Zum Jahreswechsel

Es gibt das Bild der Geburtslotterie: Wo wir geboren werden, suchen wir uns nicht aus, und man kann es gut oder weniger gut treffen. Es gibt Orte, an denen ist für die meisten Menschen ein hartes Leben vorgezeichnet. Und es gibt Orte, die zumindest eine recht gute Chance für ein glückliches Leben bieten.

Oft sind es kurze Begegnungen, die uns daran erinnern, wie ungleich Chancen und Glück verteilt sind. Letzte Woche bin ich mit einem jungen Mann, Enis, vielleicht an die 30, ins Gespräch gekommen. Er arbeitet in Wien in der Gastronomie. 2015 ist er mit seinem Bruder aus Syrien vor Krieg und Verfolgung nach Österreich geflüchtet, hat Asyl erhalten, arbeitet seit Jahren als Koch und Kellner. Die Eltern der beiden Brüder, die als Jugendliche nach Europa geflüchtet sind, blieben in Syrien zurück. Das Assad-Regime erlaubte Auslandssyrern, die 2015 geflüchtet waren, die Wiedereinreise nur gegen Bezahlung von 10.000 Euro. So konnte Enis seine Eltern auch nicht besuchen, nachdem er einen Daueraufenthaltstitel in Österreich erlangt hatte. Jahrelang sparte er, um auf der Konsularabteilung der syrischen Botschaft ein Einreisevisum kaufen zu können, wie er mir erzählt. Im Sommer 2024 hatte Enis endlich 10.000 Euro beisammen, ging auf die Botschaft Syriens, bezahlte 10.000 Euro und erhielt ein Visum, um seine Eltern in Syrien besuchen zu können. Sein Bruder hatte es nicht geschafft 10.000 Euro anzusparen, also flog Enis allein nach Syrien. Drei Wochen verbrachte er bei seinen Eltern, besuchte Freunde und Angehörige. „Meine Eltern und ich haben nahezu drei Wochen durchgehend geweint. Um die verlorenen Jahre, über das Wiedersehen, über die bevorstehende Trennung.“ Enis ist zurück in Wien, er arbeitet wieder.

Das Assad-Regime ist gefallen, die Zukunft des Landes ungewiss. Immerhin, das 10.000-Euro-Visum ist fürs Erste abgeschafft.

Menschen und Medien hier in Europa sprechen und schreiben vielfach von illegaler Migration, von Integrationsproblemen, von hohen Sozialleistungen. Oft haben sie wenig Ahnung von den tatsächlichen Lebensverhältnissen geflüchteter und zugewanderter Menschen. Von den traumatisierenden Gewalttaten in Herkunftsländern und auf der Flucht, vom Drama getrennter Familien, wo Kinder jahrelang ihre Eltern oder Geschwister nicht sehen, von den Enttäuschungen und Demütigungen, die Geflüchtete wie Zugewanderte in Europa mitunter erleben.

Im Grunde ist es einfach: geflüchtete und zugewanderte Menschen sind nicht bessere Menschen. Aber eben auch nicht schlechtere. Sehr oft verletzte und verletzliche Menschen und sehr oft jene, die die unbeliebtesten Jobs übernehmen und so unseren Wohlstand mittragen. Und ganz sicher sind sie nicht schuld an den existenziellen Problemen unseres Kontinents – an Klimawandel, Kriegen, Wohlstandsgefälle. Erst wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, kann Europa seine nach 1945 aufgebaute Stärke wiederfinden – als Kontinent, in dem Solidarität und Menschenrechte möglichst Vielen ein glückliches Leben schenken.

Bild: Josef Schützenhöfer – „71“

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