Text für die Literaturzeitschrift wespennest Nr. 183 vom November 2022
Im Wein liegt die Wahrheit
Echt und falsch, Wahrheit und Lüge in der Rechtsordnung
für Annemiek
Jede Zeit hat ihre prägenden Ereignisse, ihre Mode, ihre Trends. Diese Zeitströmungen bleiben nicht ohne Einfluss auf rechtliche Erscheinungen, Rechtsprechung und Gesetze. Der aktuell vorherrschende Populismus in Verbindung mit ungebremstem Kapitalismus hat viele Begleiter – zusammengefasst einen breiten Verfall ethischer Prinzipien. Die Gier nach Geld und Macht, die weitgehende Abwesenheit von Visionen für die Zukunft führen dazu, dass Fake News, Wahlfälschung und manipulierte Ausschreibungen öffentlicher Posten und Aufträge eine Hochkonjunktur erleben.
Fälschung und Recht
Fälschungen stören das menschliche Zusammenleben, und so beschäftigt sich auch das Recht schon seit Jahrhunderten damit. Die Fälschung hat im Rechtsleben ihren fixen Platz, wenn auch nicht in der den großen Dimensionen, wie die man vielleicht vermuten würde. Blicken wir auf das Strafrecht, so finden sich im österreichischen Strafgesetzbuch, ähnlich den meisten Ländern der Welt, einige Fälschungsdelikte, die in der Praxis eine größere Rolle spielen. Da ist zunächst das Delikt der Urkundenfälschung, das mit Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr bedroht ist. Eine falsche Urkunde im rechtlichen Sinn ist ein Dokument, das nicht vom angegebenen Aussteller einer Urkunde stammt. Es geht also zum Beispiel darum, dass ein Mieter bei der polizeilichen Anmeldung am Meldezettel die Unterschrift des Vermieters fälscht, etwa weil die Wohnung unberechtigt untervermietet wurde und der Vermieter nicht zur Unterschrift bereit ist. Auch gefälschte Ausweise spielen im Rechtsleben und im Gerichtsalltag eine Rolle. Menschen, die bei der Führerscheinprüfung nicht erfolgreich waren oder denen der Führerschein abgenommen wurde, verfallen gelegentlich auf die Idee, einen gefälschten Führerschein zu kaufen, einen Markt dafür gibt es offenkundig. Und Menschen, die auf der Flucht sind, sind häufig darauf angewiesen, falsche Ausweise oder Reisepässe zu kaufen; entweder, weil sie eigene Dokumente aus ihrer Heimat nicht mitnehmen konnten, oder weil ein Ausweis mit falscher Identität – etwa im Fall der politischen Verfolgung – eine höhere oder die einzige Hoffnung auf ein Ankommen in einem sicheren Gebiet bedeutet. In jeder Zeitepoche werden neue Urkunden gefälscht – mit der Pandemie tauchten rasch falsche Impfzeugnisse auf oder falsche ärztliche Bestätigungen, die eine Ausnahme von Maskentragen oder Impfung belegen sollten. Im Jahr 2020 wurden in Österreich insgesamt 24 000 Personen strafrechtlich verurteilt, rund 1800 Personen davon wegen Urkundenfälschung oder eines eng verwandten Strafdelikts verurteilt; die Urkundendelikte bilden also eine durchaus beachtliche strafrechtliche Deliktsgruppe.
Falsches Geld und falsche Marken
Der gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes entsprechend ist die Geldfälschung ein weiteres schon lang bekanntes Delikt unseres Strafrechts. Mit der modernen Zeit ist die Fälschung unbarer Zahlungsmittel, etwa die Kreditkartenfälschung, dazu getreten. Geldfälschung wird vom Gesetzgeber als besonders schweres Verbrechen gesehen – bei diesem Delikt droht eine Haftstrafe von einem bis zu zehn Jahren. Wurde noch 2001 geschätzt, dass jeder zehnte in Europa im Umlauf befindliche Geldschein gefälscht ist, so vermeint die Europäische Kommission aktuell einen Tiefstand bei Geldfälschungen in der Eurozone festzustellen. Den Untersuchungen der Kommission zufolge finden sich derzeit unter einer Million im Umlauf befindlicher Euroscheine lediglich zwölf gefälschte. Im Jahr 2021 wurden weltweit 347 000 gefälschte Euro-Banknoten aus dem Verkehr gezogen, so wenige wie nie zuvor. Bei etwa zwei Drittel aller aus dem Verkehr gezogenen Fälschungen handelte es sich um 20- und 50-Euro-Scheine. Fälscher bevorzugen diese kleineren Banknoten, da die meisten Menschen sie im Alltag weniger aufmerksam entgegennehmen als die großen Banknoten. Gefälscht werden freilich nicht nur Geldscheine, sondern auch andere papierene Wertträger wie etwa Aktien. Dafür sieht das Gesetz ebenfalls Gefängnisstrafen vor.
Gerichte haben sich – neben Fälschungen von Eintrittskarten für Sport- und Konzertveranstaltungen – auch immer wieder mit Fälschungen von Markenprodukten zu befassen, wobei die Produkte in allen Eigenschaften und Materialien inklusive der Markenzeichen so nachgebildet sind, dass sie wie das Original erscheinen. Die Fachbezeichnung dafür lautet Produktpiraterie. Den Käuferinnen und Käufern ist die Fälschung oft bewusst, man denke an die Imitate von Louis-Vuitton-Taschen oder Ray-Ban-Sonnenbrillen, die an Ferienplätzen auf den Gehsteigen ausgebreitet und zum Verkauf angeboten werden. Nachbildungen finden sich auch im technischen Bereich, etwa bei Autoersatzteilen oder Ladekabeln von Markensmartphones. In diesem Bereich können Fälschungen von minderer Qualität zu Gesundheits- oder gar Lebensgefährdungen führen. Dasselbe gilt für die nicht seltenen gefälschten Arzneimittel, die vor allem über den Onlinehandel vertrieben werden; aber auch für Lebensmittelfälschungen, von denen etwa der Weinsektor betroffen ist.
Viele dieser zuletzt erwähnten Fälschungen werden strafrechtlich als Betrug geahndet, wenn die Erwerberinnen und Erwerber davon ausgehen, dass sie ein Markenprodukt erhalten kaufen, tatsächlich aber in die Irre geführt werden und ein billiges Imitat erhalten. Betrügerische Handlungen liegen zumeist auch den Kunst- und Antiquitätenfälschungen zugrunde – oder etwa auch Tagebuchfälschungen. Man denke an den berühmt gewordenen Fall der gefälschten Hitler-Tagebücher: Das Nachrichtenmagazin Stern hatte im Jahr 1983 vermeintliche Tagebucheintragungen Adolf Hitlers veröffentlicht, die sich nach Untersuchungen des deutschen Bundeskriminalamtes rasch als gefälscht erwiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Stern allerdings bereits 62 Bände gefälschter Tagebücher für 9,3 Millionen D-Mark erworben. Der Fälscher der Tagebücher wurde zu vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Das Hamburger Gericht wertete ein erhebliches Mitverschulden von Verlag und Redaktion als strafmildernd.
Fake News
Falsche oder verfälschte Nachrichten, bewusst verdrehte Fakten werden nicht nur von der Politik immer häufiger strategisch verwendet. Gerade in Zeiten der Pandemie machten im Wissenschaftsbereich unzählige manipulierte und falsch dargestellte Forschungsergebnisse die Runde. Entscheiden sich Menschen aufgrund solcher manipulierten Darstellungen etwa zu für falsche medizinische Behandlungen, dann kann die Verbreitung der falschen Studien und Informationen zu Haftungsfolgen und auch strafrechtlichen Konsequenzen (gewertet etwa als vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung) führen. Vor Gericht spielen Fake News unter anderem in medienrechtlichen Verfahren und im Zusammenhang mit der Verletzung von Persönlichkeitsrechten immer wieder eine Rolle.
Verfälschte Wahlen wiederum assoziiert man mit autoritären Regimen, doch werden immer wieder auch in Österreich diesbezügliche Strafverfahren geführt. Zuletzt 2020/2021 etwa wurde laut Medienberichten ein Verdacht der Wahlfälschung bei der letzten Wirtschaftskammerwahl im Burgenland untersucht.
Rechtlich verwandt mit dem Fälschungsbegriff ist schließlich das Plagiat, in der öffentlichen Diskussion in letzter Zeit vor allem im Zusammenhang mit akademischen Abschlussarbeiten prominenter Personen diskutiert. Beim Plagiat wird eine eigene (wissenschaftliche) Leistung vorgetäuscht, indem ohne entsprechenden Ausweis (Zitat) fremde Texte oder Leistungen als eigene ausgegeben werden.
Wahrheitserforschung durch Gerichte
Der Begriff der Fälschung führt rasch zu Fragen von echt und falsch, Wahrheit und Lüge. Vor allem die Wahrheit, mag sie auch allgemein nicht hoch im Kurs stehen, ist immer noch ein Schlüsselbegriff für die Arbeit der Gerichte. Im Gerichtsverfahren geht es in der Regel um die Lösung von Konflikten zwischen zwei oder mehreren Personen oder Unternehmen. Unabhängig davon, ob es sich um eine familienrechtliche Streitigkeit handelt, einen Streit um eine nicht bezahlte Handyrechnung oder um ein Strafverfahren wegen Körperverletzung: Die Arbeit der Gerichte folgt stets demselben Schema. Gerichte versuchen in einem förmlichen Verfahren herauszufinden, was tatsächlich passiert ist; es geht technisch gesagt um Wahrheitserforschung. Diese ist notwendig, damit das Gericht Feststellungen treffen kann. Erst aufgrund dieser Feststellungen beurteilt das Gericht den Sachverhalt rechtlich und trifft seine Entscheidungen, seine Urteile. Bei der Tatsachenfeststellung vor Gericht geht es etwa darum, welcher Elternteil dem Kind ein besseres Zuhause bietet, oder um die Frage, ob der Verdächtige einer Straftat tatsächlich derjenige war, der dem Opfer Verletzungen zugefügt hat; und falls ja, ob er sich vielleicht nur seinerseits gegen einen Angriff gewehrt hat. Paragraf 3 der österreichischen Strafprozessordnung formuliert es so: «Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht haben die Wahrheit zu erforschen und alle Tatsachen aufzuklären, die für die Beurteilung der Tat und des Beschuldigten von Bedeutung sind.» Damit erteilt der Gesetzgeber der Justiz einen Auftrag, von dem jeder reflektierte Mensch weiß, dass er nicht zu erfüllen ist. Denn was ist schon die Wahrheit? Wer kann könnte auch nach noch so langen Ermittlungen behaupten, die ganze Wahrheit über einen Sachverhalt zu wissen? Und selbstverständlich ist aufgeklärten Juristinnen und Juristen heute bewusst, dass es zu ein- und demselben Sachverhalt in der Regel verschiedene subjektive Wahrheiten gibt. Ganz einfach deshalb, weil beteiligte Personen dasselbe Geschehnis unterschiedlich wahrnehmen. Aus den tausenden Eindrücken, die jede Minute auf uns einprasseln, filtert unser Gehirn einzelne heraus, die in der Erinnerung gespeichert bilden bleiben. Wir haben nie ein Gesamtbild der Wirklichkeit, immer nur ein Teilbild. Unsere Erinnerung kann uns also täuschen. Gut beobachten lässt sich das, wenn verschiedene Zeuginnen und Zeugen vor Gericht einen Verkehrsunfall schildern. Selbst wenn diese Personen unbeteiligte Passanten sind, die keinerlei eigenes Interesse am Ausgang des Gerichtsverfahrens haben, gehen ihre Schilderungen bezüglich der Geschwindigkeiten der Fahrzeuge, der Ampelschaltung oder Dauer eines bestimmten Vorgangs oft diametral auseinander. Das ist kein böser Wille, keine vorsätzliche Lüge, sondern eine subjektive Wahrheit, eine subjektive Erinnerung.
Handlungen gegen die Rechtspflege
Die Gerichte stehen bei der Wahrheitserforschung also vor einer schwierigen Aufgabe. Im Allgemeinen tun wir uns dort leichter, Wahrheiten zu erkennen und anzuerkennen, wo sich Sachverhalte naturwissenschaftlich nachvollziehen lassen. Das gilt auch vor Gericht. Oft gibt es bei der Feststellung eines Verkehrsunfalls vor Gericht etwa Bremsspuren, Beschädigungen an den Fahrzeugen oder auch Verletzungen, die (wissenschaftliche) Rückschlüsse auf die Geschwindigkeit der Fahrzeuge ermöglichen. Die Gerichte ziehen zu diesem Zweck oft Sachverständige bei, deren Untersuchungsergebnisse im besten Fall mehr Sicherheit bringen als Zeugenaussagen. In vielen Fällen finden Gerichte solche wissenschaftlich nachvollziehbaren Anhaltspunkte für die Feststellung eines Sachverhalts vor. Zu denken wäre etwa auch an die Prüfung der Fälschung eines alten Bildes. Kommt man zum Ergebnis, dass eine der verwendeten Farben zur Zeit der behaupteten Entstehung des Werkes noch nicht verfügbar war, so wird dies einen starken Beweis für die nachträgliche Fälschung des Bildes abgeben. Anders ist das dort, wo Gerichte innere Vorgänge in einem Menschen erkunden und feststellen müssen. Etwa wenn es darum geht herauszufinden, ob ein Angeklagter einen anderen vorsätzlich oder gar absichtlich verletzt hat, ob es zur Verletzung gleichsam beiläufig, aus einer Fahrlässigkeit und ungewollten Unachtsamkeit heraus gekommen ist. Regelmäßig müssen Gerichte solche Fragen lösen; im Strafrecht kann der Vorsatz, der Wille des Täters entscheidend sein für die rechtliche Einordnung und damit für das Strafmaß.
Da also der Wahrheitserforschung durch die Gerichte so hohe Bedeutung zukommt, steht auch vieles unter Strafe, was diese Wahrheitserforschung stören könnte. Das Gesetz schützt gleichsam die wahrheitserforschende Tätigkeit der Gerichte und sanktioniert alles, und zwar recht streng, was die gerichtlichen Bemühungen behindern und was den Ausgang des Gerichtsverfahrens verfälschen könnte. So stehen etwa alle Menschen, die als Zeuginnen und Zeugen vor Gericht, vor einem Untersuchungsausschuss oder vor einer Behörde aussagen, unter Wahrheitspflicht. Bewusst falsche Aussagen vor Gericht oder dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss werden vergleichsweise streng, nämlich mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Gelegentlich sagen Menschen falsch aus, um einen Angehörigen vor einer Verurteilung wegen eines kleinen Diebstahls oder einer geringfügigen Verletzung eines anderen zu schützen; sie übersehen dabei meist, dass die falsche Aussage mit viel höheren Strafen verbunden ist als das Delikt, um das es bei der Aussage geht. So schwerwiegend schätzt das Gesetz die Verfälschung eines Verfahrens durch eine falsche Aussage ein (nur falsche Aussagen von Klägern und Beklagten eines Zivilverfahrens und Angeklagten eines Strafverfahrens sind von der Strafbarkeit ausgenommen). Strafbar ist es daher auch, wenn jemand dem Gericht ein falsches Beweismittel vorlegt, etwa ein gefälschtes ärztliches Attest, um mehr Schmerzensgeld zu erwirken. Aber auch Sachverständige und Dolmetschende, die falsche Gutachten erstatten oder Aussagen falsch dolmetschen, sind mit Gefängnisstrafen bedroht.
Bei der Strafandrohung für all diese Verhaltensweisen geht es also vor allem darum, dass der Ausgang eines Verfahrens oder einer Untersuchung bewusst verfälscht werden könnte, was den Respekt vor der Tätigkeit der Gerichte und Behörden untergraben würde. In diesem Lichte ist die penible Untersuchung einer möglichen falschen Aussage eines früheren österreichischen Bundeskanzlers im Parlament zu sehen.
Einer Verfälschung des Verfahrens soll auch das Verbot des Agent Provocateur vorbeugen. Der Polizei ist es gesetzlich verboten, jemanden zu einer Straftat anzustiften. Solche Anstiftungsversuche, etwa die Verleitung von Menschen zum Drogenankauf durch verdeckte Ermittler, gehörten früher zum Repertoire der Polizeiarbeit. Moderne Rechtsstandards verbieten eine solche Vorgangsweise, die gleichsam eine Fälschung an den Beginn des Strafverfahrens stellt: Denn tatsächlich wollen Zivilfahnder ja gar keine Drogen verkaufen; durch Anstiftung würde eine Straftat künstlich herbeigeführt, die es sonst nicht gäbe. Der Einsatz des Agent Provocateur widerspricht nach heutigem Verständnis dem fairen Verfahren.
Die zahlreichen Schutzbestimmungen für das gerichtliche Verfahren haben eines im Auge: die Vermeidung von Fehlurteilen. Denn was ein Gericht am Ende des Verfahrens im Urteil feststellt, das gilt formal als Wahrheit, mag sich das Gericht bei seinen Feststellungen geirrt haben oder nicht. Es gibt zwar meist noch die Möglichkeit einer Berufung oder Revision, aber spätestens nach drei oder vier Instanzen ist der Rechtsweg zu Ende. Dann steht eine vom Gericht erzeugte Wahrheit fest, die das Leben der Verfahrensbeteiligten stark beeinflussen kann – etwa in Form einer langen Gefängnisstrafe oder in Form des Verlusts des Besuchsrechts zum/beim? Kind. Hat sich ein Gericht geirrt, so sprechen wir von einem Fehlurteil. Das Urteil wird in den seltensten Fällen beabsichtigt falsch sein, in der Regel wird das Gericht die verschiedenen Aussagen und vorgelegten Papiere unzutreffend bewertet haben. Da sich der Gesetzgeber bewusst ist, dass Fehlurteile nicht ganz vermeidbar sind, sieht das Gesetz Hilfsmittel wie die Wiederaufnahme eines Verfahrens vor. Das ändert nichts: Diese sogenannte Wahrheitserforschung bedeutet eine beständige Überforderung aller Beteiligten.
Im Wein liegt die Wahrheit
Polizei- und Verwaltungsbeamte, Staatsanwältinnen und Richter, sie alle müssen berufsbedingt laufend die Glaubwürdigkeit von Aussagen prüfen und entscheiden, welche Aussagen und Urkunden sie für echt und wahr, welche sie für falsch halten. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen versuchen auf diese Aufgabe vorzubereiten, Lebens- und Berufserfahrung kann manchmal helfen. Und doch kommen auch Expertinnen und Experten immer wieder im selben Fall zu unterschiedlichen Erkenntnissen. Ein kürzlich vor einem Wiener Bezirksgericht verhandelter Fall soll das illustrieren.
Ein Pensionist stand vor Gericht, die Staatsanwaltschaft legte ihm den versuchten Diebstahl einer Flasche Wein zu Last. Der Pensionist bestritt und berichtete, er sei wie immer mit seiner Frau einkaufen gewesen. In einem ersten Geschäft, wohin ihn seine Frau nicht begleitet hatte, habe er die später umstrittene Weinflasche gekauft. Als Beleg – der Mann hatte die Flasche zur Gerichtsverhandlung mitgebracht – verwies er auf die aufgeklebte Rabattmarke einer Supermarktkette. Den zweiten Supermarkt, in dem er später angehalten wurde, hatte der Mann gemeinsam mit seiner Frau betreten. So wie immer habe man sich im Geschäftslokal getrennt, er habe sich bei den Weinen umgesehen, seine Frau bei Brot und Fleischwaren. Nachdem er eine Weile vergeblich nach seiner Frau Ausschau gehalten habe hätte, sei er zum Kassenbereich weitergegangen, habe dort die Weinflasche auf der ausgangsseitigen Kassenfläche abgestellt und zur Kassiererin gesagt, er schaue nur, wo seine Frau bleibe. Er habe seinen Kopf Richtung Ausgangsbereich gesteckt und sei in diesem Moment vom Ladendetektiv angehalten worden. Dieser habe ihm sogleich den versuchten Diebstahl der Weinflasche vorgehalten.
In der Gerichtsverhandlung wurde zunächst der angeklagte Mann befragt, der auf sein höheres Alter, seine lebenslange Unbescholtenheit und seine gute Pension verwies. Er unterstrich, dass er ja die Kassiererin informiert habe, deren Personalien aber niemand notiert hatte. Der Ladendetektiv drückte seine Überzeugung aus, dass es sich um einen gefinkelten Dieb handle, der bei der Anhaltung gleich eine Schutzbehauptung zur Hand gehabt habe. Er räumte aber ein, dass der Angeklagte einige Zeit im Kassenbereich gestanden wäre sei und dort suchend nach links und rechts geschaut habe.
Schließlich wurden vor Gericht die beiden Polizeibeamten einvernommen, die unmittelbar nach dem Vorfall in den Supermarkt gerufen worden waren. Beide Polizeibeamte sind etwa gleich alt, bereits seit Jahren im Polizeidienst tätig und mehrmals täglich wegen mutmaßlicher Ladendiebstähle im Einsatz. Nach seiner Einschätzung des gegenständlichen Falls befragt, gab der erste der beiden Beamten vor Gericht an, er habe den Diebstahlsvorwurf von Beginn an für absurd gehalten. Er hätte keinen Grund zur Annahme gesehen, warum der gut situierte Mann eine Flasche Wein stehlen sollte, wo er auch noch die Herkunft der Flasche aus einem anderen Markt gut belegen konnte. Der zweite Polizeibeamte sagte, auch für ihn sei der Fall von Beginn an klar gewesen: Ein gut gebildeter Dieb habe sich vorbereitet und für den Fall seiner Anhaltung eine clevere Geschichte bereitgehalten, um einer Bestrafung zu entgehen. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. Der Gesetzgeber weiß um die Tücken der Wahrheitserforschung. Daher gilt der Rechtsgrundsatz: «In dubio pro reo.»