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Raus aus der Abschottung, hinein in die moderne Welt!

Text für den falter 3/14
Essay:  Oliver Scheiber
Voller Elan hat der neue
Justizminister Wolfgang Brandstetter in ersten Interviews Visionen gezeigt –
vor allem bei der Reform des Strafrechts. Dem Strafrecht gilt auch traditionell
das öffentliche Interesse. Und es gibt da ja wichtige Aufgaben: etwa die
dringend notwendige Durchsetzung einer effizienten Abschöpfung kriminellen
Vermögens. Ungeachtet des medialen Fokus auf das Strafrecht ist die Justiz aber
ganz überwiegend mit Fragen des Zivil-, Unternehmens-, Wohn- und Familienrechts
beschäftigt. Österreich benötigt auch hier dringend Reformen.
Wo stehen wir heute?
Justizexperten sprechen oft von einem Stillstand der Justizpolitik seit Ende
der Kreisky-Ära. Tatsächlich haben die schwache Stellung parteifreier Justizminister
in den Regierungen von 1986 bis 2000 und die häufigen Ministerwechsel danach
Reformen erschwert. Trotzdem hat sich die Justiz seit Ende der 1970er-Jahre
massiv verändert. Zivil- und Strafrecht wurden leise aber nachhaltig reformiert.
Die Einführung der so genannten Diversion (Täter-Opfer-Ausgleich, gemeinnützige
Arbeiten) zur Jahrtausendwende bedeutete die größte Weiterentwicklung des Strafrechts
seit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1975.
Und doch hinkt die Justiz
anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes nach: Diversity-Konzepte, wie man
sie an Universitäten längst kennt, sind den Gerichten ebenso unbekannt wie ein
Social Media Management. Dem gesellschaftlich so wichtigen Strafvollzug, seinen
Missständen und seinem Reformbedarf hat nicht zuletzt der Falter im abgelaufenen Jahr breiten Raum gewidmet.
Für die Justiz gilt ähnliches
wie für das Gesundheits- oder Bildungssystem: Österreich liegt gut, aber es
bedarf neuer Reformen und Strukturen, um auch in Zukunft zu den Besten zu
gehören. Evaluierungen von Europarat und Europäischer Union bescheinigen
Österreich, über eines der effizientesten Rechtsprechungssysteme in Europa zu
verfügen.
Aber die Qualität eines
Gerichtsverfahrens ist nicht nur an der Verfahrensdauer zu messen. Urteile
unterliegen der Überprüfung im Wege der Rechtsmittel. Daneben fehlt ein
ergänzendes Qualitätssicherungsinstrument, angelehnt an die Vorbilder des
Bildungs- oder Gesundheitswesen. Was spricht etwa gegen Evaluierungen in Form
von Befragungen von Beteiligten, Zeugen und Anwälten? Sie könnten Auskunft
geben, über die sozialen Kompetenzen der Richter und Staatsanwälte, etwa wenn
es um so banale, aber wertvolle Eigenschaften wie Höflichkeit und Pünktlichkeit
geht.
Als zentrales Ziel der Justiz bietet sich der Schutz der Grundrechte durch die Gewährung eines fairen Verfahrens für alle
an. Der gleiche Zugang aller  Bürger zum
Recht
erfordert die Beseitigung finanzieller Hürden, aber
auch eine einfache Sprache und eine hohe Verständlichkeit
in schriftlichen Erledigungen, bei
Informationsmaterial und im Verhandlungssaal.
Hilfe für Benachteiligte vor
Gericht
Die Formulierung eines
solchen Ziels
setzt wichtige Fragen auf die Tagesordnung: soll
nicht eigentlich jeder Verdächtige im Strafverfahren durchgehend anwaltlich
vertreten sein, um gleiche Verteidigungsmöglichkeiten vor Gericht zu garantieren?
Wie sichern wir die Position verletzlicher Personengruppen (Alte, Kinder,
psychisch Kranke, Fremdsprachige etc.) vor Gericht besser ab als heute? Was
spricht noch gegen die Audio/Videoaufzeichnung jeder gerichtlichen Vernehmung
und Verhandlung als bewährtes Qualitätssicherungsinstrument – die Aufzeichnung
schützt Zeugen vor Unfreundlichkeiten des Richters und diesen vor falschen
Unterstellungen?
Eines der wichtigsten
Grundrechte ist freilich die Fairness des Verfahrens und damit die
Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Sie
ist der wichtigste Baustein des Rechtsstaates und
einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Dabei geht es nicht (nur) um die
unabhängige Position und Unversetzbarkeit des einzelnen Richters, sondern vor
allem um die Unabhängigkeit des Rechtsprechungssystems. Unabhängigkeit ist kein
Selbstzweck, sie bedeutet eine Verpflichtung der Justiz und die Garantie eines
fairen und gleichen Verfahrens für alle Menschen. Wie erfüllt man dieses
Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit als Recht der Bevölkerung mit
Leben?
Der einfache Zugang zu
Gerichtsverfahren beginnt bei der baulichen und für den Internetauftritt
notwendigen Barrierefreiheit
und reicht über Vorgaben für die durchgehende, umfassende
Dolmetschung
bis zu vernünftigen Gebühren. Österreich hat den
höchsten Kostendeckungsgrad aller europäischen Justizsysteme – ein Warnsignal,
keine Erfolgsmeldung, denn die Gebühren sind, gerade im Familienrecht, zu hoch.
Auch Kommunikation und
Sprache bei Gericht benötigen einen Paradigmenwechsel, der die Universitäten
einschließt. Juristinnen und Juristen werden nach wie vor zur Unverständlichkeit
erzogen. Auch gut gebildete Menschen können vielfach weder den Verlauf einer
Verhandlung richtig deuten noch den Sinn gerichtlicher Entscheidungen erfassen;
oft ist für den Laien nicht erkennbar, wer denn nun Recht bekommen hat. Das
liegt oft an einfachen Dingen: die Verwendung des Familiennamens macht einen
Text leichter verständlich als die Bezeichnung „Kläger und Gegner der
gefährdeten Partei“. Urteile wie auch Internetseiten und Presseaussendungen von
Höchstgerichten bieten positive Beispiele einer neuen Sprache. Die Texte des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Internetseiten
österreichischer Höchstgerichte etwa zeichnen sich zumeist durch eine hohe
Verständlichkeit
aus.
Menschengerechte
Kommunikation, Verständlichkeit und einfache Sprache sind Ziel
und Personalauswahlkriterium einer modernen
Gerichtsbarkeit. Davon ist Österreichs Justiz noch weit entfernt – viele
Gemeindeämter, Finanzämter oder Bezirkshauptmannschaften sind da einige
Schritte weiter; die Justiz muss daher das Rad nicht neu erfinden. Die Vereinfachung
des Zugangs zum Recht umfasst den Entwurf von verständlichem Informationsmaterial,
die flächendeckende Einrichtung von Servicestellen und eine engagiert gelebte
Informations- und Anleitungskultur im Verhandlungssaal und Gericht.
Der Richter als Mediator
Noch vor zwanzig Jahren
mussten alle Beteiligten und Zeugen im Verhandlungssaal während ihrer
Einvernahme stehen, mitunter stundenlang. Es gab keine adäquate Möglichkeit,
mitgebrachte Unterlagen vor sich abzulegen. Dies hat sich grundlegend geändert.
Befragte Personen sitzen nun an einem Tischchen, auf dem für Unterlagen wie
auch ein Glas Wasser Platz ist. Diese Veränderung ging Hand in Hand mit der
neuen Architektur des Gerichtssaals – helles Holz und Glas haben die frühere
dunkle Möblierung abgelöst, die Richterbank ist nicht oder nur mehr unmerklich
erhöht. All diese Veränderungen signalisieren den Gedanken der Kommunikation
auf Augenhöhe.
Dieser Gedanke bestimmt auch
das moderne Prozessrecht. Die letzten beiden Jahrzehnte haben Institute wie
Mediation
, Tatausgleich, Kronzeugenmodelle und Familiengerichtshilfe gebracht. Diese Neuerungen stellen Richterschaft wie
Anwaltschaft vor neue Herausforderungen. Sehr viel mehr als früher geht es
heute in jedem einzelnen Gerichtsverfahren darum, den gestörten Rechtsfrieden
dauerhaft wiederherzustellen, Probleme bei der Wurzel zu packen und
verletzliche Personengruppen zu schützen.
Die Palette der Maßnahmen,
die Gerichte heute anwenden, ist wesentlich breiter als noch vor zwanzig
Jahren. Der Moderation und Leitung eines gerichtlichen Verfahrens kommt
gestiegene, ja zentrale Bedeutung dafür zu, ob die Verfahrensparteien die
gerichtliche Intervention als positiv oder negativ werten. Vor allem deshalb
hat die Persönlichkeitsbildung der Richter gegenüber den juristisch-technischen
Fähigkeiten so an Bedeutung gewonnen. An großen traditionellen Richterakademien
wie jener Frankreichs oder an den neuen Akademien der jüngeren europäischen
Demokratien trägt man dem Rechnung. Österreich fehlt eine solche, in EU-Staaten
übliche Justizakademie. Ihre Gründung könnte einen Quantensprung in der
Ausbildung bringen.
In der Hauptsache geht es
darum, dass Richter und Staatsanwälte menschengerecht agieren und
kommunizieren; eine ihrer zentralen Fähigkeiten muss jene zum Zuhören sein.
Empathie- und Dialogfähigkeit sind für den Rechtsberuf um nichts weniger
wichtig als die Gesetzeskenntnis.
Wir brauchen aber auch einen neuen Umgang mit Politik und Medien. Das Verhältnis von Justizressort
und Richterschaft zur Politik
ist derzeit von Abgrenzung
geprägt. Sie ist notwendig, wenn es um die Abwehr parteipolitischer
Einflussnahme geht. Sie ist verfehlt, wenn dadurch der Austausch zwischen
Politik und Justiz unterbleibt.
Auch Nationalratsabgeordnete können nur dann kompetent über
justizpolitische Fragen entscheiden, wenn ihnen gute Informationen zur
Verfügung stehen, wenn sie also auch von Justiz und Berufsvertretungen aus
erster Hand und regelmäßig über die Herausforderungen, Sorgen und Bedürfnisse
der Gerichtsbarkeit informiert werden.
Die Justiz muss mit der
Politik diese Begegnung auf Augenhöhe finden. Politische Arbeit, sei es in der
Exekutive oder im Parlament, sollte anerkannt werden. Parlamentarische
Untersuchungsausschüsse als wichtiges politisches Aufklärungselement in der
Demokratie verdienen Unterstützung und Respekt der Justiz.
Einer neuen Orientierung
bedarf auch das Verhältnis von Justiz, Richterschaft und Medien
. Die Rolle der Medien als public watchdog ist für das demokratische Gefüge einer Gesellschaft
unverzichtbar (ebenso wie jene von NGOs). Die letzten Jahrzehnte haben deutlich
gemacht, dass häufig die Medien als öffentliches Kontrollorgan einspringen,
wenn die Strafjustiz aus welchen Gründen auch immer ihrer Rolle nicht so
nachkommt, wie man sich das wünschen mag.
Nicht wenige für die Zweite
Republik wichtige Strafverfahren (vom AKH-Skandal bis zur Hypo-Affäre) kamen
erst durch den Druck der Medien (so richtig) in Gang. D
ie Leistungen einer kompetenten Generation von Aufdeckungsjournalisten
wie Florian Klenk
, Ulla Kramar-Schmid, Kurt Kuch und Michael Nikbakhsh
verdienen volle Anerkennung
.
Umgekehrt waren Phasen eines
schwächelnden Aufdeckungsjournalismus zu beobachten, in denen die Justiz durch
erfolgreiche Aufklärungsarbeit in Erscheinung getreten ist. Medien und
Strafjustiz funktionieren also oft wie kommunizierende Gefäße. Justiz und Medien
sind zwei Spieler im demokratischen Gefüge, die sich gegenseitig ergänzen.
In der lange verschlafenen
Öffentlichkeitsarbeit
hat die Justiz zuletzt viel aufgeholt. Zwischenzeitig
geht es aber um mehr als das Kommentieren und Erläutern anhängiger Verfahren.
Öffentlichkeitsarbeit bedeutet heute einerseits die Nutzung neuester Medien,
andererseits auch ein Hinausgehen der Gerichte in die Zivilgesellschaft
. Es ist wichtig, dass Richter und Staatsanwälte
künftig vermehrt an Schulen vortragen und diskutieren. Die Justiz hat hier,
genauso wie die Polizei, eine Informations- und Präventionsaufgabe zu erfüllen.
Sie muss um Vertrauen für ihre Arbeit werben und benötigt dafür auch
Ressourcen.
Und Europa?
Gedanken an die Zukunft sind
auch im Justizbereich unvollständig ohne Bezugnahme auf das Europäische Projekt.
Der Aufbau des gemeinsamen Europäischen Rechtsraums ist das spannendste
rechtspolitische Unterfangen der Gegenwart; es verändert und bereichert die
Arbeitswirklichkeit der österreichischen Richter und Staatsanwälte wie auch
Rechtsanwälte und Notare. Der Justiz ist für die nächsten Jahre noch mehr an
Internationalisierung und Europäisierung
zu wünschen; zuletzt hat sich Wien in die
Harmonisierungsprozesse auf europäischer Ebene viel zu wenig eingebracht. Die
Entsendung einer größeren Zahl an Experten in die europäischen Einrichtungen,
insbesondere in die Europäische Kommission, böte Österreich die Chance,
europäische Entwicklungen stärker mitzugestalten.
Das Europarecht bestimmt unser Rechtssystem bereits in einem solchen
Ausmaß, dass alle Bewerber für das Richteramt zumindest einige Wochen bei den
Einrichtungen in Brüssel, Luxemburg, Den Haag oder Strassburg verbringen
sollten, um den Gesetzgebungsprozess und die Gerichtsbarkeit auf europäischer
Ebene kennenzulernen.
Die Justiz hat eine lange
Tradition der Abschottung gegenüber der Außenwelt hinter sich. Das Selbstbild
der Justiz ändert sich derzeit radikal; umgekehrt beurteilen Politik, Medien
und Gesellschaft die Justiz viel kritischer als noch vor einigen Jahren. Die
neue Legislaturperiode bietet die Chance, die Justiz auf neue Wege zu führen
und im Spitzenfeld europäischer Rechtsprechungssysteme zu halten.   

Zur Person: Der Autor ist Richter und
Universitätslektor in Wien; er war Mitarbeiter im Büro der früheren
Justizministerin Maria Berger und leitet derzeit das Bezirksgericht Meidling.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

Mission impossible: Ist Justiz wandelbar?

Text, erschienen im neuen Sammelband Pilgermair (Hrsg), Wandel in der Justiz, Verlag Österreich (2013)


Inhalt

  
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Mission impossible: Ist Justiz
wandelbar?

 Oliver Scheiber
I. Justizpolitik als
gesellschaftspolitisches Feld

Fragt man österreichische Juristinnen und
Juristen nach größeren Justizreformen, so kommt die Rede meist rasch auf die
1970er-Jahre. Allein, die damaligen Reformen liegen mehr als dreißig Jahre
zurück. Gab es seither einen Stillstand in der Justizpolitik
? Oder empfinden wir es nur so? In beiden Fällen: was sind die
Gründe dafür, und wo müssen künftige Justizreformen ansetzen? Diesen Fragen
gehen die folgenden Seiten nach.[1]

Die Justizpolitik in Österreich war seit
dem Zweiten Weltkrieg durch eine parteiübergreifende Zusammenarbeit geprägt.
Justizpolitische Reformen wurden, selbst in Zeiten von Alleinregierungen,
zumeist so lange mit der Opposition verhandelt, bis eine gemeinsame
Beschlussfassung über die politischen Lager hinweg im Parlament erfolgte. Der
Gedanke dahinter war, dass die Justizpolitik ein zentrales
gesellschaftspolitisches Feld bildet. Die breite Akzeptanz stand im harmoniebedürftigen
und konfliktscheuen Nachkriegsösterreich über dem Reformtempo.

Die Justiz hat sich freilich seit den
Reformen der 1970er-Jahre entwickelt. Zivil- und Strafrecht wurden erneuert.
Die Einführung der Diversionsbestimmungen zur Jahrtausendwende bedeutete die
größte Weiterentwicklung des Strafrechts seit Inkrafttreten des
Strafgesetzbuches 1975. Mit ihr erfolgte eine zeitgemäße Entkriminalisierung
bei Massendelikten ohne auffälligen Unrechts- bzw. Schuldgehalt. Die 2008 in
Kraft getretene Reform des strafrechtlichen Vorverfahrens hatte ähnlich großes
Potential. Die langen Anlaufschwierigkeiten bei der Umsetzung lassen eine
endgültige Beurteilung der Reform bis heute allerdings nicht zu. Unter den
Reformen der letzten Jahre verdient zweifellos das 2005 in Kraft getretene neue
Außerstreitgesetz Erwähnung. Es hat den Gedanken des Schutzes verletzlicher
Personengruppen durch den Staat aufgegriffen. Die mit Februar 2013 in Kraft
getretene Reform des Familienrechts schließlich trägt die Chance auf einen
enormen Qualitätssprung in diesem für Bevölkerung und Ansehen der Justiz so
wichtigen Rechtsbereich in sich. Die Einführung der Familiengerichtshilfe
und der Besuchsmittler könnte Verfahren verkürzen und dem
Kindeswohl als zentralem Anliegen des Familienrechts zu mehr Geltung in der
Praxis verhelfen.

A. Möglichkeiten und Grenzen der
Gestaltung

Jüngste Evaluierungen von Europarat und
Europäischer Union bescheinigen Österreich, über eines der effizientesten
Rechtsprechungssysteme in Europa zu verfügen.[2] Warum
teilen breite Fachkreise ungeachtet dieser Ergebnisse und der oben angeführten
Reformen das Gefühl, dass der Justizpolitik in den letzten Jahrzehnten keine
großen Sprünge gelungen sind? Nun, zum einen entspricht das Empfinden einer
Lähmung der in ganz Europa verbreiteten öffentlichen Wahrnehmung von Politik
. Zum anderen hat dieses Gefühl den realen Hintergrund, dass die
Politik viele Gestaltungsmöglichkeiten ungenutzt lässt. Den gesellschafts- und
justizpolitisch markanten Bereich des Strafvollzugs etwa hat die Politik jahrzehntelang
aus den Augen verloren.

Das Schwächeln der Justizpolitik in den
letzten drei Jahrzehnten hat konkrete Ursachen. Eine davon betrifft die
Einflussmöglichkeiten der Ressortleitung. Als Folge parteipolitischer
Einflussnahme auf Strafverfahren[3]
verständigte sich die große Koalition aus SPÖ und ÖVP im Jahr 1987 darauf, eine
parteiunabhängige Person als Justizminister einzusetzen. Von 1987 bis 1990
wirkte der langjährige Spitzenbeamte Egmont Foregger
als
parteiloser Justizminister. Nach ihm übte Nikolaus Michalek
zehn
Jahre lang mit unbestrittener fachlicher und persönlicher Kompetenz das Amt
aus. Nichtsdestotrotz litt er an dem mit dem Konzept des unabhängigen
Fachministers immer verbundenen Mangel an Verankerung in den
Regierungsparteien. Die fehlende Einbettung des Ministers in eine Partei
bedeutet weniger an Informationen, eine schwache Position bei
Budgetverhandlungen und eine knappe Ausstattung des Ressorts.

Ab dem Jahr 2000 sah sich das Justizressort
mit häufigen Ministerwechseln konfrontiert. Für größere Reformschritte fehlte
damit die Kontinuität. Unter den wenigen jüngeren Reformen von Bedeutung sind
die Einrichtung der Justizmanagementlehrgänge für Justizverwaltungsorgane durch
Justizministerin Karin Gastinger
, die Einführung der Korruptionsstaatsanwaltschaft und der
Justizombudsstellen
sowie die Reform der bedingten Entlassung unter Maria Berger und zuletzt die Familienrechtsreform mit der Einrichtung der
Familiengerichtshilfe
unter Beatrix Karl.

Die Aufgaben der Justiz ergeben sich aus
Verfassung und gesellschaftlicher Grundordnung. Ein konkreter, detaillierter
ausformuliertes Unternehmensziel
wäre für ein Ressort mit einer so hohen Zahl an jährlichen
Verfahren und Bürgerkontakten dennoch hilfreich. Die meisten großen Betriebe,
ob öffentlich oder privat, formulieren eine Zielsetzung und gemeinsame Idee.
Dies wirkt positiv auf die Mitarbeitermotivation und die Flexibilität des
Systems.

Die fehlende Ausformulierung von
Unternehmensziel
und Rollendefinition erschwert eine transparente Personalauswahl. Weder Gesetz noch Verordnungen definieren näher, welches Bild der
Gesetzgeber von RichterInnen und StaatsanwältInnen vor sich hat. Ein wichtiger
Schritt war die vor wenigen Jahren erfolgte Ergänzung der Gesetze um die
sozialen Kompetenzen als Voraussetzung für das Richteramt und als Ziel der
Grundausbildung.

Der unklaren Rollendefinition und dem
fehlenden Anforderungsprofil für RichterInnen und StaatsanwältInnen
entsprechend kann auch jedes Fortbildungssystem
nur vage sein. Eine durchsetzbare Fortbildungsverpflichtung besteht nicht. Problematisch bleibt auch die Zersplitterung der
Kompetenzen bei der Personalauswahl. Vielfach sind die Landesgerichte für eine
Vorauswahl im Verfahren zur Findung des richterlichen Nachwuchses zuständig;
mangels gemeinsamer Kriterien gehen sie dabei unterschiedlich vor. Das
Verfahren wird intransparent.

Die Arbeitsleistungen der RichterInnen
werden heute, was den Fortgang der Verfahren betrifft, durch ein hoch
entwickelte EDV-System detailliert erfasst. Monatliche Prüflisten zeigen, wie
Verfahren voranschreiten oder auch stillstehen. Damit konnte die
Verfahrensdauer
in den letzten zwanzig Jahren enorm verkürzt werden. Dies ist für
die Bürgerinnen und Bürger wichtig, denn jedes Verfahren bedeutet eine
emotionale und finanzielle Belastung. Der rasche Rechtsschutz ist auch ein
Asset für den Wirtschaftsstandort Österreich. Gleichzeitig führt das System der
Prüflisten jedoch zu einer Fixierung auf die Verfahrensdauer. Andere
Qualitätskriterien werden kaum definiert oder kontrolliert. Während die
Überprüfung der Qualität der Entscheidungen durch die Rechtsmittel erfolgt,
unterliegt die interaktive Kompetenz der Richterinnen und Richter, also der kommunikativen
Fähigkeiten, Höflichkeit und Pünktlichkeit, keiner systematischen Überprüfung.
Die Zukunft gehört daher  einem breit
angelegten Qualitätssicherungssystem
, für das sich Vorbilder vor allem im Gesundheits- und
Universitätswesen finden.

Dort wo die auf hohem Niveau arbeitende
heimische Justiz Schwächen zeigt, gehen diese zumeist auf Steuerungsdefizite
zurück. So fehlen in wichtigen Bereichen wie Psychiatrie oder
Aussagepsychologie gerichtliche Sachverständige. Hier wären Anstrengungen des
Justizressorts gefragt, gemeinsam mit den Universitäten Ausbildungen zu
organisieren und qualifizierte Personen zur Eintragung in die gerichtlichen
Sachverständigenlisten anzuregen. Ein anderes Beispiel: in Spanien versucht
man, bei allen Gerichtsneubauten und –umbauten nach exakt demselben Schema
vorzugehen. So ist etwa der Eingangsbereich mit Infoschalter in allen zuletzt
adaptierten Gebäuden gleich gestaltet. Das vereinheitlicht Abläufe, schafft
einen Wiedererkennungswert und eine leichtere Orientierung für alle
Beteiligten. Es bedeutet Steuerung im besten Sinne.

Reformen leben heute in allen
Politikbereichen von der Anhörung und Einbindung externer ExpertInnen. Im
Vergleich zu anderen Ressorts ist das Justizressort immer noch ein
vergleichsweise monolithischer, abgekapselter Bereich. So betreuen im
Justizministerium RichterInnen und StaatsanwältInnen auch Bereiche wie
Informatik oder Budget. Auch die Öffentlichkeitsarbeit
erfolgt ohne in die Verwaltung integrierte Fachkräfte. Dieses
starre Konzept der richterlichen Selbstverwaltung, ursprünglich zur Absicherung
der Unabhängigkeit der Rechtsprechung
entwickelt, ist schlicht nicht mehr zeitgemäß. Die für hohe
Qualität unabdingbare interdisziplinäre Zusammenarbeit kommt zu kurz. Die
Offenheit für von außen kommende Gedanken ist reduziert. Das Ergebnis sind
Defizite in der externen Kommunikation
, in der professionellen Außendarstellung oder etwa bei der
Umsetzung von Reformen, siehe die für das Gelingen der Strafprozessreform
nötige Neuorganisation der Staatsanwaltschaften oder Schwierigkeiten beim
Aufbau der Familiengerichtshilfe
.

B. Herausforderungen

Der geschilderte Mangel an externer
Expertise und Kreativität betrifft nicht nur die zentrale Justizverwaltung
, er zieht sich genau so durch die in der Praxis wichtigen
richterlichen Personalsenate
und durch die Justizverwaltung der mittleren und unteren Ebene. Die
große Ausnahme bildet die richterliche Fortbildung
, in der externe ExpertInnen in großer Zahl als Vortragende mitwirken.
Dieses Fenster zur Welt in Form des Fortbildungssystems ist für die Justiz
mittlerweile existenziell wichtig.

Die Tendenz zur Abschottung besteht bei
Justizverwaltung
und Berufsvertretungen gleichermaßen. Sie führt etwa zur Ausblendung
des in anderen Bereichen des öffentlichen Diensts wie auch in großen privaten Unternehmen
selbstverständlichen Gedankens der Diversity
. So sind Menschen mit migrantischem Hintergrund im Justizpersonal
unterrepräsentiert und Menschen mit besonderen Bedürfnissen finden gar keinen Zugang
zu den Justizberufen.[4] Hier
hat eine von den Vertretungen aller Rechtsberufe und der Universität Wien im
Mai 2013 organisierte Enquete, die blinde und sehbehinderte Menschen
vorstellte, die Spitzenpositionen bei der Polizei und in der deutschen und
französischen Justiz bekleiden,[5] einen
neuen Geist gezeigt. Die bisher skeptische Haltung wird in den
Schlussfolgerungen der Veranstaltung von der Forderung abgelöst, behinderte
Menschen zum Jusstudium und Ergreifen von Rechtsberufen zu ermuntern und sie
auf diesem Weg zu unterstützen.[6]

Die justizpolitische Bilanz der letzten
Jahrzehnte ist also durchwachsen. Dass die österreichische Justiz heute im
internationalen Vergleich so gut dasteht, ist nicht nur den Initiativen der
Ressortleitung, sondern auch einzelnen herausragenden BeamtInnen und
VertreterInnen der Justizverwaltung
geschuldet.[7]

Die bisherigen Ausführungen zeigen, wo für
die Zukunft Bedarf nach weiteren Reformen und nach Wandel besteht. Die
folgenden Abschnitte sind der Formulierung konkreter Reformvorschläge gewidmet.[8]

II. Zukunftsfelder
der Justizpolitik

A. Unternehmensziel und Rollenbild

Die Verfassung trägt der Justiz auf, in
Straf- und Zivilsachen die Gesetze anzuwenden und durch unabhängige Richter und
Richterinnen Recht zu sprechen. Zum Justizressort gehören zudem die öffentliche
Anklage und der große Bereich des Strafvollzugs
. Betrachtet man diese Aufgaben gemeinsam mit Bundesverfassung und
modernen Grundordnungen wie der EMRK
oder der EU-Grundrechtecharta, so ist es naheliegend, den Schutz der Grundrechte der Menschen als zentrale Aufgabe der Justiz zu definieren. Ziel
des Justizressorts muss es sein, allen Menschen den gleichen Zugang zum Recht
und faire Verfahren zu gleichen Bedingungen
zu
garantieren. Die Formulierung eines solchen allgemeinen Unternehmensziels
bringt wichtige Fragen auf die Tagesordnung, die auch in anderen
europäischen Ländern diskutiert werden. Es geht etwa darum, ob nicht in
Strafsachen ein genereller Verteidigerzwang notwendig ist, um gleiche
Verteidigungsmöglichkeiten vor Gericht zu garantieren, oder um die Sicherung
der Position verletzlicher Personengruppen (Alte, Kinder, psychisch Kranke,
Fremdsprachige etc.), sobald diese vor Gericht auftreten.

Der Gedanke des Grundrechtsschutzes und des
gleichen Zugangs zum Recht für alle Menschen ist selbstverständlich in vielen
Bereichen bereits umgesetzt. Institute wie die Verfahrenshilfe, der
Kinderbeistand oder das Sachwalterschaftsrecht tragen zur Annäherung an dieses
Ziel bei. Dennoch fehlt ein ausformuliertes Unternehmensziel
, wie es große Organisationseinheiten üblicherweise haben und das
dann bei Personalauswahl
und Aus- und Fortbildung eine wichtige Rolle spielt.[9]

1.     
Neudefinition der
Unabhängigkeit

Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist ein zentraler Baustein des Rechtsstaates und einer
demokratischen Gesellschaftsordnung. Die Stärkung dieser Unabhängigkeit
einzufordern ist wichtig und legitim. Vor allem die richterliche
Berufsvertretung (ein Begriff, der endlich die altertümliche Bezeichnung
Standesvertretung ablösen sollte) ist gefordert, die Unabhängigkeit verstärkt
dahingehend zu kommunizieren, dass es nicht nur um die unabhängige Position und
Unversetzbarkeit des einzelnen Richters geht, sondern vor allem um die
Unabhängigkeit des Rechtsprechungssystems, eben um den Bürgerinnen und Bürgern
einen gleichen Zugang zum Recht
ohne Unterschied ihres Bildungs- oder finanziellen Hintergrunds zu
garantieren. Unabhängigkeit ist also kein Selbstzweck, sondern vor allem als
Garantie eines fairen und gleichen Verfahrens für alle Menschen zu verstehen.
Die Unabhängigkeit ist daher auch eine Verpflichtung der Justiz und von uns
Richterinnen und Richtern gegenüber der Bevölkerung. In Artikel II der 2007
verabschiedeten Ethikerklärung
der Richtervereinigung[10]
heißt es daher folgerichtig: „Richterliche Unabhängigkeit dient dem Schutz der
rechtsuchenden Menschen und darf niemals als Vorwand für Willkür oder geistig
oder sozial abgehobenes Verhalten missbraucht werden.“ Dieses Verständnis der
richterlichen Unabhängigkeit als Recht der Bevölkerung muss mit Leben erfüllt
werden. Der einfache Zugang zu Gerichtsverfahren beginnt bei der baulichen und
für den Internetauftritt notwendigen Barrierefreiheit
und reicht über Vorgaben für die Dolmetschung bis zum Gebührenrecht. Erhöhungen der Gerichtsgebühren, gerade im
sensiblen Familienrechtsbereich, haben zuletzt erhebliche Hindernisse für
sozial schwächere Familien aufgebaut. Österreich hat den höchsten
Kostendeckungsgrad aller europäischen Justizsysteme – ein Warnsignal, keine
Erfolgsmeldung.

2.     
Zugang zum Recht

Der einfache Zugang zum Recht
erfordert Verständlichkeit und
eine menschengerechte Kommunikation. Eine einfache Sprache, sei es in gerichtlichen Schriftstücken oder
in mündlichen Erläuterungen, bietet sich als Unternehmensziel
und Auswahlkriterium beim Personal an. Die Vereinfachung des
Zugangs zum Recht umfasst den Entwurf von verständlichem Informationsmaterial,
die flächendeckende Einrichtung von Servicestellen und eine engagiert gelebte
richterliche Anleitungspflicht im Verfahren selbst. Finanzielle Hürden durch
Gerichtsgebühren und Kopierkosten sowie die Abgrenzung gegen weniger gebildete
Menschen durch eine abgehobene, verklausulierte Sprache führen gerade hin zur
Klassenjustiz.

Die schon erwähnte Ethikerklärung der RichterInnenvereinigung[11] hat
die Bedeutung der Sprache erkannt; in ihrem Artikel 8 heißt es: „Wir bemühen
uns daher, in unseren mündlichen und schriftlichen Äußerungen allgemein
verständlich zu sein.“ Dieses Bemühen findet in der Fortbildung
der Justiz Niederschlag. Der nötige Paradigmenwechsel, der auch die
Universitäten einschließt, steht aber noch aus. Juristinnen und Juristen werden
nach wie vor zur Unverständlichkeit erzogen. Auch gut gebildete Menschen können
vielfach weder den Verlauf einer Verhandlung richtig deuten noch den Sinn
gerichtlicher Entscheidungen erfassen; oft ist für den Laien nicht erkennbar,
wer denn nun Recht bekommen hat. Das liegt oft an einfachen Dingen: die
Verwendung des Familiennamens macht einen Text leichter verständlich als die
Bezeichnung „Kläger und Gegner der gefährdeten Partei“. Urteile wie auch
Internetseiten und Presseaussendungen von Höchstgerichten bieten positive
Beispiele einer neuen Sprache. Die Texte des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte etwa zeichnen sich zumeist durch eine hohe Verständlichkeit
aus.[12]

Gleichen Zugang zum Recht zu
sichern bedeutet, verletzlichen Personengruppen besondere Aufmerksamkeit und
Schutz zukommen zu lassen. In den Arbeiten von Europarat und Europäischer Union
geht es  in den letzten Jahren häufig um
den Schutz von Kindern, alten und pflegebedürftigen Menschen, von
Fremdsprachigen und finanziell schlechter gestellten Personen. Die Qualität
eines Rechtssystems misst sich unter anderem im Umgang der Gerichtsbarkeit und
Rechtsberufe mit diesen verletzlichen Personengruppen. Dabei ändern sich die
gesellschaftlichen Vorstellungen rasch. Hielt man es jahrhundertelang für das
Beste der Kinder, wenn alle Verantwortung bei den Eltern liegt, so werden die
Kinder seit wenigen Jahren als eigenständige Verfahrenspartei gesehen, deren
Gehör möglichst frühzeitig zu wahren ist. In den letzten beiden Jahren
veröffentlichte Empfehlungen von Europarat und EU zu einer kindergerechten
Justiz[13] sind
enorme Anforderungen an die Justizpolitik.

3. Steuerung

Qualitätssprünge in der hoch entwickelten
österreichischen Justiz sind ohne ein Mehr an zentraler Steuerung nicht
denkbar. Das lässt sich im Personalsektor leicht festmachen. Ein paar Jahre
lang fehlen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, dann wieder Familienrichterinnen
und Familienrichter. Hier gilt es, durch ein Mehr an Analyse und Steuerung den
mutmaßlichen Personalbedarf in den einzelnen Sparten zu planen und bei der
Auswahl unter den Bewerberinnen und Bewerbern mehr auf die spezifische
Qualifikation zu achten. So lässt die Zusatzqualifikation Wirtschaftsstudium
erwarten, dass sich die unter diesem Aspekt ausgewählten Personen für eine
Tätigkeit im Handelsrecht sowie im Wirtschaftsstrafrecht interessieren, während
für den Familienrechtsbereich eher Zusatzqualifikationen aus dem Bereich
Mediation, Psychologie oder Sozialarbeit interessant sind.

Das Aufnahmeverfahren für den Richterdienst
bietet sich als zentrales Feld künftiger Reformen an. So wie in Europa im
Polizeibereich schon lange zentrale Sicherheitsakademien Standard sind, so hat
sich auch in den Justizsystemen eine Struktur mit zentralen Justizschulen
durchgesetzt.[14] Eine
zentrale Justizakademie
böte auch in Österreich die Möglichkeit eines transparenten,
gleichen Aufnahmeverfahrens für das gesamte Bundesgebiet und die Chance, die
Grundausbildung nach modernsten didaktischen Konzepten als
Postgraduate-Ausbildung auszugestalten. Interdisziplinäre Konzepte lassen sich
so ebenfalls besser umsetzen. Eine völlig neu gestaltete justizinterne
Ausbildung erscheint umso nötiger, als die rechtswissenschaftlichen Studien in
Österreich weitgehend einen rein rechtsdogmatisch-normativen Ansatz verfolgen.
Der Soziologe Max Haller[15] hat
zutreffend angemerkt, dass die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaft,
Gesellschaft und Politik
einerseits, Recht und Verfassung andererseits stärker ins
Bewusstsein aller Rechtsberufe treten müsste. Die Negierung dieses Zusammenhangs
birgt die Gefahr einer menschenverachtenden Rechtsanwendung in sich.

Die Schaffung einer Justizakademie wird
ungeachtet der aktuell hochwertigen richterlichen Fortbildung zur Zukunftsfrage
werden. Österreich verfügt nicht wegen, sondern trotz seiner Strukturen über
eines der international spannendsten Fortbildungsangebote für den
Richterdienst.[16]

Spezialisierungen in Grundausbildung und
Fortbildung könnten in neuen Bahnen erfolgen. Schwierigkeiten bei der
Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und bei der Abwicklung der
zivilrechtlichen Anlegerprozesse haben zuletzt eine Fixierung auf
Wirtschaftskompetenz ausgelöst. Das Konzept der Masterlehrgänge und externen
Praktika, das für die im Wirtschaftsrecht tätigen RichterInnen und
StaatsanwältInnen umgesetzt wurde, ließe sich im nächsten Schritt auf die
anderen Sparten wie das Familienrecht übertragen. Gerichtsbarkeit benötigt in
vielen Feldern hohe Kompetenz in Fragen der sozialen Zusammenhänge oder der
Kommunikation
mit Menschen in Krisensituationen. Familienrecht, Unterbringungsrecht,
Strafvollzug und Sachwalterschaftsrecht erfordern ebenso eine spezielle
Ausbildung wie das Wirtschafts(straf)recht. Aus Gründen der
Mitarbeitermotivation sollten alle diese Ausbildungen auf demselben Niveau
(gleiche Module oder Masterlehrgänge) angeboten und durch eine
Ausbildungsverpflichtung[17]
ergänzt werden. Zukunftsweisend wäre es, künftigen FamilienrichterInnen die
Gelegenheit zu geben (bzw. auch die Verpflichtung aufzuerlegen), Praktika bei
Jugendämtern, bei psychiatrischen Einrichtungen, beim Arbeitsmarktservice, in
Schulen
, bei der Caritas, in Jugendwohngemeinschaften oder bei der
Flüchtlingshilfe zu absolvieren. Die Absolvierung der speziellen Ausbildung
könnte, ähnlich dem Facharztsystem in der Medizin, die Voraussetzung für eine
Tätigkeit in Rechtsprechungsbereichen bilden, die besondere Kompetenzen verlangen.

Weitere Systemumstellungen könnten in die
Überlegungen einbezogen werden: Derzeit erfolgt die Auswahl von Bewerberinnen
und Bewerbern für das Richteramt nach relativ kurzer, nur einige Monate langer
Beobachtung. Einmal übernommene Personen verbleiben dann ein Leben lang im
Personalstand. Es wäre zu überlegen, von Haus aus mehr Personen in den
richterlichen Vorbereitungsdienst aufzunehmen und dann nur die Besten, nach
einer zwei- bis dreijährigen Beobachtungszeit als RichterInnen zu übernehmen.

B. Menschengerechte Kommunikation

Auf den ersten Blick scheint uns, dass sich
das Bild der Gerichtsverhandlung, wie wir es seit der Antike in Überlieferungen
und in der Literatur finden, über die Jahrtausende wenig verändert hat. Das
Bild täuscht jedoch: über Jahrhunderte war die Rechtsprechung ein Bereich der
Staatsgewalt, in dem repressiver Charakter und rechtlich absolute Autorität des
Staates in vielen Facetten besonders ausgeprägt waren. Der Wandel, der hier in
den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, ist markant. Man halte sich nur vor
Augen, dass  die Rechtsprechung den Frauen
bis in die Neuzeit verwehrt war. Nun, nur wenige Jahrzehnte nach der
Berufsöffnung beträgt der Frauenanteil beim richterlichen Nachwuchs rund 70%.
Und auch wenn wir nur zwanzig Jahre zurückblicken, so stoßen wir auf einen
einschneidenden Wandel des Gerichtsalltags. Noch vor zwanzig Jahren mussten
alle Parteien und ZeugInnen in einem österreichischen Gerichtsverfahren während
ihrer Einvernahme stehen, mitunter stundenlang, ohne adäquate Möglichkeit,
mitgebrachte Unterlagen vor sich abzulegen. Dies hat sich grundlegend geändert.
Befragte Personen sitzen nun an einem Tischchen, auf dem für Unterlagen wie
auch ein Glas Wasser Platz ist. Diese Veränderung ging Hand in Hand mit der
neuen Architektur des Gerichtssaals. Das einschüchternde, dunkle Holz wurde von
hellen Möblierungen der Verhandlungssäle abgelöst, die Richterbank ist in
Zivilverhandlungssälen in der Regel auf derselben Ebene wie der restliche Raum,
in Strafverhandlungen zumeist nur mehr durch eine einzelne Stufe vom übrigen
Raum abgesetzt. All diese Veränderungen signalisieren den Gedanken der
gleichberechtigten Kommunikation,  der
Kommunikation auf Augenhöhe.

1.     
Kommunikation und
Verhandlungskultur im Wandel

Dieser Gedanke bestimmt auch das moderne
Prozessrecht. Während anachronistische Elemente wie die Beeidigung abgeschafft
oder zum toten Recht wurden, haben in das Verfahrensrecht in den letzten Jahrzehnten
Institute wie Mediation
, Tatausgleich, Kronzeugenmodelle und Familiengerichtshilfe Einzug gehalten. Diese Neuerungen stellen Richterschaft wie
Anwaltschaft vor neue Herausforderungen. Sehr viel mehr als früher geht es
heute in jedem einzelnen Gerichtsverfahren darum, den gestörten Rechtsfrieden
dauerhaft wiederherzustellen, Probleme bei der Wurzel zu packen und
verletzliche Personengruppen zu schützen. Die Palette der Maßnahmen, die
Gerichte heute anwenden, ist wesentlich breiter als noch vor zwanzig Jahren.
Der Moderation und Leitung eines gerichtlichen Verfahrens kommt gestiegene, ja
zentrale Bedeutung dafür zu, ob die Verfahrensparteien die gerichtliche
Intervention als positiv oder negativ werten. Dementsprechend hat die
Persönlichkeitsbildung der Richterinnen und Richter gegenüber den
juristisch-technischen Fähigkeiten an Bedeutung gewonnen. An großen traditionellen
Richterakademien, wie der
Ecole
Nationale de la Magistrature (ENM)[18] in Frankreich, aber auch an den neuen Akademien der jüngeren
Demokratien,[19]
konzentriert man sich seit Jahren darauf und fordert explizit einen neuen
Humanismus ein, dem die moderne Justiz verpflichtet sei. In der Hauptsache geht
es darum, dass RichterInnen und StaatsanwältInnen menschengerecht agieren und
kommunizieren; eine ihrer zentralen Fähigkeiten muss jene zum Zuhören sein. Die
Dialogfähigkeit ist für den Rechtsberuf um nichts weniger wichtig als die
Gesetzeskenntnis. Von wenigen formalisierten Abschnitten eines
Gerichtsverfahrens abgesehen gibt es keinen Grund, im Verhandlungssaal bzw.
Justizgebäude anders zu kommunizieren als in sonstigen Lebensbereichen. Viele junge
RichterInnen und StaatsanwältInnen beherrschen bereits die moderne Kommunikations-
und Verhandlungstechniken.

Der Gedanke der gleichberechtigten,
menschengerechten Kommunikation
wurde also baulich und verfahrenstechnisch zum großen Teil umgesetzt.
Er bedarf der Ergänzung um ein klar ausgesprochenes Bekenntnis dazu und der
Implementierung in die richterliche Grundausbildung und Fortbildung
, um einen Wandel der Unternehmens- und Kommunikationskultur der
Justiz auf breiter Basis herbeizuführen.

2.     
Neue Kommunikation des Verhandlungssaals am Beispiel des Strafverfahrens

Am Strafverfahren lässt sich gut zeigen,
was moderne Gerichtskommunikation bedeuten könnte. So ist es z.B. immer noch
üblich, dass die Schuldfrage in der Hauptverhandlung sehr bereit erörtert wird,
während für die Frage der Sanktion für den Fall des Schuldspruchs wenig Raum
bleibt. Kommt es zum Schuldspruch, so verkündet der Richter als deus ex machina
eine punktuelle Strafe aus der breiten gesetzlichen Sanktionenpalette. Hält man
sich die Bedeutung der Sanktion für den Schutz der Bevölkerung vor künftigen
Straftaten und für die Möglichkeiten des Verurteilten zur Resozialisierung vor
Augen, so erschließt sich die Notwendigkeit, die mögliche Sanktion vor der
Urteilsverkündung zwingend zu erörtern und auch entsprechend zwischen Gericht,
Verteidigung und Anklage zu diskutieren. Nur so können möglichst viele Aspekte
in die Sanktionsfindung einfließen und die Treffsicherheit der gerichtlichen
Entscheidung erhöhen. Eine Anhebung des Kommunikationsstandards ließe sich in
Vernehmungen im Vorverfahren sowie in der Hauptverhandlung auf sehr einfache
Weise durch eine generelle Simultandolmetschung
erreichen; derzeit wird für fremdsprachige Verfahrensbeteiligte oft
nur sehr verkürzt gedolmetscht. Einzelne Verfahrensteile, wie etwa die
Schlussplädoyers, werden im Regelfall überhaupt nicht gedolmetscht.
Fremdsprachige werden gefragt, ob sie dem Schlussplädoyer ihres Verteidigers,
das sie nicht verstehen konnten, etwas hinzufügen wollen. Von einer
gleichberechtigten Kommunikation
aller Verfahrensbeteiligten kann unter diesen Umständen nicht die
Rede sein.

Das an manchen Gerichten und auch bei Polizeibehörden
bereits verwendete Videoprotokoll
ist ein weiteres Mittel zur Verbesserung der Kommunikationsstandards,
insbesondere macht es auch die Vorgänge für Berufungsbehörden oder
Beschwerdestellen leicht nachprüfbar. Gleichberechtigte Kommunikation
ist überall dort erschwert, wo Parteien auf der einen Seite
vertreten sind, auf der anderen Seite nicht. Diese Ungleichheit lässt sich
durch richterliche Anleitungspflichten mehr oder weniger gut ausgleichen. Wo es
für Beteiligte allerdings um sehr viel geht, wie im Strafverfahren, wäre ein
genereller Vertretungszwang,  wie etwa in
Italien, anzudenken.

3.     
Transparenz

Sowohl die innere als auch die äußere
Kommunikation
der Justiz sollte möglichst transparent ablaufen. Transparenz schafft generell Vertrauen, nicht nur zwischen Bevölkerung und
Staat, sondern auch zwischen der Verwaltungsspitze und den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der nachgeordneten Dienststellen. Möglichst viele Inhalte des
Justizlebens sollten via Internet und Intranet einsehbar und nachvollziehbar
gemacht werden. So bietet es sich etwa an, 
Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft generell (und
verpflichtend, nicht bloß fakultativ wie derzeit) im Internet zu
veröffentlichen; dasselbe gilt für alle Schritte in Bewerbungsverfahren,
insbesondere auch jene zur Aufnahme in den richterlichen Vorbereitungsdienst.

C. Öffnung und interdisziplinärer
Zugang

1. Vielfalt als Chance

Die Sinnhaftigkeit einer Diversity-Strategie wurde bereits erörtert. Buntheit und Vielfalt im Personal
sind für die Justiz genau so wichtig wie für die Polizei, die seit Jahren
Migrantinnen und Migranten gezielt für den Polizeidienst anwirbt. Die
Annäherung an das Ideal, dass sich möglichst alle Gruppen der Bevölkerung in
der Justiz wiederfinden, ist das beste Mittel, um Vertrauen und Akzeptanz der
gerichtlichen Entscheidungen sicherzustellen.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie
sie sich in der Fortbildung
für Richterschaft und Staatsanwaltschaften bewährt hat, wird früher
oder später in vielen Bereichen der Justizverwaltung
zum Standard werden. Für den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit ist anzudenken, ExpertInnen aus der Publizistik oder Medienpraxis
in größeren Dienststellen fix anzustellen.[20]
Derzeit passiert die Öffnung der Justiz zu interdisziplinärer Zusammenarbeit
oft dort, wo die Justiz mit ihren eigenen Mitteln an Grenzen und auf
öffentliche Kritik stößt – etwa als Reaktion auf Schwierigkeiten bei der
Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftskriminalität.

Eine stärkere strukturelle Einbindung
externer Personen in den Justizbetrieb verdient zumindest eine Diskussion. Sie
könnte der Justiz neue Impulse liefern und das gegenseitige Verständnis der
(Rechts)Berufe fördern. Als Mittel dazu ist der befristete Wechsel von
RechtsanwältInnen ins Richteramt denkbar; dies würde sich insbesondere für die
Senatsgerichtsbarkeit anbieten. Ähnliche Modelle kommen für die Justizverwaltung
in Frage, etwa die Öffnung der richterlichen Personalsenate für
externe Mitglieder aus Anwaltschaft oder auch für Organisationsexperten.

Qualitätserhöhungen
lassen sich auch in der Justizverwaltung vor allem durch
die Beiziehung externer ExpertInnen erzielen. Eine gewisse Form der
Betriebsblindheit stellt sich schnell ein, und externe Inputs ermöglichen es,
eingefahrene Abläufe zu hinterfragen, aufzubrechen und Korrekturen vorzunehmen.
Der Einsatz externer ExpertInnen bietet sich vor allem für die
Öffentlichkeitsarbeit
, bei den Justizombudsstellen und in Budget-, EDV- und Gebäudefragen an.

2.     
Ein neuer Umgang mit Politik und Medien

Das Verhältnis von Justizressort und
Richterschaft zur Politik
ist derzeit von Abgrenzung geprägt. Das ist angebracht, soweit es
um parteipolitische Einflussnahmen geht. Es ist verfehlt, soweit dadurch der
für eine gute Justizpolitik nötige Austausch zwischen Politik und Justiz unterbleibt.
Parlamentsabgeordnete können nur dann kompetent über justizpolitische Fragen
entscheiden, wenn ihnen gute Informationen zur Verfügung stehen, wenn sie also
auch von Justiz und Berufsvertretungen aus erster Hand und regelmäßig über die
Herausforderungen, Sorgen und Bedürfnisse der Gerichtsbarkeit informiert
werden. Die Richterschaft muss mit der Politik die Begegnung auf Augenhöhe
finden; weder Minderwertigkeitsgefühle noch Überheblichkeit sind angebracht.
Politische Arbeit, sei es in der Exekutive oder im Parlament, sollte anerkannt
werden. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse verdienen als wichtiges
politisches Aufklärungselement in der Demokratie Unterstützung und Respekt,
gerade von Seiten der Justiz. Dasselbe gilt für Parlamentarier, die über Jahre
hindurch Material sammeln und Missstände aufzeigen. Sie legen oft den
Grundstein für strafrechtliche Untersuchungen.

Eine neue Orientierung verdient auch das
Verhältnis von Justiz bzw. Richterschaft und Medien
. Wir Richterinnen und Richter berufen uns oft und deutlich auf
unsere Eigenschaft als Dritte Gewalt
im Staat. Nicht weniger bedeutend ist die Rolle der Medien als public watchdog
oder Vierte Gewalt im Staat. Medien sollten
nicht als Gefahr gesehen werden, nicht als Gegner, die dann und wann mangels
genauer juristischer Kenntnis nicht die Fachterminologie treffen. Sie sind ganz
grundsätzlich zunächst Verbündete im Rechtsstaat. Tatsächlich zeigt die
Geschichte der letzten Jahrzehnte, dass sehr häufig die Medien als öffentliches
Kontrollorgan einspringen, wenn die Strafjustiz aus welchen Gründen auch immer
ihrer Rolle nicht so nachkommt, wie man sich das wünschen mag. Nicht wenige für
die Zweite Republik wichtige Straferfahren kamen entweder durch investigativen
Journalismus oder durch den Druck der Medien in der Berichterstattung über
schleppende Ermittlungen in Gang.[21]
Umgekehrt waren Phasen eines schwächelnden Aufdeckungsjournalismus zu
beobachten, in denen die Justiz durch erfolgreiche Aufklärungsarbeit in
Erscheinung getreten ist. Beispielhaft zeigt die Korruptionsbekämpfung, dass
die Justiz einerseits die von den Medien aufgeworfenen Bälle aufnehmen kann,
und dass andererseits oft erst medialer Druck zu Ermittlungen führt.[22]
Medien und Strafjustiz funktionieren also oft wie kommunizierende Gefäße.
Justiz und Medien sind zwei Spieler im demokratischen Gefüge, die sich
gegenseitig ergänzen.

Das führt uns zur Öffentlichkeitsarbeit. Erscheinungen wie Litigation-PR erfordern, dass die Justiz  Medien offensiver mit Informationen versorgt, um Verzerrungen in der
öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung von Gerichtsbarkeit entgegenzuwirken.
Auf der anderen Seite gilt es, Grenzüberschreitungen wie die frühzeitige
Bekanntgabe von Hausdurchsuchungen an die Medien zu vermeiden.[23]

Öffentlichkeitsarbeit ist längst mehr als das Kommentieren und Erläutern anhängiger
Verfahren. Öffentlichkeitsarbeit bedeutet heute ein Hinausgehen der Gerichte in
die Zivilgesellschaft
. Die Justiz hat hier, genauso wie die Polizei, eine Informations-
und Präventionsaufgabe zu erfüllen. Kooperationen auf lokaler Ebene stellen
sicher, dass Schulklassen gute Möglichkeiten haben, Gerichtsverhandlungen zu
besuchen bzw Informationen aus erster Hand zu erhalten.[24] So
können junge Menschen aller Bildungsschichten Wissen über die für sie wichtigen
Straf- und Zivilgesetze und den Zugang zu ihren Rechten erhalten. Ein weiteres
Beispiel einer solchen neuen und wichtigen Form der Öffentlichkeitsarbeit ist
der Dialog, den das Oberlandesgericht Innsbruck mit den Gemeinden in Tirol und
Vorarlberg eingeleitet hat. Wenn solche Konzepte vom Ressort offensiv vertreten
werden, so geht damit natürlich die Forderung nach einer entsprechenden
Vorsorge im Bundesbudget Hand in Hand.

Last but not least bedeutet moderne
Öffentlichkeitsarbeit
die Nutzung der neuen Medien. Der Oberste Gerichtshof ist im Jahr 2013 hier mit seiner neuen
Website[25]
beispielgebend vorangegangen. Es ist heute selbstverständlich, sich im Internet
zu präsentieren. Dies bedeutet nicht zwingend eine eigene Website für jede
Dienststelle, doch sollte möglichst viel an Information zu jedem
Gerichtsstandort barrierefrei im Internet abrufbar sein.[26]
Wieder geht es um Bürgerservice, Transparenz
und Vertrauen. Schließlich sollte auch keine Scheu bestehen, die
neuesten Kommunikationsformen, wie etwa Twitter
, in einer der Justiz angemessenen Form zu nutzen. Und dazu bedarf
es wiederum neuer Strukturen: ein Social Media Management, wie es etwa die
Universität Wien eingerichtet hat, ist heute Standard.

D. Modernes Sekretariatssystem

Manipulative Tätigkeiten werden in den
letzten Jahren zunehmend auf die RichterInnen und StaatsanwältInnen übertragen.
RichterInnen prüfen die Honorarnoten von Dolmetschenden, sie sehen die
Kostenabrechnung von Drogentherapieeinrichtungen durch und prüfen die Addition
der einzelnen Posten. Jeden Monat verbringen RichterInnen in Summe Stunden mit
telefonischen Anfragen bei potenziellen 
SachwalterInnen, Dolmetschenden und Sachverständigen. Alle diese
Tätigkeiten sind inhaltlich klassische Sekretariatsaufgaben. Ihre Wahrnehmung
durch hochqualifizierte Rechtsprechungsorgane bedeutet einen unvernünftigen
Mitteleinsatz und hat in dem Ausmaß, den sie mittlerweile annehmen, demotivierende
Wirkung. Die Gerichtskanzleien arbeiten in den seltensten Fällen wie ein
Sekretariat; sie werden dafür auch nicht ausgebildet. In der Regel erledigen
sie die streng umrissenen Kanzleiaufgaben. Die Zukunft kann nur darin bestehen,
den RichterInnen und StaatsanwältInnen jeweils ein Sekretariat beizugeben. Die
Einheiten müssten sich als Teams verstehen, in denen RichterInnen bzw.
StaatsanwältInnen Aufgaben an ein Sekretariat delegieren können. Das verlangt
auch ein wesentlich breiteres und fordernderes Fortbildungsangebot für das
nicht akademische Justizpersonal. Die Motivation würde in einem solchen System
auf beiden Seiten steigen. Derzeit erfahren gerade auch die
KanzleimitarbeiterInnen zu wenig Wertschätzung.

E. Qualitätsicherung

Die Qualitätssicherung erfolgt in der Rechtsprechung traditionell durch die
Rechtsmittelinstanzen. Dennoch gibt es viele Fragen, die Rechtsmittelinstanzen
von ihrer Rollenaufgabe her nicht wahrnehmen können. Hier bedarf es eines
modernen Qualitätssicherungssystems, für das Universitäten oder
Gesundheitswesen erprobte Vorbilder liefern. Für die Justiz bestehen derzeit
neben dem Rechtsmittelsystem etwa die Berichte der Volksanwaltschaft
, die Fehler in der Justizverwaltung aufzeigen und die es ermöglichen, strukturelle Anpassungen
vorzunehmen. Ähnliches gilt für die Justizombudsstellen
. Dennoch verbleibt in diesem Bereich viel zu tun. Das vom
Herausgeber dieses Bandes ins Leben gerufene Modell einer internen
Fehlermeldestelle
wäre eine Evaluierung und gegebenenfalls bundesweite Umsetzung
wert. Dort, wo Verfahren aus dem Ruder gelaufen sind oder wo sich interne
und/oder externe Kritik fokussiert, wie etwa bei den Drogenprozessen der
„Operation Spring
“ Ende der 1990er-Jahre[27] oder
zuletzt im Tierschützerprozess
, könnten Analysen dieser Verfahren künftige Fehler vermeiden
helfen.[28] Es
geht bei diesen Fehleranalysen nicht um ein Festmachen von Schuld, sondern um
das Lernen aus Fehlern und strukturelle Anpassungen. Gleichzeitig ermöglichen
solche organisatorischen Prozesse das Entstehen einer behördlichen Entschuldigungs-
und Entschädigungskultur. Die oben genannten Verfahren haben Existenzen
zerstört und bedürfen der Aufarbeitung.

Neuer Messinstrumente wird es in Zukunft
zur Beurteilung der Verfahrensqualität
bedürfen. Österreich liegt bei der Beurteilung der Verfahrensdauer
an der europäischen Spitze. Sowohl Zivil- als auch Strafverfahren dauern im
europäischen Vergleich nicht lange. Die Dauer eines Verfahrens ist zweifellos
für die Bürgerinnen und Bürger ein zentrales Kriterium. Zumindest gleich
wichtig sind für die Verfahrensbeteiligten jedoch andere Kriterien, etwa die
Möglichkeit, angehört zu werden, in Ruhe Vorbringen zu erstatten oder
respektvoll behandelt zu werden. Evaluierungen in Form von Befragungen von
Parteien, ZeugInnen und AnwältInnen könnten wichtige Aufschlüsse zu den
sozialen und interaktiven Kompetenzen der gerichtlichen Organe liefern. Auch
hier lohnt sich wieder ein Blick auf den Bildungsbereich. In vielen Schulen
werden die SchülerInnen jedes Jahr mit standardisierten Fragebögen
zu ihren Lehrenden befragt. Letztlich gewinnen bei solchen Prozessen alle
Beteiligten.

III. Schlusswort

Österreich verfügt über eines der
leistungsfähigsten Rechtsprechungssysteme in Europa. Alle Reformgedanken gehen daher
von einem hohen Niveau aus. Dieses Niveau zu halten und zu verbessern, wird
größerer Anstrengungen und struktureller Änderungen bedürfen.

Für die Zukunft benötigt die Justiz vor
allem mehr an Steuerung. Voraussetzung dafür ist ein die Verfassung weiter
entwickelndes ausformuliertes Unternehmensziel
, das wohl vor allem im Schutz der Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger durch die Gewährung eines fairen
Verfahrens für alle bestehen muss. Alle Bürgerinnen und Bürgern sollen einen
gleichen Zugang zum Recht
finden. Das erfordert die Beseitigung finanzieller Hürden, aber
auch eine einfache Sprache und eine hohe Verständlichkeit
in schriftlichen Erledigungen, bei Informationsmaterial und im
Verhandlungssaal.

Ein wichtiger Baustein am Weg dazu wäre
eine moderne Justizakademie, die e
in neues Personalauswahlverfahren zentral organisiert; transparent
ausgestaltet und einem Diversity
-Konzept verpflichtet. Neben der schon bisher sehr soliden
fachlich-juristischen Ausbildung müsste die Entwicklung und Förderung der
sozialen Kompetenzen des Justizpersonals im Mittelpunkt stehen. Ein klar
definierter Schwerpunkt müsste der Verständlichkeit
und der einfachen Sprache gewidmet sein.

Für RichterInnen und StaatsanwältInnen
sollte eine Verpflichtung zur Fortbildung
eingeführt und überprüft werden. Die Verfahrensstandards ließen
sich durch eine Verteidigerpflicht in Strafverfahren, durch eine generelle
Verpflichtung zur Simultandolmetschung
und Videoprotokollierung in Strafverfahren erhöhen.

Das bisherige Qualitätssicherungssystem von Rechtsmittelinstanzen, Justizombudsstellen und Volksanwaltschaft könnte eine Ergänzung in Befragungen von AnwältInnen, ZeugInnen und
Parteien finden, um vor allem die sozialen Fähigkeiten der RichterInnen,
StaatsanwältInnen und sonstigen JustizmitarbeiterInnen zu erfassen. Die
derzeitige Fokussierung auf die Prüfung der Verfahrensdauer erscheint zu eng.
Als Maßnahme der inneren Organisation drängt sicher der Umbau der
Gerichtskanzleien in moderne Sekretariate für RichterInnen und
StaatsanwältInnen auf. Das erfolgreiche Modell der Förderung von
Fachkompetenzen im Wirtschaftsstrafrecht könnte als Modell für ähnlich
gestaltete Module für andere Sparten der Rechtsprechung dienen – etwa zum
Erwerb von Kenntnissen für den Umgang mit älteren Menschen, mit Kindern oder
mit psychisch Kranken.

Für all diese Bemühungen um
Weiterentwicklung und Neuorientierung bietet sich die Zusammenarbeit mit
Anwaltschaft und Notariat an. Ein gutes Rechtssystem wird nicht nur durch
unabhängige, leistungsstarke Gerichte sondern auch durch eine gute Anwaltschaft
und eine qualitativ hochwertige Strafverteidigung konstituiert. Interessen von
Richterschaft, Staatsanwaltschaft und Anwaltschaft werden in vielen Fällen
gleichlaufend sein.

Gedanken an die Zukunft sind unvollständig
ohne Bezugnahme auf das Europäische Projekt. Der Aufbau des gemeinsamen
Europäischen Rechtsraums ist das spannendste rechtspolitische Unterfangen der Gegenwart;
es hat die Arbeitswirklichkeit der österreichischen RichterInnen und
StaatsanwältInnen verändert und bereichert. Der Justiz ist für die nächsten
Jahre noch mehr an Internationalisierung und Europäisierung
zu wünschen. Das Europarecht bestimmt unser Rechtssystem bereits in einem solchen Ausmaß, dass
alle BewerberInnen für das Richteramt zumindest zwei Wochen bei den
Einrichtungen in Brüssel, Luxemburg, Den Haag oder Strassburg verbringen
sollten, um den Gesetzgebungsprozess und die Gerichtsbarkeit auf europäischer
Ebene kennenzulernen. Die Entsendung einer größeren Zahl an ExpertInnen in die
europäischen Einrichtungen, insbesondere in die Europäische Kommission, böte
Österreich die Chance, europäische Entwicklungen stärker mitzugestalten.

Wenn der Justiz die Umsetzung dieser
Reformen gelingen soll, dann wird sie dafür starke MinisterInnen mit Vision und
Umsetzungswillen benötigen, genauso wie motiviertes Justizpersonal, das
Fachkompetenz und Leidenschaft mitbringt.
Das
Ziel einer menschengerechten, von neuem Selbstverständnis getragenen Justiz
lohnt große Anstrengungen und einen längeren Weg. Einer der prägenden
Theaterpädagogen des 20. Jahrhunderts, Augusto Boal, der im Sinne der hier
unterstützten Öffnung der Justiz auf Einladung der damaligen Justizministerin
Maria Berger am 9. April 2008 im Wiener Justizpalast vor 400 ZuhörerInnen über
Justiz und Politik sprach, hat uns diese Aufforderung zum Handeln hinterlassen:
Es genügt nicht zu wissen, dass die
Welt verändert werden soll; wichtig ist, sie tatsächlich zu verändern.


[1] Dieser Beitrag bedeutet den Versuch des Autors, aus den Erfahrungen
der eigenen langjährigen Tätigkeit – in Rechtsprechung, Justizverwaltung,
Legistik und Ministerbüro – und aus Expertentätigkeiten bei Europarat und
Europäischer Union die Entwicklungen der letzten Zeit zu reflektieren und
Vorschläge für die Justiz zu skizzieren.
[2] 4. Evaluierungsbericht der Europäischen Justizsysteme
durch den Europarat 2012:
http://www.coe.int/t/dghl/cooperation/cepej/evaluation/2012/Rapport_en.pdf
(Stand 23.5.2013). Vgl auch das neue Scoreboard für die Justiz der
EU-Kommission: http://ec.europa.eu/justice/effective-justice/files/com_2013_160_en.pdf
(Stand: 23.5.2013).
[3] Erinnert sei nur an den Lucona-Skandal
und die damit verbundenen Strafverfahren gegen die früheren Minister Gratz und
Blecha.
[4] Die bisherige Ablehnung der Aufnahme blinder Menschen in den
Richterdienst erscheint weder rechtlich noch ethisch vertretbar: Scheiber, Wer
ist hier blind? falter 21/2007
[5] Blinde Richterin macht Ortsaugenscheine, Salzburger Nachrichten vom
27.4.2013 (http://search.salzburg.com/news/artikel.html?id=30086956;
Stand: 23.5.2013)
[7] So ist ein guter Teil der in der österreichischen Justiz heute
vorhandenen Qualität und Innovation dem herausragenden Wirken der Sektionschefs
Otto Oberhammer
und Constanze Kren sowie des Innsbrucker Oberlandesgerichtspräsidenten Walter
Pilgermair
geschuldet; zentrale Reformanschübe der vergangenen Jahrzehnte sind
mit ihren Namen untrennbar verbunden.
[8] Ausgeklammert bleibt hier aus Platzgründen der Strafvollzug, in dem
der vielleicht größte Reformbedarf des Justizressorts besteht. Die
Justizpolitik findet im Strafvollzug jedenfalls ein weites Handlungsfeld und es
wird großer Anstrengungen bedürfen, den Strafvollzug auf ein den übrigen
Bereichen der Justiz adäquates Qualitätsniveau zu heben.
[9] Die österreichische Polizei etwa hat sich schon vor vielen Jahren
als größte Menschenrechtsorganisation des Landes definiert und an der Umsetzung
dieses Gedankens im ambitionierten Projekt Polizei.Macht.Menschen.Rechte
unter Beiziehung externer Expertinnen und Experten gearbeitet. Auch der Polizei
gelingt vieles nicht: aber das Ziel ist einmal klar definiert. (http://www.polizei.gv.at/noe/presse/eu/eu.aspx?nwid=434D772B7055764B796F673D&ctrl=AB13CD03FG60 und
[11] S.
vorangehende Fußnote.
 [12] Dass juristische Texte und Gesetzestexte einfach formuliert werden
können, haben bereits die Verfasser des ABGB vor mehr als 200 Jahren unter
Beweis gestellt. Man denke nur an § 16 ABGB, wo es heißt: „Jeder Mensch hat
natürliche, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“ oder an
alltagssprachlich formulierte Bestimmungen im Schadenersatzrecht des ABGB.
[13] Leitlinien des Europarats zu einer kindgerechten Justiz vom 17.11.2010: http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/childjustice/Source/GuidelinesChildFriendlyJustice_DE.pdf
(Stand: 23.5.2013); Empfehlung der Kommission vom 20. Februar 2013:
Investitionen in Kinder, ABl 2013 L 59/5 (http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:059:0005:0016:DE:PDF 
(Stand: 23.5.2013).
[14] Eine Übersicht über die Europäischen Justizausbildungsstätten
findet sich unter http://www.ejtn.eu/About/EJTN-Affiliates/
(Stand: 23.5.2013).
[15] Zu enges Denken bei Juristen, DIE PRESSE vom 11.1.2010; online: http://diepresse.com/home/recht/rechtallgemein/532045/Zu-enges-Denken-bei-Juristen
(Stand 12.5.2013).
[16] Der aktuell hohe Fortbildungsstandard ist im
Wesentlichen ein Verdienst der früheren Sektionschefin im Justizministerium
Constanze Kren
und des Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck Walter
Pilgermair. Beide haben die Fortbildung für Interdisziplinarität geöffnet und
in den
letzten zwanzig Jahren laufend neue Akzente gesetzt. Erinnert sei nur an den
Justizmanagementlehrgang
, den Walter Pilgermair
gemeinsam mit den Professoren für 
Gruppendynamik und Organisationsentwicklung (und Mitautoren in diesem
Band) Ewald Krainz
und Karin Lackner vor rund sieben Jahren entwickelt und umgesetzt hat. Die Qualität
dieses Lehrgangs hält wohl international jedem Vergleich stand.
 [17] Moderne
Regelungsbereiche wie das Opferschutzrecht oder das Recht der Verbandsverantwortlichkeit
stoßen u.a. deshalb in der Praxis auf Umsetzungsschwierigkeiten, weil keine
allgemeine Fortbildungspflicht besteht.
 [18] http://www.enm-justice.fr/ (Stand:
23.5.2013).
[19] Über ein inhaltlich und didaktisch beachtliches Konzept der
RichterInnenausbildung verfügt etwa Rumäniens Institutul National al
Magistraturii (INM), http://www.inm-lex.ro/index.php
(Stand 12.5.2013).
[20] Der
Österreichische Rechtsanwaltskammertag hat vor kurzem einen Medienfachmann
angestellt, was sich in der Öffentlichkeitsarbeit des Kammertags sichtbar
niederschlägt.
[21] Der Bogen spannt sich vom AKH-Skandal der
1970er-Jahre über den Fall Lucona bis zum so genannten Birnbacher-Verfahren.
[22] Im Zusammenhang mit der Korruptionsbekämpfung verdienen die Leistungen einer neuen, kompetenten Generation von
Aufdeckungsjournalisten, für die Namen wie Florian Klenk
, Ulla Kramar-Schmid, Kurt Kuch und Michael Nikbakhsh stehen, Erwähnung.
[23] Unpassend und dem Ansehen der Gerichtsbarkeit abträglich ist es auch, wenn vor allem psychiatrische Gerichtssachverständige während
laufender Strafverfahren ihre Einschätzung der Angeklagten in den Medien
ausbreiten.
[24] In einem breit
angelegten Projekt des Landesgerichts Linz gehen RichterInnen an Schulen
und erklären dort, wie Gerichtsbarkeit funktioniert: http://www.volksblatt.at/artikel/joint_mobbing_co_richter_erklaeren_schuelern_folgen_27042013
(Stand: 27.5.2013)..
[25] http://ogh.gv.at/de (Stand: 23.5.2013).
[26] Ein gelungenes
Vorbild eines Internetauftritts gibt die neue Website
www.RECHTleicht.at (Stand: 28.5.2013) ab, die vom AbgzNR
Franz-Joseph Huainigg initiiert wurde.
[27] Vgl Kravagna, Schwarze Dealer – weiße
Behörden: Eine Untersuchung der Strafverfolgung afrikanischer Drogendealer in
Wien, Dissertation, Universität Wien, 2005; zusammengefasst in:
Kravagna, Schwarze Stereotype und weiße BehördenAfrikaner, Drogenkriminalität und Strafverfolgung durch Polizei und Justiz, SWS-Rundschau
2005, 266-288
(http://www.sws-rundschau.at/archiv/SWS_2005_2_kravagna.pdf; Stand: 23.5.2013).
[28] Ähnliches gilt für eine der Erbsünden der Nachkriegsjustiz, die
Zusammenarbeit mit dem NS-Verbrecher und Gerichtspsychiater Heinrich Gross. Vgl
dazu etwa Vogt, Die Wahrheit hinter
16 Lügen, DIE PRESSE vom 18.5.2013 (http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/1403710/Die-Wahrheit-hinter-16-Luegen;
Stand: 23.5.2013).

Hinter dem Papier

Text für das SPECTRUM der Tageszeitung DIE PRESSE
erschienen am 28.12.2013

Ich arbeite seit 22 Jahren für die
österreichische Justiz. Seit 18 Jahren bin ich Richter. Wenn ich gesund bleibe,
befinde ich mich nun in der Mitte meines Erwerbslebens. Die Zahl der bisher von
mir geführten Verfahren hochgerechnet, werden bei meiner Pensionierung rund
15.000 Angeklagte auf mich als Richter getroffen sein. Die Mitte des
Berufslebens ist eine gute Gelegenheit die eigene Tätigkeit zu reflektieren. Und
der Jahreswechsel steht ja auch vor der Tür.
Ich konnte mir als junger Mensch
viele Berufe vorstellen, ohne mir einen davon fix in den Kopf gesetzt zu haben.
Ich habe Jus studiert, um die Berufsentscheidung aufzuschieben. „Mit Jus hast du
alle Möglichkeiten“, sagen viele. Vor allem die Juristen.
Das Studium war langweilig. Es
bestand überwiegend im Auswendiglernen. Die praktische Anwendung des
Vorgetragenen konnte ich mir nicht vorstellen. Das konnten wohl auch viele
Universitätslehrer nicht, denn – wie der Rückblick zeigt – sie erörterten allzu
oft Irrelevantes ausführlich und vergaßen auf das im Rechtsleben Relevante. Zwar
erfuhr man im ersten Semester, die Rechtswissenschaft gehöre zu den
Sozialwissenschaften. Im weiteren Studium spielten Mensch und Gesellschaft aber
nur eine kleine Rolle. 20 Jahre in der Rechtsprechung machen klar, dass die
Rechtswissenschaft selbstverständlich zu den Sozialwissenschaften zählt. Bei der
Gestaltung und Anwendung des Rechts geht es laufend um Phänomene des
gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Ich habe den Richterberuf nicht
angestrebt. Er ist mir zugefallen. Ich bin dafür dankbar. Ich habe nach dem
Studium das Gerichtsjahr begonnen, um die endgültige Berufswahl weiter
hinauszuzögern. Die Arbeit bei Gericht hat mich sofort fasziniert: der Einblick
in menschliche Schicksale. Die Möglichkeit, ausgestattet mit der richterlichen
Unabhängigkeit, gestaltend einzugreifen. Die österreichischen Gesetze räumen den
Richtern großen Spielraum ein. Das Gericht kann einen Ladendieb zu mehreren
Jahren Gefängnis verurteilen oder zu einer Psychotherapie während einjähriger
Probezeit verhalten. Eine breite Palette an Sanktionen steht im Strafrecht zur
Verfügung. Der Gesetzgeber war so vorausschauend, maßgeschneiderte Lösungen für
den Einzelfall zuzulassen.
An meinem Verhältnis zum Staat hat
sich seit meinem Eintritt in die Justiz wenig geändert. Als Arbeitgeber hat mich
der Staat gut behandelt. Er hat mich solide ausgebildet. Er stellt mir eine
hervorragende Infrastruktur zur Verfügung. Er erlaubt mir internationale
Einsätze und den Wechsel in verschiedene Arbeitsfelder. Dennoch bleibt jeder
vernünftige Mensch gegenüber dem Staat misstrauisch. Staatliche Einrichtungen
tendieren dazu, die Bürger zu kontrollieren. Sicherheitsapparate streben nach
immer mehr Eingriffsmöglichkeiten. Traditionell lehnt die Bürokratie Transparenz
ab. Manchmal verletzt der Staat seine eigenen Regeln. Und in der Folge neigt er
dazu, diese Verstöße zu vertuschen. So wie jeder Betrüger und Dieb auch seine
Tat verbergen will. Konkret: Es gibt im Rechtsstaat nichts Schlimmeres, als wenn
ein Mensch durch Organe des Staates zu Tode kommt. Etwa durch Schüsse der
Polizei, wie das in Österreich schon mehrmals geschehen ist. Und wenn dann auch
noch die Aufklärung zögerlich oder nicht erfolgt.
Ich habe das Glück, in meinem
engsten beruflichen Umfeld seit Jahren mit durchwegs hoch motivierten Menschen
zusammenzuarbeiten. Der Einsatz von Familienrichtern, die mit viel Geduld lange
Gespräche mit Eltern führen, um eine Einigung im Sinn der Kinder herbeizuführen,
nötigt mir Respekt ab. So wie die professionelle Abwicklung von Anlegerprozessen
durch Zivilrichter, die im Verhandlungssaal zwei Streitparteien in Stärke einer
Fußballmannschaft gegenübersitzen, während sie den Prozessstoff allein
bewältigen müssen. Und umgekehrt schmerzt es alle, Staatsangestellte genauso wie
Bürger, wenn Wirtschaftsstrafverfahren über Jahre zu keinem Ende kommen, wenn
Richter Formalismus vor Inhalt stellen oder schlicht unfreundlich auftreten. Es
ist unerträglich, wenn Polizeibeamte einen Asylwerber foltern oder einem
jugendlichen Einbrecher in den Rücken schießen, ohne dass solche Vorfälle
schnelle und ernsthafte Konsequenzen haben. Und die heutige Republik muss sich
eingestehen, dass die Nachkriegsjustiz viele mutmaßliche Kriegsverbrecher in die
Demenz statt in den Gerichtssaal begleitet hat. Man wünscht sich, dass
staatliche Behörden und Organe lernen, sich bei Opfern ihrer Fehler zu
entschuldigen.
Meine lang hinausgeschobene
Berufsentscheidung habe ich nie bereut. Die Mitwirkung an einer Verbesserung der
gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen bildet einen starken Antrieb. Die
staatlichen Strukturen lassen sich von innen und außen modernisieren. Mich
begeistert die Mitwirkung am Entstehen des europäischen Rechtsraums. Es war
spannend, eine Korruptionsstaatsanwaltschaft und Justizombudsstellen zu
entwickeln. Die eigentliche richterliche Tätigkeit wiederum ist befriedigend,
weil sie gestaltend ist. Während die Arbeit vieler Beamter mangels politischen
Umsetzungswillens in der Schublade landet, sieht der Richter täglich die Früchte
seiner Arbeit. Jeder gelungene Vergleich, jedes erfolgreiche
Mediationsverfahren, jede gut angenommene, weil gut begründete Entscheidung
motiviert. In den von mir geführten Verfahren habe ich jedes Jahr mit rund 1000
Menschen zu tun. Diesen Personen in für sie schwierigen Lebenssituationen
menschlich zu begegnen, sie zu konstruktiven Lösungen zu führen ist
Herausforderung und Aufgabe.
Unser Justizsystem verdient ein im
internationalen Vergleich gutes Zeugnis. Die offenen Wunden dürfen über diese
positive Bilanz nicht vergessen werden. Die Frage der Klassenjustiz bleibt
aktuell. Sie lässt sich nicht vom Tisch wischen mit dem Argument, dass man mit
Geld in unserem Gesellschaftssystem immer besser dran sei: Man bekommt die
bessere Ausbildung, die besseren Ärzte und die besseren Rechtsanwälte. Es gibt
eine Empathie- und Mitleidlosigkeit, mit der unsere Strafrechtspraxis Schwachen
begegnet, der mit aller Kraft entgegenzuwirken ist. Woher kommt die oft
verstörende Bösartigkeit staatlichen Handelns in der Anwendung von Gesetzen?
Schlägt man da nicht auf die ein, die sich nicht wehren können, weil man gegen
andere nicht ankommt? Prügelt man die kleinen Gauner, weil man die großen nicht
kriegt? Die kleinen Gauner melden keine Berufungen an. Sie drohen nicht. Sie
kommen nicht mit Rechtsanwälten, die unzählige Anträge stellen, sodass man das
Wochenende mit der Familie verliert. Die kleinen Gauner schicken einem keine
Privatdetektive nach und machen einem generell selten das Leben schwer.
Setzt man sich in den
Verhandlungssaal eines Wiener Bezirksgerichts und hört sich einen halben Tag
lang Strafverhandlungen an, so wird man Angeklagte sehen, die zu einem guten
Teil psychisch krank oder sozial verwahrlost sind. Die Delikte liegen zum
Großteil im Bagatellbereich. Es geht um den Diebstahl von Parfumtestern aus
Drogeriemärkten, um die Beschädigung von Glücksspielautomaten, nachdem man in
ein paar Minuten einige Hundert Euro verloren hat, und Ähnliches. Wirft man
einen näheren Blick auf die Biografien, so wiederholen sich die Bilder: früher
Verlust eines Elternteils, Tod eines Kindes oder Partners, Gewalterfahrungen.
Das ist kein Plädoyer für die Straflosigkeit kleiner Vermögensdelikte, aber sehr
wohl für angemessene Reaktionen darauf.
Allein das Wort „Strafverfolgung“
ist für viele der betroffenen Menschen unpassend. Das amerikanische
Wissenschaftsprojekt „We are all criminals“ dokumentiert, dass die laut
Strafregister ihr Leben lang unbescholtenen Bürger jede Menge Straftaten
begangen haben. Unsere Praxis, sehr viel an Energie in die Aufklärung und
Verfolgung kleinster Regelverstöße zu stecken, erscheint angesichts dieser
Realität doppelt unsinnig. Unsere Gesellschaft, unser Staatssystem, unser
Wohlstand sind von Vorgängen wie jenen rund um die Hypo Alpe Adria real bedroht;
von einer Schwankung der Ladendiebstahlsstatistik um ein oder zwei Prozent
bestimmt nicht.
Mehrere Jahre Haft für einen
Wirtschaftskriminellen sind unangemessen, heißt es oft. Es sei doch niemand
verletzt worden, wo bleibe denn die Verhältnismäßigkeit zu
Körperverletzungsdelikten. Ich antworte dann zumeist mit Geschichten aus meinem
Gerichtsalltag, denn das erste Ziel muss es sein, vergleichbare Delikte gleich
zu behandeln.
Zwei Fälle haben mich in den
vergangenen Monaten besonders  beschäftigt. Da ist zunächst die junge Frau, die
in Tschechien aufwächst und nach der Matura drogensüchtig wird, wir nennen sie
Lena. Lena konsumiert jahrelang täglich ein Gramm Kokain oder Heroin. Trotz
einer medikamentösen Entzugsbehandlung gibt es immer wieder Rückfälle. Die
Drogensucht finanziert Lena durch kleine Diebstähle. Dafür wird sie in
Tschechien 19-mal vorbestraft. Meistens werden Geldstrafen oder bedingte kürzere
Freiheitsstrafen verhängt. 2008 fährt die damals 27-Jährige Lena mit einer
Freundin nach Österreich und begeht weitere Ladendiebstähle. Wieder sollen mit
dem Gewinn Drogen für den Eigenkonsum angeschafft werden. Als die beiden
Freundinnen erwischt werden, beträgt der Schaden an gestohlenen Kosmetika
insgesamt 2900 Euro. Die Strafe dafür: drei Jahre und neun Monate Gefängnis.
Lena hat den Eindruck, dass der
Pflichtverteidigerin der Fall egal ist. Die Verteidigerin verzichtet auf eine
Berufung gegen das enorme Strafausmaß. Lena verbringt die folgenden Jahre in
österreichischen Haftanstalten. Sie, offenkundig hoch begabt, spricht nach
Selbststudium heute ein nahezu perfektes Deutsch. Auch in der Haft pflegt sie
sich, liest, versucht den Anschluss an das Leben draußen nicht zu verlieren.
Ihre Familie lebt  bei Prag. Einmal im Monat kommt ein Angehöriger nach Wien, um
Lena zu besuchen. Lena ist sozial angepasst und selbstreflexiv. Durch die Haft
ist sie auch gebrochen. Das Urteil spricht davon, dass in diesem Fall nur eine 
drakonische Strafe  helfe. Unter dem Strich: knapp vier Jahre Gefängnis für
einen Schadensbetrag von weniger als 3000 Euro für eine junge Frau, die so ihre
Drogenkrankheit finanziert.
Oder eine Verhandlungssituation kurz
vor Weihnachten. Zwei Angeklagte kommen in den Gerichtssaal: ein junger Bursch,
nennen wir ihn Marko, und seine ebenfalls angeklagte Tante. Marko ist 16 Jahre
alt, er besucht ein Gymnasium in Wien. Der Bericht der Wiener
Jugendgerichtshilfe spricht davon, dass Marko mutmaßlich mehrere Jahre lang
sexuell missbraucht wurde. Das Gericht möge das Thema nicht ansprechen, sondern
eher eine Weisung zur Psychotherapie erteilen.
Im Bericht der Jugendgerichtshilfe
heißt es: „Marko ist ein sensibler, reflektierter junger Mann. Die Kontrolle
verliert er, wenn überhaupt, nur dann, wenn seine Familie angegriffen wird.“ Die
Mutter ist 40 Jahre alt. Sie hat Krebs mit einer schlechten Prognose. Die
nächsten sechs Monate wird sie überwiegend stationär im Krankenhaus verbringen.
Die gesamte Familie ist in Psychotherapie, um die Krankheit durchzustehen.
„Marko hat fast lauter Einser, trotzdem“, sagt die Tante im Gerichtssaal. Marko
weint, als sie es sagt.
Marko und seine Tante sind wegen
Körperverletzung angeklagt: Markos kleiner Bruder hat im Park gespielt, die
Kinder sind laut. Ein 18-jähriges Mädchen, das sich mit zwei Freundinnen im Park
aufhält, ohrfeigt den Kleinen. Der Kleine blutet an der Lippe: Er ist Bluter,
Marko und seine Tante geraten in Zorn und Panik, sie laufen in den Park. Es
kommt zu einer Rangelei. Die Mädchen rufen immer wieder: „Zigeuner, Zigeuner“,
denn Marko und seine Tante haben eine dunkle Hautfarbe. „Das war nicht in
Ordnung“, sagt die Tante und: „Aber ich bin eh stolz darauf.“ Schließlich
rangeln rund 15 Personen im Park miteinander. Das Mädchen, das die erste
Ohrfeige ausgeteilt hat, hat danach Kratzspuren am Hals und ein paar Haarbüschel
weniger.
Marko und seiner Tante bringt das
eine Anklage ein. Im Gerichtssaal kichern und lachen die Mädchen pubertär,
während Marko noch immer weint. Eine harmlose Parkstreitigkeit, wie sie sich in
Wien jeden Tag zigmal abspielt; wie sie von kompetenten Polizeibeamten in den
meisten Fällen vor Ort beruhigt und ohne Anzeige geschlichtet wird oder von
sensiblen Anklägern mit alternativen Maßnahmen geregelt wird, ohne sie vor
Gericht zu bringen. Wer von uns weiß, wie sich die wochenlange Ungewissheit
einer bevorstehenden Gerichtsverhandlung auf einen sensiblen 16-Jährigen
auswirkt, der für die Familie sorgt und mit der lebensbedrohlichen Erkrankung
seiner noch jungen Mutter umgehen muss?
Vor Gericht selbst lässt sich die
Sache nach einer Entschuldigung und einer Schmerzensgeldzahlung von 50 Euro
schnell mit einer Verfahrenseinstellung regeln. Die Mädchen, auch erschrocken,
wollen am Ende das Geld gar nicht recht annehmen.
Der oft sorglose Umgang mit Menschen
und Schicksalen wird unseren Strafgesetzen nicht gerecht. Sie sind von
aufgeklärtem Geist getragen und haben den Menschen im Fokus, egal ob es um Täter
oder Opfer geht. Man braucht bloß auf die Strafzumessungsgründe zu sehen: das
Strafgesetzbuch nennt viel mehr Milderungs- als Erschwerungsgründe. Die
Herausforderung liegt also in der sorgsamen Anwendung der Gesetze. Im Verzicht
auf Floskeln und Formalismen, die die Menschen hinter dem Papier vergessen.

Wenn wir in die Zukunft blicken,
dann ist das die große Herausforderung für die Justiz: eine durchgehende
Modernisierung, das heißt Humanisierung von Kommunikation und Abläufen. Wer sich
darauf einlässt, Menschen zuzuhören, allen die gleiche Zeit und Chance zu
schenken, sich kurz in Schicksale hineinzudenken und möglichst viel davon in
seine Entscheidungen einfließen zu lassen, der wird in den Rechtsberufen
Erfüllung finden. Und zugleich einen kleinen Beitrag zu einem besseren
Zusammenleben leisten. Und feststellen, dass Lebenswege faszinieren: in ihrer
Buntheit, Skurrilität, aber auch in ihrer Traurigkeit.

Justizpolitik in der kommenden Legislaturperiode: drei Vorschläge

Budget(loch), Lehrerdienstrecht und Luxuspensionen bestimmen die öffentliche Debatte während der Koalitionsverhandlungen. Justizpolitik ist seit der Wahl kein Thema. Welche Aufgaben kommen auf die nächste Justizministerin/den nächsten Justizminister zu? Drei Schwerpunkte bieten sich für die kommende Legislaturperiode an: 1) ein Maßnahmenpaket zur effizienten Abschöpfung kriminellen Vermögens, 2) die Schaffung einer Justizakademie und 3) eine Neuordnung der Jugendgerichtsbarkeit.
ad 1) Abschöpfung kriminellen Vermögens: die Korruptionsbekämpfung hat in Österreich in den letzten Jahren an Kraft gewonnen. Die von Justizministerin Maria Berger erdachte Spezialbehörde (Korruptionsstaatsanwaltschaft, nunmehr WKStA) hat eine Vielzahl von Verfahren angestoßen und anklagereif gemacht. Was in der Praxis noch nicht gelingt: die breite Abschöpfung kriminell erworbenen Vermögens. Hier könnte man auf bewährte Modelle wie jenes Italiens zurückgreifen, das hier schon mehrfach vorgestellt wurde: 
Dh für Österreich: Adaptierung der Gesetzeslage, intensive Schulung der StaatsanwältInnen gemeinsam mit italienischen ExpertInnen, Umsetzung der zentralen italienischen Instrumente der Beweislastumkehr und des nationalen Registers verdächtigen Vermögens. Zu erwartender positiver Nebeneffekt: potenzielle Einnahmen für den Staat in zumindest dreistelligem Millionen-Euro-Bereich jährlich.
ad 2) Sicherheits- bzw. Polizeiakademien kennt man schon lange, mittlerweile sind auch Justizakademien in Europa Standard. Sie ermöglichen eine professionelle Personalauswahl sowie ein hochwertiges Aus- und Weiterbildungssystem für RichterInnen und StaatsanwältInnen, mit dem Schwerpunkt auf der Schärfung sozialer und kommunikativer Fähigkeiten, nach modernen didaktischen Standards, in interdisziplinärem Lehrambiente. Österreich setzt bisher auf ein dezentrales Ausbildungssystem; mittel- bis langfristig könnte sich der Verzicht auf eine zentrale Akademie als Achillesferse erweisen. Viel spricht dafür, eine Justizakademie eher heute als morgen einzurichten. Vorbildcharakter könnten vor allem die französische Richterakademie ENM und das rumänische Institut INM haben.
ad 3) Gewaltexzesse im Jugendstrafvollzug haben die Jugendgerichtsbarkeit im Frühjahr 2013 in die öffentliche Diskussion gebracht. Das Reizwort „Jugendgerichtshof“ hat eine sachliche Debatte über die Jugendgerichtsbarkeit in den letzten Jahren unmöglich gemacht. Höchste Zeit, die Diskussion im Interesse der Jugendlichen wieder aufzunehmen. Zu nötigen Maßnahmen sind sich ExpertInnen einig: es geht um die Schaffung von Justiz-Kompetenzzentren für Jugendliche in den größeren Ballungsräumen, verbunden mit einer Weiterentwicklung des Jugendstrafrechts in Richtung eines flexiblen Heranwachsendenstrafrechts. Die in Wien sehr bewährte Jugendgerichtshilfe sollte bundesweit Standard werden.  

Scuola Superiore della Magistratura – Europas jüngste Justizakademie

Die jüngste Richterakademie Europas steht in Scandicci bei Florenz. 2012 eröffnete Staatspräsident Giorgio Napoletano die neue Ausbildungsstätte, in der Italien künftig seine RichterInnen und StaatsanwältInnen ausbildet. Die Scuola Superiore della Magistratura in der historischen Villa di Castel Pulci auf den Hügeln über Florenz soll auch ein Ort der Begegnung werden: so diskutierten TeilnehmerInnen aus vielen Mitgliedstaaten der EU im Oktober 2013 die künftige Ausbildung von RichterInnen und StaatsanwältInnen. Die Länder Europas arbeiten auf diesem Gebiet immer enger zusammen. Grundtenor des EJTN-Seminars war, dass die richterliche Grundausbildung künftig einen Schwerpunkt auf nicht-juristische Inhalte legen muss. Es geht etwa um die Schärfung kommunikativer und sozialer Kompetenzen, das Management
von Großverfahren, den Umgang mit Medien, um berufsethische Fragen und um Fremdsprachkenntnisse.

Scuola Superiore della Magistratura

Staatspräsident Napolitano (2.v.l.) und der Bürgermeister von Florenz,
Matteo Renzi (Mitte), bei der Eröffnung der Richterakademie 2012