorher
auch. Sicher hat mich auch der Chef nicht mehr kontrolliert als früher. Ich
habe das aber trotzdem nicht mehr ausgehalten: ständig habe ich das Gefühl
gehabt, dass mich der Chef wegen meiner Vorstrafen überwacht.“ Zawrel kündigt. In
der Folge lebt er von Hilfsarbeiten und Kleindiebstählen; für letztere fasst er
drakonische Freiheitsstrafen aus.

26. November 1975, Wien.

Heinrich Gross begutachtet im Auftrag des Landesgerichts für
Strafsachen in Wien den ehemaligen Spiegelgrund-Häftling Friedrich Zawrel. Man
kennt einander; Zawrel spricht Gross direkt auf dessen Tätigkeit als Arzt am
Spiegelgrund an. Gross verfasst ein vernichtendes Gutachten über Zawrel; er
beruft sich auf das Gutachten des Dr. Illing vom 12.1.1944 (!) [Illing wurde
1946 wegen Meuchelmords, Quälens und Misshandelns von Kindern zum Tode
verurteilt und hingerichtet], sieht im Überlebenden Friedrich Zawrel einen
„seelisch Abartigen“, einen „gefährlichen Rückfallstäter“, den man niemals in
Freiheit entlassen dürfe. Am 25. Mai 1976 wiederholt Gross sein Gutachten in
der mündlichen Hauptverhandlung. Er bescheinigt Zawrel grobe
Verhaltensstörungen in Form von „Lügnereien“ und „homosexuellen Handlungen“
(gemeint ist der Missbrauch durch einen Erzieher während des Krieges!), die
seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft unmöglich machten. Wörtlich führt
Gross aus: „Der Beschuldigte besitzt kaum Bindung und Sachen, er ist im Grunde
genommen wurzellos geworden und es ist nicht annehmbar, dass er sich außerhalb
des Strafvollzuges an irgendeinen Sozialbereich anpassen könnte. Er ist aktiv
soziopathisch und als Hangtäter zu qualifizieren. Seine seelische Abartigkeit
ist hochgradig.“ Infolge dieser negativen Zukunftsprognose von Gross wird
Zawrel (wegen des Diebstahls von 20.000 Schilling) zu sechs Jahren Haft und
anschließend zehn Jahren Anhaltung in einer Anstalt für gefährliche
Rückfallstäter verurteilt.
Friedrich Zawrel, der bis dahin alles, was ihm von Medizin
und Justiz angetan worden ist, hingenommen hat, setzt sich nach seinem
neuerlichen Zusammentreffen mit Gross 1975 zur Wehr. Am 3.5.1976 richtet er ein
Schreiben an Justizminister Christian Broda und beschwert sich darüber, dass
Gross in seinem Gutachten den wegen Mordes von Kindern zum Tode verurteilten
Primarius Illing zitiert. Der Minister antwortet nicht. Zawrel wird also
verurteilt und in die Justizanstalt Krems-Stein eingeliefert. Eines Tages
besucht der Psychiater Willibald Sluga, Berater von Justizminister Broda,
Zawrel in dessen Zelle. Er fordert Zawrel auf, die Vergangenheit des Dr. Gross
ruhen zu lassen. Zawrel meint: „Vor dreißig Jahren war ich ohne Geld und
Unterkunft nach Wien unterwegs. Wenn ich heute mein Strafregister aushebe,
stehen deswegen acht Tage Gefängnis wegen Landstreicherei drinnen. Das vergisst
die Republik Österreich nicht. Aber aus der Nazi-Zeit soll man alles
vergessen?“
Im Februar 1977 erstattet Dr. Otto Schiller ein Gutachten
über Friedrich Zawrel. Schiller ist mit Heinrich Gross befreundet; er bestätigt
dessen Gutachten und nimmt in sein eigenes Gutachten eine Würdigung des
Heinrich Gross auf. Dem Friedrich Zawrel spricht Schiller jede Glaubwürdigkeit
ab; Zawrels Berichte über die Folterungen am Spiegelgrund stellt Schiller in
Frage. Schiller verhindert eine frühere Haftentlassung Zawrels, indem er in
seinem Gutachten schreibt: „Es gilt da die Volksweisheit auch aus
fachlich-wissenschaftlicher Sicht, wonach Hans nimmer lernt, was Hänschen nicht
gelernt hat. Aus psychiatrischer Sicht bedarf dieser Untersuchte der ständigen
Führung, Überwachung. Er kann bildlich gesprochen ohne Mieder als Stütze nicht
im Leben gehen. Er kann nicht einfach so ins Leben gestellt werden. Wenn nicht
enge Überwachung und Führung vorliegt, er wird abgleiten.“[1]

Herbst 1978, Haftanstalt Krems-Stein.

Friedrich Zawrel schmuggelt aus der Haft einen Brief an die
Zeitung Kurier. Bald darauf besucht
ihn der Journalist Wolfgang Höllriegl in der Haftanstalt. Zawrel erzählt seine
Lebensgeschichte, insbesondere berichtet er über die neuerliche Begutachtung
durch Heinrich Gross. Am 17.12.1978 erscheint ein Artikel im Kurier über Gross: “Ein Arzt aus der
NS-Mörderklinik“. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Dr. Werner Vogt („mein Befreier
und Retter“, sagt Friedrich Zawrel) kämpft jahrelang für die Rehabilitierung
Zawrels und betreibt Aufklärung über die Vergangenheit des Heinrich Gross.
Gross klagt Vogt wegen Übler Nachrede. Nach einer Verurteilung in erster
Instanz wird Vogt im Berufungsverfahren vom Oberlandesgericht Wien
freigesprochen. Im Berufungsurteil heißt es, dass „Dr. Heinrich Gross an der
Tötung einer unbestimmten Zahl von geisteskranken, geistesschwachen oder stark
missgebildeten Kindern (die erb- und anlagebedingte schwere Leiden hatten)
mitbeteiligt war…“. Dennoch erhebt die Staatsanwaltschaft keine Anklage gegen
Gross; dieser bleibt Primarius und einer der meistbeschäftigten
Sachverständigen vor österreichischen Gerichten. Die Tatsache, dass Gross 1984
aus der Liste der gerichtlich beeideten Sachverständigen entfernt wird, hält
Richter des Landesgerichts für Strafsachen Wien nicht davon ab, Heinrich Gross
bis 1998 laufend bei Gericht zu beschäftigen.
Der Leidensweg Friedrich Zawrels geht 1981 zu Ende:
Univ.-Doz. Dr. Gerhard Kaiser, untersucht Zawrel im gerichtlichen Auftrag und
kommt zu völlig anderen Schlüssen als die Vorgutachter Gross und Schiller: er
konstatiert ein normales psychisches Bild, keinerlei seelische oder geistige
Abartigkeit, keinen Anlass für eine Einweisung in eine Anstalt für gefährliche
Rückfallstäter. Kaiser stellt zwischen den Zeilen deutlich die Gutachten von
Gross und Schiller in Frage und kommt zum Schluss: „Das psychische Bild, das
Friedrich Zawrel bietet, entspricht weitgehend einer
Durchschnittspersönlichkeit und lässt auch erstaunlicherweise jene Apathie
vermissen, welche bei Menschen, denen die Freiheit durch lange Zeit entzogen
wurde, die Regel darstellt.“ Friedrich Zawrel wird am 3.9.1981 nach insgesamt
26 in behördlicher Anhaltung verbrachten Jahren aus der Haftanstalt entlassen.
Er widerlegt Gross und Schiller und wird nicht mehr straffällig. Über seine
Haftentlassung berichtet Friedrich Zawrel heute: „Am 27. Juli 1981 bin ich aus
der Haft entlassen worden. Ich war damals 52 Jahre alt. Ich habe wieder bei
meiner Mutter gewohnt, die schon in Pension war, und habe zuerst in einer
Siebdruckfirma, dann in der Firma meines Bewährungshelfers gearbeitet. 1983
habe ich dann den Führerschein gemacht, der mir 1948 wegen meiner Jugendstrafe
verweigert worden ist, und habe dann fünfzehn Jahre lang als Lieferfahrer
gearbeitet. Das Auto konnte ich auch privat benutzen und habe am Sonntag mit
meiner Mutter bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 Ausflüge ins Waldviertel
unternommen.“

23. Februar 1999, Wien.

Friedrich Zawrel muss sich erneut einer ärztlichen
Begutachtung unterziehen. Im Auftrag der Magistratsabteilung 12, Referat für
Opferfürsorge, kommt Zawrel zur Untersuchung, die über die Zuerkennung einer
Opferrente entscheidet. Der Gutachter verliest eingangs der Untersuchung das
Vorgutachten des Dr. Illing aus dem Jahr 1944 und diktiert in Anwesenheit des
Friedrich Zawrel: „Betroffener stammt aus erbbiologisch und soziologisch
minderwertiger Familie.“ Friedrich Zawrel will daraufhin den Raum verlassen, er
kann nur mühsam zurückgehalten werden. Der Sachverständige bescheinigt eine
„posttraumatische Belastungsreaktion“. Werner Vogt fasst die Beziehung des
Friedrich Zawrel und der Medizin so zusammen: „55 Jahre lang verfolgte das
Gutachten des hingerichteten Mörders Illing das Leben des Friedrich Zawrel. Nie
war er ein Fall für die Psychiatrie, aber die Psychiatrie hat ihn fast zu Fall
gebracht.“

21. März 2000, Landesgericht für Strafsachen Wien.

An diesem Tag beginnt die Hauptverhandlung gegen Heinrich
Gross. Ab 1989 war mit Öffnung der Archive der DDR immer neues, belastendes
Material über Heinrich Gross und den Spiegelgrund nach Österreich gelangt.
Allein, die Staatsanwaltschaft Wien reagiert nicht. 1998 bringt das
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (erneut) eine Anzeige
gegen Heinrich Gross ein. Das Justizministerium unter Minister Nikolaus Michalek
setzt dem unwürdigen Spiel ein Ende, ordnet das Beweismaterial und gibt den
Auftrag, Gross anzuklagen. Die Staatsanwaltschaft Wien legt im April 1999 eine
57-seitige Anklageschrift gegen Heinrich Gross wegen des Verdachts des
Verbrechens des Mordes als Beteiligter nach den §§ 12, 75 StGB vor und führt
neun Kinder an, die im Sommer 1944 durch Handlungen oder Unterlassungen des
Angeklagten zu Tode gekommen seien.
Am 21.3.2000 wird im Landesgericht für Strafsachen Wien der
Geschworenenprozess gegen Gross eröffnet. Ein Gutachter stellt die
Verhandlungsunfähigkeit des anwesenden Angeklagten fest; die Hauptverhandlung
wird auf unbestimmte Zeit erstreckt. Heinrich Gross gibt gleich darauf in einem
Kaffeehaus ein Fernsehinterview. Ein zweites Gutachten stellt fest, dass sich
Gross nur dreißig Minuten lang durchgehend konzentrieren könne. Eine
Hauptverhandlung wird nicht mehr anberaumt.[2]

Frühjahr 2002, Wien.

Friedrich Zawrel beantragt die vorzeitige Tilgung seiner
Vorstrafen im Gnadenweg. Die Tilgungsfrist ist noch nicht abgelaufen, für
Friedrich Zawrel ist es aber wichtig, endlich mit seiner Vergangenheit ins
Reine zu kommen und unbelastet davon zu leben. Das Justizministerium unter
Minister Böhmdorfer spricht sich in seiner Stellungnahme für die Präsidentschaftskanzlei
gegen eine vorzeitige Tilgung im Gnadenweg aus; zur Begründung wird auf Akten
der Nazis und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit verwiesen(!). Die empörten
Reaktionen einiger Freunde Friedrich Zawrels zeigen Wirkung: die Polizei kommt
bei Zawrel vorbei, um „Erhebungen zu tätigen“. Nach wenigen Tagen erhält
Friedrich Zawrel die Verständigung über die vorzeitige Tilgung der Vorstrafen
durch Entschließung des Bundespräsidenten vom 9.4.2002 und einen Auszug aus dem
Strafregister: es scheint keine Verurteilung auf.[3]


[1] Die Gutachten von Gross und Schiller
sind in der Zeitschrift FORUM vom Juli/August 1981 veröffentlicht worden; vor
allem das Schiller-Gutachten wird durch seine ebenso gehässige wie einfältige
Argumentation gegen Zawrel zum zeitgeschichtlichen Dokument (Schiller führt zur
Untermauerung des Gross-Gutachtens etwa an, dass Gross im Proponentenkomitee
für Bundespräsident Jonas vertreten war).
[2] An weiterführender Literatur zum Fall
des Dr. Heinrich Gross sind zu nennen: Groß
bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine
, Eingriffe (Informationen der
AG Kritische Medizin und des AK Kritische Medizin-Innsbruck) Nr. 13/14
(1./2.Quartal 1980); Werner Vogt, Arm-krank-tot,
Europa Verlag (1989); Alois Kaufmann, Spiegelgrund-Pavillon
18. Ein Kind im NS-Erziehungsheim
, Verlag für Gesellschaftskritik (1993);
Johann Gross, Spiegelgrund. Leben in
NS-Erziehungsanstalten
. Ueberreuter (2000); Werner Vogt, Euthanasiearzt und Gerichtsgutachter. Zwei
Möglichkeiten der Ausübung von Gewalt gegen Menschen
. Literaturzeitschrift
Wespennest Nr. 119, 2000 (S. 89-104); Werner Vogt, Der verhandlungsunfähige Kläger. Heimatkunde im Gerichtssaal.
Literaturzeitschrift Wespennest Nr.  121,
2000 (S. 20); Werner Vogt, Das spät
bereitete Grab
. Literaturzeitschrift Wespennest Nr.127, 2002 (S. 22).
[3] Der Artikel basiert auf zwei Gesprächen
mit Friedrich Zawrel am 15. Mai und 13. September 2002, auf die Einsicht in
Aktenkopien und auf Informationen, die Dr. Werner Vogt freundlicherweise zur
Verfügung gestellt hat. Aufschlüsse hat mir weiters das Buch von Oliver
Lehmann/Traudl Schmidt, In den Fängen des
Dr. Gross – Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel
,  Czernin-Verlag (2001), geliefert. Mein
besonderer Dank gilt neben Dr. Werner Vogt auch Dr. Karin Mosser, die mich zur
Kontaktaufnahme mit Friedrich Zawrel ermuntert hat; vor allem aber habe ich
Friedrich Zawrel für seine Bereitschaft zu danken, so offen über sein Leben zu
sprechen. 

Diversity – Menschen mit Behinderungen in Rechtsberufen

Text für die Fachzeitschrift juridikum Heft 2/2013 

Bericht über eine
Enquete an der Universität Wien am 3. Mai 2013
Justitia,  die  mit  verbundenen  Augen  Recht
spricht, um ohne Ansehen der
Person urteilen zu  können,  ist die Symbolfigur der unabhängigen Rechtsprechung.
Nicht nur
deshalb mutet es paradox an, dass blinden Menschen in Österreich bislang der
Zugang
zum 
Amt  der Richterin oder des Richters verwehrt ist. In den letzten zehn
Jahren wandten sich 
gleich  mehrere  junge Juristinnen, deren Berufswunsch Richterin sich
nicht erfüllte, an  die 
Medien und sensibilisierten auf diese Weise die Öffentlichkeit für
das Thema. Betroffen
sind freilich nicht nur blinde und sehbehinderte Menschen;
ganz allgemein sind 
Menschen  mit besonderen Bedürfnissen im Personalstand der Justiz und
im Amt  der 
Richterin/des  Richters und der Staatsanwältin/des Staatsanwaltes
unterrepräsentiert. Diese  
mangelnde  Vielfalt  im  Personal  ist  nicht 
nur  aus  Sicht  des
Antidiskriminierungsrechts, sondern  
auch   im  Hinblick  auf  das  daraus 
resultierende  Defizit  an
Erfahrungen und Wissen innerhalb der Justiz bedauerlich.


Die   Gründe  dafür,  dass  es  Menschen 
mit  besonderen  Bedürfnissen  in
Österreich so schwer  haben,  einen Rechtsberuf zu ergreifen, sind vielfältig. Sie
liegen
zu
einem guten 
Teil  im  Bildungssystem.  Lange  Zeit  hat 
man  Menschen  mit  besonderen
Bedürfnissen im Schulsystem 
abgesondert  unterrichtet.  Das Prinzip der Inklusion hat sich
nur langsam durchgesetzt.   Auch   das  
Studienrecht   wurde   erst   spät 
angemessen
ausgestaltet. Nunmehr haben    Studierende   
jedoch    einen    Rechtsanspruch   
darauf,   dass 
Prüfungsmodalitäten angepasst werden,  wenn  das im Hinblick auf eine
körperliche Einschränkung notwendig
ist.


Diversity - Menschen mit Behinderungen in Rechtsberufen
Foto: Christine Kainz; vlnr: Helene Jarmer, Peter Resetarits, Oliver Scheiber,
Ludwig Bittner, Gerhard Jarosch, Werner Zinkl, Rupert Wolff


Im   Richterdienstgesetz   (vormals  RDG, 
nunmehr  RStDG)  war  lange  die
Diskriminierung behinderter 
Menschen  festgeschrieben.  Unter  den Voraussetzungen für die 
Ergreifung des  RichterInnenamts  nannte das Gesetz „die
uneingeschränkte persönliche, 
geistige und  fachliche Eignung sowie die körperliche Eignung“, woraus
allgemein der 
Ausschluss von Menschen mit besonderen Bedürfnissen abgeleitet wurde. Erst 2006
wurde 
durch    
das     Bundes-Behindertengleichstellungs-Begleitgesetz [1]
diese diskriminierende Norm 
beseitigt  und  fortan nur mehr auf die „uneingeschränkte persönliche
und fachliche Eignung“   abgestellt.   Bereits  
1996   war   der   Gleichheitssatz  
der
Bundesverfassung (Artikel  7)  um  folgenden Satz ergänzt worden: „Niemand darf
wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder, Gemeinden) bekennt sich dazu, 
die  Gleichbehandlung von behinderten und nicht behinderten Menschen
in allen Bereichen 
des  täglichen Lebens zu gewährleisten“. Die Gesetzesmaterialien
zeigen, dass man damals ein
verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht schaffen wollte,
das vor dem  VfGH durchsetzbar
ist. Im Sinne dieser Verfassungsbestimmung sieht das
Behindertengleichstellungsgesetz die     
positive     Diskriminierung     behinderter    
Menschen vor.
Antidiskriminierungsrichtlinien der EU, die EU-Grundrechte-Charta und die
UN-Behindertenkonvention,
all diese hochrangigen Regelwerke sichern die rechtliche Stellung von 
Menschen  mit  besonderen  Bedürfnissen  ab. Der Weg für
den einzelnen 
jungen Menschen, 
der  in  Österreich  einen  Rechtsberuf ergreifen will, ist
aber 
steinig geblieben.[2] Als Hindernisse für
den Berufszugang von Behinderten werden von offizieller
Seite die Unmittelbarkeit 
des  Verfahrens,  im Besonderen Lokalaugenscheine, und die
viele Stationen umfassende 
Ausbildung  genannt.  Bei  näherer Betrachtung wird rasch klar,
dass es  vor 
allem am Willen fehlt: so sind etwa das Arbeits- und Sozialgericht 
Wien sowie das   Bezirksgericht   Josefstadt  
nicht   barrierefrei   und   damit  für 
Rollstuhlbenutzer – Parteien wie  JuristInnen  –  nicht oder sehr schwer zugänglich.
Was den Bereich der
Justiz betrifft,  so  trat  neben die ablehnende Haltung der
Ministerialbürokratie 
bislang bedauerlicherweise auch die Ablehnung der Berufsvertretung der Richterinnen und der
Richter
und 
der  zuständigen Gewerkschaftssektion. In anderen europäischen Ländern 
hat sich  schon
lange eine zeitgemäße Haltung durchgesetzt: in Deutschland sind
rund 70 blinde Menschen als Richterinnen und Richter tätig.



Angesichts  dieser Ausgangsposition war es bereits ein starkes Signal,
dass
sich
die Vereinigungen
aller Rechtsberufe mit der Universität Wien zusammenfanden, um
anlässlich 
des 5. Jahrestages des Inkrafttretens der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit  Behinderungen  gemeinsam  eine  Enquete  in 
der  Aula  am  Campus der
Universität Wien  zu  veranstalten.  Die rund zweistündige Tagung „Diversity
– Menschen
mit Behinderungen  in Rechtsberufen“ am 3. Mai 2013 lieferte eine Reihe
starker
Inputs. 

Am  Beginn  der Veranstaltung stand die Einspielung eines
Kurzportraits des
Generalstaatsanwalts von Paris, Francois Falletti, der, zu 100 % sehbehindert, ein Team von 360  Staatsanwältinnen  und  Staatsanwälten im Großraum Paris
dirigiert und
neben seiner Leitungsfunktion nach wie vor selbst im Gerichtssaal auftritt.

Petra  Bungart  ist  Richterin am Amtsgericht Duisburg. Sie
referierte über
ihre Arbeitssituation. Durch  die  heute  zur  Verfügung
stehenden technischen Hilfsmittel ist das 
Lesen und 
das  Bearbeiten  der  Akten  unkompliziert. 
Bungart  führt  aber auch 
überdurchschnittliche  viele Lokalaugenscheine durch. Was andere sehen,
ertastet sie 
mit dem Blindenstock, häufig lässt sie sich Sachverhaltsmerkmale von ihrem Assistenten oder
von
den
Parteien selbst beschreiben.

Alexander  Niederwimmer,  Polizeijurist  in 
Oberösterreich,  ist ebenfalls
blind. Er leitet häufig  Tatortkommissionen  und berichtete, ähnlich wie Bungart, dass
seine
Sachverhaltsaufnahmen in der Regel mehr
Zeit beanspruchen als bei Menschen ohne Sehbehinderungen,
dass sie aber wesentlich
präziser und detailgetreuer ausfallen.


Eine  zweite  Diskussionsrunde  beschäftigte  sich
schwerpunktmäßig mit dem 
Entschließungsantrag des Nationalrats vom Jänner 2013, mit dem ein Pilotprojekt für blinde Richter  angeregt  wurde.[3] 
Das  Parlament  fordert  einen Pilotversuch für
blinde Richterinnen 
und  Richter  am Bundesverwaltungsgericht, das im Jänner 2014 seinen 
Betrieb aufnehmen 
und  ab  dann  das  größte  österreichische 
Gericht  sein wird. 
Sektionschef Gerhard Hesse  vom  Verfassungsdienst  des 
Bundeskanzleramts zeigte sich für einen
solchen Pilotversuch  aufgeschlossen;  er sieht
einen Rechtsanspruch für behinderte 
Menschen auf  Zugang  zu den Rechtsberufen. Die Statements der
weiteren hochrangigen 
Vertreter aus Verwaltung, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Gesundheits-,
Justizministerium 
und Wissenschaft machten   Hoffnung,  dass  die  Tore 
der  Rechtsberufe  für  Menschen  mit 
besonderen Bedürfnissen   tatsächlich   bald  
aufgehen   könnten.   Beispielhaft  ein
Zwischenruf von 
Univ.  Prof.  Rechberger,  der  auf das Argument,
Österreich habe eben 
keine Kultur der  Integration behinderter Menschen in die Rechtsberufe, aus dem
Publikum 
meinte: dann 
müsse  man  diese Kultur eben schnell ändern. Mit ähnlichem Nachdruck 
forderte der  Präsident  des österreichischen Rechtsanwaltskammertags,
Rupert Wolff, 
die Rechte von  Menschen  mit  besonderen Bedürfnissen ein. Die Behindertensprecher von ÖVP und Grünen, Franz-Joseph Huainigg und Helene   Jarmer, kämpfen seit Jahren leidenschaftlich für  die  Öffnung der Rechtsberufe und legten bei der Enquete
ihre Position 
dar. Nicht zuletzt trug die scharfsinnige Moderation von Peter Resetarits zum
Gelingen 
der Veranstaltung und zum breiten Medienecho bei.

Soweit überschaubar, war es das erste Mal, dass die Berufsvereinigungen der RichterInnen, StaatsanwältInnen,  RechtsanwältInnen  und  NotarInnen 
gemeinsam  mit  der
Universität Wien zu einer Fachveranstaltung eingeladen hatten. Dass sie als Thema dafür die 
Öffnung  des  Berufszugangs  für  Menschen mit besonderen
Bedürfnissen
ausgewählt hatten und dass diese Tagung als erste juristische Fachveranstaltung
dieser
Art
zur Gänze
in  die Gebärdensprache gedolmetscht wurde, lässt hoffen, dass
Menschen mit
besonderen Bedürfnissen  künftig  auf  eine  aufgeschlossene 
Haltung der Rechtsberufe
treffen werden.  Universität  Wien und die Vereinigungen aller Rechtsberufe
fassten
in
der Enquete 
gemeinsame  Schlussfolgerungen,[4] in  denen sie
unter anderem fordern, dass
junge Menschen   mit   Behinderungen  ab  sofort 
ermuntert  werden  sollen,  die
rechtswissenschaftlichen Studien  
zu   inskribieren   und   die 
Ausbildung  zu  einem  Rechtsberuf
anzustreben.

Ermutigend
ist jedenfalls die Meldung, die bei Redaktionsschluss am 31.7.2013 einlangt:
Alexander Niederwimmer und Gerhard Höllerer werden ab 1.1.2014 die ersten
blinden Personen in Österreich sein, die das Richteramt ausüben – am neuen
Bundesverwaltungsgericht. 


Dr.  Oliver  Scheiber  ist  Richter  in 
Wien  und  Lehrbeauftragter an der
Universität Wien. Er hat an
der Organisation der
Enquete mitgewirkt.


[2]
Scheiber, Wer ist hier blind? Falter 21/2007.

Ari Rath

Es gehört zu den Verdiensten Werner Faymanns als Bundeskanzler, den 8. Mai als Tag der Befreiung benannt und gefeiert zu haben. 2013 war Ari Rath als Festredner ins Bundeskanzleramt geladen. Der Bundeskanzler hätte den Redner nicht besser wählen können: Ari Rath, legendärer Chefredakteur und Herausgeber der Jerusalem Post, war Mitarbeiter Ben Gurions, er beriet den ägyptischen Präsidenten Sadat genau so wie israelische Politiker oder Bruno Kreisky. Was für ein Gewinn für Wien, dass Rath in den letzten Jahren viel Zeit hier verbringt. Er lässt die Besucherinnen und Besucher vieler Veranstaltungen an seiner Erfahrung, seinem Humor und Esprit teilhaben. Dieser Tage ist Ari Rath vielerorts zu hören: vor zwei Tagen etwa im Haus der Europäischen Union in Wien, wo er aus seiner Autobiographie Ari heißt Löwe las; oder gestern im großartigen Cinema Paradiso in St. Pölten, in dem er den famosen Dokumentarfilm Die Porzellangassenbuben vorstellte. Zahlreiche weitere Termine stehen an. 
"Ich war ein Wasagassler. Ich bin 1934 bis 1938 in die B-Klasse desWasa-Gymnasiums gegangen, in die separate Judenklasse. Juden undChristen durften seit 1934 nicht mehr in die gleiche Klasse gehen."
foto: paul zsolnay verlag/l. hilzensauer

Jugend ohne Knast

Text für DIE ZEIT Nr. 33/2013 vom 8.8.2013

Österreich hat zu viele Häftlinge und unterschätzt die
Einschränkungen des Freiheitsverlusts, findet der Richter Oliver Scheiber. Er
fordert gemeinsam mit einer Gruppe von Juristen radikale Reformen und
Alternativen zum Gefängnis.

Das "Graue Haus", die Justizanstalt Josefstadt in Wien

Das „Graue Haus“, die Justizanstalt Josefstadt in
Wien  

Die Vergewaltigung eines 14-jährigen Buben in der Justizanstalt Wien-Josefstadt vor einigen Wochen sei kein Einzelfall, sagen Experten. Die Dunkelziffer sei enorm. Opfer sprechen oft erst lange nach ihrer Haftentlassung über das erlittene Leid – ein charakteristisches Phänomen auch für außerhalb von Haftanstalten begangene Delikte gegen die sexuelle Integrität.
Bei einem vom grünen Justizsprecher Albert Steinhauser organisierten Expertengespräch im Juni 2013 schilderte ein Insider des Vollzugs die Gepflogenheiten in den Gefängnissen: Jugendlichen, die nach einer Vergewaltigung in der Haft Anzeige erstatten, wird binnen weniger Tage von Mithäftlingen gewaltsam das Wort „Quietschpuppe“ in die Haut eingeritzt. Der Code ist in Gefängnissen bekannt: Träger dieser Tätowierung sind als Verräter gebrandmarkt und laufen Gefahr, bei späteren Gefängnisaufenthalten wieder vergewaltigt oder sonstiger Gewalt ausgesetzt zu werden.
Für die Politik ist der Strafvollzug seit dem Ende der Kreisky-Ära kein Thema mehr. Damals wurde das ehrgeizige Ziel der Resozialisierung verfolgt, heute ist diese Bestrebung zur leeren Worthülse verkommen. Die Justizanstalten sind überbelegt – obwohl die Kriminalität rückläufig ist. Brächte man die Häftlingszahlen auf ein Niveau, das in einem sinnvollen Verhältnis zur niedrigen Kriminalität stünde (also auf rund zwei Drittel der derzeit rund 9.000 Strafgefangenen), dann benötigte man weder Gefängnisneubauten noch zusätzliche Justizwachebeamte. Die aktuell hohen Häftlingszahlen sind erklärbar: Für einen Diebstahl von rund 3.000 Euro landet man mitunter ein paar Jahre im Gefängnis, wenn das Gericht Gewerbsmäßigkeit annimmt.
Die Haftzeit könnte dazu dienen, sich sozial weiterzuentwickeln
Im Strafvollzug werden die meisten Häftlinge nur verwahrt. Fehlende Arbeits- und Bewegungsmöglichkeiten führen zu zunehmender Aggression. Pädagogen und Sozialarbeiter wurden in den vergangenen dreißig Jahren aus den Justizanstalten gedrängt, zugunsten der Justizwache, die nun auch die Gefängnisverwaltung dominiert. So bestimmen Justizwachegewerkschaft und Budgetfragen das Konzept des Strafvollzugs mehr mit als Justizministerin und Fachexperten. Allein im letzten Jahr haben Volksanwaltschaft, eine EU-gestützte Studie und die Expertengruppe Allianz gegen die Gleichgültigkeit davor gewarnt, dass die Haftbedingungen vor allem bei Jugendlichen besorgniserregend und Reformen notwendig seien.
Diese Reformen könnten sich an der Schweiz und an Schweden orientieren. Beide Länder sind mit Österreich in ihrer Größe, Kriminalitätsrate und in ihrer gesellschaftlichen Struktur vergleichbar. Doch sie haben das klassische Haftmodell bei Jugendlichen in den letzten Jahren aufgegeben. Vor allem Wohngemeinschaften und gemeinnützige Arbeiten eignen sich zum Ersatz der Freiheitsstrafe.
Nach einem Ausbau dieser Alternativen würde eine Unterbringung Jugendlicher in Justizanstalten nur mehr eine sehr kleine Gruppe tatsächlich gefährlicher Gewalttäter betreffen. Doch auch diese verdienen einen Strafvollzug, der nicht aus reiner Verwahrung besteht, sondern zugleich eine positive Veränderung ihrer Persönlichkeit beabsichtigt. Beim Personal im Jugendstrafvollzug müssten vor allem Sozialarbeiter, Pädagogen und Therapeuten zum Einsatz kommen und nicht, wie derzeit, fast ausschließlich uniformiertes, bewaffnetes Sicherheitspersonal. Die Haftzeit könnte jugendlichen Häftlingen die Chance bieten, sich sozial und kommunikativ zu entwickeln. Das bedeutete mehr Besuchsmöglichkeiten für Familie und Freunde und kurze Einschlusszeiten während der Nachtstunden; es bedeutete mehr Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sowie ausgedehnt Gelegenheit, Sport zu betreiben.
Oft wird unterschätzt, welch dramatische Einschränkung der Freiheitsverlust für einen Menschen darstellt. Die Haft darf deshalb nicht mit weiteren Nebenstrafen versehen werden, welche die Jugendlichen von der Gesellschaft entkoppeln. Jugendliche Häftlinge benötigen etwa einen einfachen Internetzugang: Warum soll ein jugendlicher Häftling nicht (bei Tag und auch bei Nacht) am PC sitzen, wenn er will? Ein PC bietet die Möglichkeit, über Mail und Facebook zu kommunizieren, Informationen zu erhalten, Wissen zu erwerben – alles Grundrechte, die man während der Haftzeit nicht beschränken sollte.
In Österreich geht es um die Tat, in der Schweiz um den Täter
Jugendliche Straftäter haben zu wenig Rechtsschutz. Zwingend ist die anwaltliche Vertretung derzeit während der Untersuchungshaft und in der Hauptverhandlung wegen schwerer Delikte. Zukunftsweisend wäre eine zwingende und kostenfreie anwaltliche Vertretung für Jugendliche von der ersten polizeilichen Vernehmung bis zum Ende der Strafhaft.
Jugendstrafvollzug und Jugendgerichtsbarkeit brauchen eine Mentalitätsänderung. In einem österreichischen Strafakt geht es zu 98 Prozent um die Anlasstat und zu zwei Prozent um den jugendlichen Täter. In einem Schweizer Strafakt geht es zu etwa einem Drittel um die Tat und zu zwei Drittel um den Täter. Während in Österreich also primär das Augenmerk darauf liegt, eine Tat zu sanktionieren, beschäftigt sich die Schweiz vor allem mit dem Täter und seiner schnellen Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
Der internationale Vergleich zeigt, dass dort Qualität in Justiz und Strafvollzug entsteht, wo interdisziplinäre Teams mit kurzen Kommunikationswegen am Werk sind. Für eine solche Systemumstellung braucht es in Österreich Jugendkompetenzzentren, also eigene Jugendgerichte, in Wien und in den Ballungsräumen. Die herkömmliche Arbeitsweise, bei der Einzelpersonen ihre Papierakten zur Stellungnahme hin- und hersenden, fragmentarisiert die Verantwortung und verursacht eine lange Verfahrensdauer. Qualität entsteht so allerdings selten.
In der Korruptionsbekämpfung hat sich Österreich in den vergangenen fünf Jahren bereits umorientiert: mit einer speziellen Staatsanwaltschaft, Spezialausbildungen und interdisziplinären Teams. Das Konzept ist auf die Jugendgerichtsbarkeit und den Jugendstrafvollzug umlegbar. Die zuletzt ausgehungerte, exzellente Wiener Jugendgerichtshilfe bietet sich für eine Schlüsselrolle im Reformprozess an. Sobald Haft ein Thema wird, müssen sich interdisziplinäre Teams treffen, müssen Eltern, Schule, Jugendamt kurzfristig kontaktiert werden.

Die Justizministerin hat im Juli eine mögliche Trendwende im Strafvollzug eingeleitet. Mit der Leitung der aus der tagespolitischen Not geborenen Taskforce Jugend-U-Haft ist der erst vor Kurzem ernannten Sektionschef für den Strafvollzug Michael Schwanda betraut. Der hat die Gruppe interdisziplinär besetzt, Leiter von ausländischen Vorzeigeeinrichtungen genauso eingeladen wie kritische österreichische Experten – die Wiener Jugendanwältin Monika Pinterits oder die Richterin Beate Matschnig, die den Vergewaltigungsfall öffentlich gemacht hat. Doch die beharrenden Kräfte sind stark, und die Aufgabe der Taskforce ist mit der Jugend-U-Haft zu eng gefasst. Es scheint nicht entschieden, ob die aktuelle Krise ausgesessen oder zur Reform genutzt wird.
Wir überlassen Randgruppen allzu oft ihrem Schicksal: Das gilt für psychisch Kranke, straffällige Menschen, Unterstandslose und Flüchtlinge gleichermaßen.

Diese Gleichgültigkeit ist Gift für eine Gesellschaft, weil sie Solidarität auflöst. Die Aufmerksamkeit, welche die österreichischen Medien dem Strafvollzug in den letzten Wochen gewidmet haben, ist ein starkes Zeichen der Ermunterung.
Der Beitrag gibt die persönliche Ansicht des Autors wieder. Er ist ist Richter in Wien und Mitinitiator der Allianz gegen die Gleichgültigkeit, der unter anderem der frühere UN-Sonderbotschafter über die Folter Manfred Nowak angehört.)

Historischer Schritt: Erstmals blinde Richter in Österreich

Für die österreichische Gerichtsbarkeit ist es ein historischer Schritt: am 1.1.2014 werden Alexander Niederwimmer und Gerhard Höllerer die ersten blinden Menschen sein, die in Österreich Recht sprechen. Der Präsident des neuen Bundesverwaltungsgerichts Harald Perl präsentierte die beiden frisch ernannten Richter heute der Öffentlichkeit. Sie haben, so wie 78 weitere Juristinnen und Juristen, das Bewerbungsverfahren um die Richterstellen des neuen Gerichts erfolgreich durchlaufen.
Das für Straf- und Zivilgerichte zuständige Justizministerium vertritt eine ablehnende Haltung zum Einsatz blinder und sehbehinderter Menschen im Richterdienst. Erst vor wenigen Wochen haben die Vereinigungen der Rechtsberufe deshalb eine Enquete zum Thema veranstaltet und eine Öffnung des Berufszugangs gefordert. In Deutschland und Frankreich etwa sind blinde Menschen bei Gericht und Staatsanwaltschaft schon lange eine Selbstverständlichkeit.
Das neue Bundesverwaltungsgericht, das organisatorisch dem Bundeskanzleramt untersteht, zeigte von Beginn an Offenheit. Präsident Harald Perl ist es zu verdanken, dass binnen kürzester Zeit alte Bedenken überwunden und auch die Frage notwendiger technischer Unterstützung positiv erledigt werden konnte. Auf den angedachten Pilotversuch wird verzichtet, man startet mit einer sauberen Lösung: dem gleichberechtigten Zugang blinder Menschen zum Richteramt.
Alexander Niederwimmer, Asylgerichtshofpräsident Harald Perl und Gerhard Höllerer bei einer Pressekonferenz
Präsident Harald Perl (m.) mit den beiden Verwaltungsrichtern Alexander Niederwimmer (l.) und Gerhard Höllerer (r.) – Foto: Herbert Pfarrhofer (APA)




Alexander Niederwimmer und Gerhard Höllerer im Interview:

Gerhard Höllerer im STANDARD-Interview (Printausgabe vom 19.8.2013)