Von der juristischen Ausbildung über die Organisation des Ministeriums bis zur Berufsausübung und Forschung: Eine Reihe von Veränderungen tut not.
Gastbeitrag für Die Presse – Rechtspanorama vom 15.1.2024
Oliver Scheiber
Der Jahreswechsel ist eine gute Gelegenheit, aus dem Alltag herauszutreten und Grundsätzliches zu überdenken. Das gilt auch für den Rechtsbereich. Die letzten Jahre waren durch die Diskussion über Korruptionsprozesse und die Stellung der Staatsanwaltschaften bestimmt. Andere Themen kommen zu kurz. Auch wenn das Wahljahr im Allgemeinen kein guter Zeitpunkt für Reformen sein mag – Ideen für künftige Regierungsprogramme kann es nie genug geben, wenn man Stillstand vermeiden will. Im Folgenden ein paar Gedanken, wo künftige Reformen ansetzen könnten.
- Das Jusstudium
Die Inhalte des Jusstudiums sind seit Jahrzehnten recht unverändert. Die Gesellschaft und auch der Alltag der Rechtsberufe haben sich aber stark verändert. So kommt heute außergerichtlichen Konfliktlösungen viel mehr Bedeutung zu. Vor Gericht sind die Verfahren in Zivilsachen und Strafsachen nicht so starr wie früher, es gibt eine ganze Palette an Handlungsmöglichkeiten für Gericht und Anwaltschaft. Dadurch sind Kreativität und Kommunikationsfähigkeiten in den Rechtsberufen ungleich wichtiger als früher. Vor den Gerichten nimmt die Beschäftigung mit vulnerablen Personengruppen (Kinder, Pflegebedürftige, psychisch Kranke) viel Raum ein, das Familienrecht ist eines der größten Tätigkeitsfelder der Gerichte und damit auch der Anwaltschaft. All dem trägt die Universitätsausbildung nur unzureichend Rechnung. Der verstärkte Einbau von Grundkenntnissen der Soziologie, der Psychologie und Psychiatrie, der Mediations- und Kommunikationstechniken in die Lehrpläne könnte Studierende besser auf den Berufsalltag vorbereiten; das Familienrecht könnte entsprechend seiner praktischen Bedeutung mehr Beachtung finden. Das immer wichtiger werdende Klima- und Umweltrecht findet bereits vereinzelt seine Verankerung in den Fakultäten. Angesichts des weltweiten Rückzugs der Demokratie wäre zu überlegen, ob nicht am Beginn der rechtswissenschaftlichen Studien die geschichtlichen Entwicklungen vermittelt werden sollten, die der Anlass zur heutigen europäischen Menschenrechtsordnung waren. Die Umbrüche des 20. Jahrhunderts mit Weltkriegen, Faschismus und darauf folgendem Aufbau der modernen Grundrechtsordnung sind offenkundig zu wenig im kollektiven juristischen Bewusstsein verankert.
- Das Justizministerium
Die schon angeführten Umwälzungen des Alltags im Rechtsleben finden sich auch in der Organisation des Justizministeriums kaum wieder. Eine Neuordnung des Ministeriums könnte der Entwicklung der Gerichtsbarkeit wichtige Impulse geben. So könnte eine eigene Sektion für Soziologie und Kriminologie die Begleitforschung zur Gerichtsbarkeit koordinieren und zugleich der Legistik des Ministeriums Grundlagen liefern. Für die Justiz relevante gesellschaftliche Entwicklungen könnten ebenso fundiert beobachtet werden wie Entwicklungen in der Rechtsprechung und im Strafvollzug. Die bisher nach Straf- und Zivilrecht getrennten Legislativsektionen könnten zusammengeführt werden, um Gesamtbetrachtungen des Rechtssystems zu fördern; zugleich könnte der europarechtliche Fokus der Legistik gestärkt werden.
- Die Gesetzgebung
Die Justizgesetzgebung ist heute ein weites Feld. In erster Linie könnte man Reformen angehen, die seit Jahren überfällig sind. Im Jahr 2008 etwa ist das neue strafrechtliche Vorverfahren in Kraft getreten. Die damit verbundene Reform des Hauptverfahrens wurde nie begonnen. Dabei könnte eine neue Hauptverhandlung wichtige Verbesserungen bringen: durch eine Zweiteilung des Verfahrens in die Schuld- und Straffrage würden – dem Beispiel anderer Staaten folgend – mehr Ressourcen in die Überlegung der Strafe fließen. Damit könnte die Sanktion besser ausgewählt werden, unnötige Haftjahre eingespart und die Rückfallsquote gesenkt werden. Die könnte mit der oben erwähnten stärkeren Vernetzung zur Wissenschaft unterstützt werden.
Ein weiteres Reformprojekt wäre die Umsetzung der Stärkung der Kinderrechte, die in dieser Legislaturperiode von der so genannten Griss-Kommission mit zahlreichen Vorschlägen konkretisiert wurde. Dabei geht es vielfach um die Änderung der Gerichtsverfahren – ganz generell gilt, dass die Qualität der Gerichtsverfahren vor allem über Änderungen der Verfahren erreicht werden kann. International steht die so genannte Verfahrensgerechtigkeit stark im Fokus. Es geht zB darum, mehr an mündlichen Verhandlungen, runden Tischen und Fallkonferenzen vorzusehen, da auf diese Weise eine weitaus bessere Entscheidungsgrundlage für die Gerichte entsteht als etwa durch Schriftsätze und schriftliche Gutachten.
- Rechtsprechung
Jede Berufsgruppe ist gut beraten, ihre Tätigkeit laufend zu hinterfragen. Das gilt auch für die Rechtsprechung. Gerichte und Staatsanwaltschaften sind hier gefordert, nicht nur allein, auch gemeinsam mit den anderen Rechtsberufen, Notariat und Anwaltschaft. Alle Rechtsberufe arbeiten im gesellschaftlichen Auftrag und müssen sich fragen: gehen wir mit ausreichend Empathie mit Mandanten und Verfahrensbeteiligten um? Werden wir unserer Verpflichtung zum Schutz vulnerabler Gruppen (der Kinder im Familienrecht, der psychisch Kranken im Erwachsenenschutzrecht und Strafrecht) ausreichend gerecht? Wären vielleicht gemeinsam regelmäßige Diskussionen zu diesen Fragen auf lokaler Ebene hilfreich? Die Strafjustiz muss sich fragen, ob sie ihre härtesten Mittel entsprechend den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und ultima ration einsetzt und wie sehr sie sich – etwa im Bereich Schlepperei oder Klimakleber – bewusst oder unbewusst von tagespolitischen Stimmungen treiben lässt. Überfüllte Gefängnisse, in denen moldawische Familienväter sitzen, die sich gegen geringes Entgelt dazu verleiten ließen, Flüchtlinge Richtung Nordwesten zu chauffieren und am Ende als Mitglied einer kriminellen Vereinigung verurteilt werden, sollten Anlass zu einem solchen Hinterfragen sein.
Das sind nur einige der Gedanken, die sich aufdrängen. Natürlich sollte auch die einganhgs erwähnte Frage der Aufsicht über die Staatsanwaltschaften einer Lösung zugeführt werden. Die letzten Jahre weisen eher in die Richtung, dass Österreich nicht reif ist für eine politische Aufsicht über die Staatsanwaltschaften. Zwei Reformmodelle sind daher naheliegend: erstens das System der neuen Europäischen Staatsanwaltschaft. Hier hat man sich dafür entschieden, einen Instanzenzug innerhalb der Staatsanwaltschaft selbst einzurichten. Ist man also mit der Entscheidung einer Staatsanwältin und eines Staatsanwalts nicht einverstanden, so kann man ein großes Gremium innerhalb der Europäischen Staatsanwaltschaft anrufen. Eine Alternative dazu wäre das italienische Modell, in dem Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ähnlich unabhängig sind wie Gerichte. Ein Rechtsschutzdefizit besteht auch hier nicht, da nahezu alle wichtigen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Sicherzustellen wäre nur, dass es im Falle des Untätigbleibens von Staatsanwaltschaften ein Mittel gibt, Ermittlungsverfahren in Gang zu bringen. Dafür gibt es wiederum verschiedene Modelle, auch hier könnte man ein Gericht einschalten, das darüber entscheidet, ob ein Verfahren einzuleiten ist oder nicht.
Oliver Scheiber ist Richter und Lehrbeauftragter (Univ. Wien, FHWKW) sowie Autor von Büchern zu Justiz und zu Politik.