Gespräch für den falter mit Michael Buschheuer

„Wir haben Mütter an Bord, deren tote Kinder wir am selben Boot in den Kühltruhen mitführen“

Michael Buschheuer, ein bayrischer Unternehmer, gründete 2015 die NGO Sea-Eye, die seither 16.000 Menschen im Mittelmeer das Leben rettete

OLIVER SCHEIBER
02.03.2023

Sea-Eye- und Space-Eye- Gründer Michael Buschheuer

In seinem Brotberuf ist Oliver Scheiber amtierender Strafrichter in Wien – darüber hinaus aber auch ein engagierter Beobachter gesellschaftspolitischer Debatten, Moderator aktueller Podiumsdiskussionen, wie etwa kürzlich zu den Protesten im Iran und nicht zuletzt regelmäßiger Autor für den Falter.

Diesmal sprach Scheiber mit Michael Buschheuer, einem Mann, der ein mittelständisches Malerei- und Lackiererunternehmen im bayrischen Regensburg führt – darüber hinaus aber 2015 die private Seenotrettungs-NGO Sea-Eye gegründet und auf diese Weise 16.000 Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet hat. Danach gründete er die NGO Space-Eye, die sich vorwiegend um die Versorgung von Geflüchteten an Land kümmert.

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Falter: Was veranlasst einen erfolgreichen Unternehmer aus Bayern, in die Seenotrettung im Mittelmeer einzusteigen?

Michael Buschheuer: Mir ist vor einigen Jahren bewusst geworden, dass wir in Ländern wie Deutschland und Österreich einen immer höheren Wohlstand genießen, während es anderen Staaten deutlich schlechter geht, und dass das gleichzeitig mit einer wachsenden Angst vor den Ärmsten, etwa vor Flüchtlingen, einhergeht. Meine Familie hat schon lang ein Boot in Kroatien, mit dem wir jedes Jahr in der Adria unterwegs waren, was meine Gedanken zum Sterben im Mittelmeer führte. Irgendwann wollte ich diesem Sterben im Mittelmeer nicht mehr zusehen. Ich habe mich informiert und mit Experten besprochen und schließlich einen alten Fischkutter gekauft, so ein Schiff kostet nicht mehr als ein Kleinwagen. Wir haben ein Team zusammengestellt, da waren Menschen aus medizinischen und sozialen Berufen dabei, und haben 2016 mit der Seenotrettung begonnen. In den letzten Jahren haben wir ungefähr 16.000 Menschen aus dem Mittelmeer geborgen.

Falter: Wie kann man sich die Seenotrettung im Mittelmeer praktisch vorstellen?

Buschheuer: Die Lage ist insgesamt fatal. Die Flüchtlinge im zentralen Mittelmeerraum brechen fast ausschließlich aus Libyen auf. Die Situation in Libyen selbst ist katastrophal. Flüchtlinge, die es aus anderen afrikanischen Ländern bis Libyen schaffen, sind dort nicht mehr Herr ihres eigenen Schicksals. Sie werden in Lagern angehalten, gefoltert, die Frauen werden vielfach in die Zwangsprostitution gebracht, bis sie dann schwanger werden. Die Flüchtlinge wollen aus dem Horror hinaus. Sie werden in Schlauchboote gebracht. Diese Boote sind so schwach, dass damit eine Überfahrt nach Europa in keinem Fall gelingen kann. Von den vielen Anrainerstaaten des Mittelmeers ist zudem Italien das einzige Land, das Rettungsschiffen überhaupt noch ein Anlegen erlaubt. Das wurde in den letzten Jahren allerdings auch in Italien stark behindert.

Falter: Hat sich die Lage in den letzten Jahren verschlimmert?

Buschheuer: Das für mich Bedrückende ist, dass die Europäische Union, die so viele Verdienste im Menschenrechtsbereich und in der Flüchtlingshilfe hat, an ihrer Außengrenze einen rechtsfreien Raum zulässt bzw. aktiv schafft. Mit der Operation „Mare Nostrum“ hat Italien rund 150.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Im Jahr 2014 hat Italien diese Rettungsoperation auf Druck anderer europäischer Staaten, auch Deutschland und Österreich eingestellt. Es hat dann die EU-Agentur Frontex die Grenzsicherung übernommen, deren Philosophie nur die Abwehr von Flüchtlingen ist. Zum Teil wurden die Menschen in Not direkt nach Libyen zurückgetrieben, wo sie Folter oder Tod erwartet. Mittlerweile sind nur mehr drei oder vier NGOs in der Seenotrettung aktiv. Wir wollen einfach das internationale Seerecht durchsetzen, das vorsieht, Menschen in Not in den nächstgelegenen Hafen zu bringen. Oft erhalten die Rettungsschiffe keine Landeerlaubnis, es ist ein tage- oder wochenlanges Warten. Wir sind damit konfrontiert, dass Menschen auf den Schiffen sterben, da sind dann auf einmal Mütter an Bord, deren tote Kinder wir am selben Boot in den Kühltruhen mitführen. Die Seenotrettung an sich ist nicht ungefährlich, es gibt Seepiraterie und es wurden zum Beispiel zwei unserer Crewmitglieder entführt und nach Libyen verbracht. Sie wurden später Gott sei Dank frei gelassen.

Falter: Gibt es überhaupt noch Seenotrettung in anderen Bereichen des Mittelmeers?

Buschheuer: Wie gesagt ist Italien das einzig verbliebene Land, das noch eine Landung von Rettungsschiffen zulässt. Mit Space-Eye haben wir jetzt als einzige NGO auch ein offiziell gelistetes Rettungsschiff vor den griechischen Gewässern, allerdings geht die griechische Regierung brutal gegen jede Form von Hilfeleistung vor. Das ist eine extrem schwierige Situation.

Falter: Es gibt immer den Einwand, dass nicht alle Menschen nach Europa kommen können.

Buschheuer: Ich sehe die Dinge realistisch. Selbstverständlich können nicht alle Menschen nach Europa kommen. Gleichzeitig muss die Europäische Union Menschenrechte, Menschenwürde und Asylrecht hochhalten. Dieser Mittelweg ist möglich. Die EU darf sich auch keine Unmenschlichkeit erlauben und darf nicht nötige Hilfeleistung für Menschen in Lebensgefahr unterlassen. Europa ist dadurch stark geworden, dass es in den letzten Jahrzehnten immer ein möglichst flaches wirtschaftliches Gefälle nach außen ausgebildet hat. Wenn wir nun an unseren Außengrenzen Mauern und Zäune errichten und dieses Europa in seinem heutigen Zustand quasi innerhalb der Mauern einfrieren, dann wird das für die Gesellschaft insgesamt furchtbare Folgen haben. Ich habe auch Angst davor, dass flüchtende Menschen dauerhaft in einem gesetzesfreien Raum bleiben.

Falter: Eines der Anliegen von Space-Eye ist die Dokumentation der Flüchtlingsschicksale.

Buschheuer: Aus unseren Erfahrungen in der Seenotrettung wissen wir, was für ein hoher Anteil unter den Flüchtlingen Opfer von Raub, Mord oder Vergewaltigung wird. Erst wenn wir Fluchtgeschichten besser dokumentieren, dann wird deutlich werden, dass diese Vielzahl von Raub, Mord und Vergewaltigungen an Flüchtlingen nicht Einzelverbrechen sind, sondern dass ihnen organisierte, verbrecherische Strukturen zu Grunde liegen. Wir werden durch die Dokumentation immer dieselben Täternamen und Tätergruppen sehen und es wird klar werden, dass es sich hier um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, gegen die unter anderem die Europäische Union entschlossen vorgehen muss.

Falter: Glauben Sie, dass die Bevölkerung hinter der Flüchtlingshilfe steht?

Buschheuer: Wir erfahren in unserer Arbeit viel Zuspruch. Zu Beginn des Ukrainekriegs gab es in Regensburg ein massives Spendenaufkommen und das Anliegen der Regensburger Bevölkerung an Space-Eye, in der Ukrainehilfe aktiv zu werden. Da haben wir begonnen, Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen und auch Menschen von dort zu retten und in Regensburg aufzunehmen. Generell meine ich ja, dass Europa in der Flüchtlingshilfe viel geschafft hat. Wenn wir das Jahr 2015 betrachten, so war doch Angela Merkels Ausspruch „Wir schaffen das“ das Selbstverständlichste der Welt. Wir erwarten doch von unseren Politikerinnen und Politikern, dass sie Probleme lösen. Und das ist im Jahr 2015 gut gelungen. Ich würde mir wünschen, dass wir dieses Jahr 2015 als humanitäre Sternstunde sehen können. Diese Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zeigt sich jetzt gerade wieder. Wir haben etwa bei unserer Flüchtlingshilfe für die Ukraine in Regensburg die Unterbringung von Menschen in Zentralquartieren vermieden. Tatsächlich ist es gelungen, binnen weniger Monate 1200 Menschen in Privatquartieren in Regensburg unterzubringen, alle angekommenen Kinder besuchen Schulen. Jetzt kommt das Ganze langsam an die Grenzen, aber es ist doch eine gewaltige Leistung, die wir geschafft haben.

Falter: Wie könnte die Flüchtlingspolitik der EU in der Zukunft aussehen?

Buschheuer: Was wir brauchen, ist ein solidarisches Vorgehen der europäischen Länder. Wir müssen mit den Grenzkontrollen innerhalb der EU und mit dem Ausbau von Mauern an den Außengrenzen aufhören. Ein rechtsstaatlich organisierter Grenzschutz und eine Politik der Menschenrechte und Flüchtlingshilfe schließen sich nicht aus. Frontex leidet seit seiner Gründung an einem Konstruktionsfehler, es gibt einen untragbaren Mangel an parlamentarischer Kontrolle, das Ganze hat sich katastrophal entwickelt. Frontex sieht keine Menschen, sondern nur Objekte, die es abwehrt.

Falter: Erleben Sie persönliche Anfeindungen?

Buschheuer: Anfeindungen gibt es, das ist normal und ich kann damit leben. Ich habe eine Botschaft, die ich unter die Menschen bringen möchte. Dazu stehe ich.

Falter: Wie sehen Sie die Situation in Österreich?

Buschheuer: Ich verfolge die Situation in Österreich nicht im Detail. Aus meinem Bereich der Flüchtlingshilfe würde ich sagen, dass mir die österreichischen Behörden weniger offen erscheinen als etwa die deutschen Behörden. Das Aufstellen von Zelten halte ich etwa für verheerend. Es ist schlimm für die betroffenen Flüchtlinge und es befördert eine ablehnende Haltung in der Bevölkerung. Ich würde mir viel mehr Dialog und Zusammenarbeit wünschen. Ich suche in unserer NGO-Arbeit immer die Kooperation mit den Behörden. In vielen Fällen, in der Seenotrettung wie auch bei der Flüchtlingshilfe in Regensburg, hat das – nicht immer, aber sehr oft – gut funktioniert.

Das Interview wurde von Oliver Scheiber geführt. Er ist regelmäßiger Falter-Autor und Richter in Wien.

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