Text für die Fachzeitschrift Nova & Varia, Ausgabe 03/2022
In seinem Buch Mut zum Recht plädiert Oliver Scheiber für eine Modernisierung von Justiz und Recht. Für Nova et Varia greift er seine Sicht auf internationale Tendenzen im Recht heraus.
Die Häufung internationaler Krisen und zuletzt der Ukrainekrieg haben dem Völkerrecht nach vielen Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit in der juristischen und medialen Welt verschafft. Abgesehen vom Völkerrecht ist aber seit Jahrzehnten eine starke Entwicklung in Richtung einer Internationalisierung des Rechts zu beobachten, die mit Globalisierung, gestiegener Mobilität und der immer stärkeren Vernetzung der Gesellschaften einhergeht. Für Österreich kommt seit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 die große Bedeutung des Europarechts dazu.[1] In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, wie internationale Entwicklungen auch das österreichische Recht bestimmen und es wird der Versuch eines Ausblicks in die Zukunft unternommen. Die Grundannahme lautet, dass die internationale Determination des nationalen Rechts rasch weiter zunehmen wird.
Die Nürnberger Prozesse, in denen ab 1945 über die Führungsspitze des NS-Regimes zu Gericht gesessen wurde, sind markantes und frühes Beispiel dafür, wie das internationale Recht Maßstäbe auch für die nationalen Rechtsordnungen setzt.[2] Das betrifft einerseits Elemente des fairen Verfahrens, zum anderen Fragen wie jene der Kommunikation. Der hoch qualifizierte, enorm starke Übersetzungs- und Dolmetschdienst der Nürnberger Prozesse[3] hat bis heute die Maßstäbe für Gerichtsdolmetschungen gesetzt und war noch mitbestimmend bei der Erlassung der EU-Dolmetschrichtlinie[4] im Jahr 2010.
Waren die Nürnberger Prozesse noch sehr auf die Rechte der Angeklagten und die Garantie eines fairen Verfahrens für die Angeklagten fokussiert, so traten neben diesen Aspekt beim von 1993-2017 tätigen Internationalen Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) die Bemühungen um die Rechte der Opfer. Das Jugoslawien-Tribunal hat neue Maßstäbe im Bereich des Opferschutzes gesetzt.[5] Opfer von Straftaten wurden von einem eigenen Team betreut, die Opfer wurden psychologisch und juristisch durch die Verfahren begleitet. Auch hier folgte eine Übernahme und Weiterentwicklung der hohen Standards durch die Europäische Union, die zuerst mit einem Rahmenbeschluss und dann mit der Opferschutzrichtlinie[6] ein einheitliches Schutzniveau für Opfer von Straftaten in der EU festlegte. Der österreichische Gesetzgeber hat im internationalen Vergleich früh ein System psychosozialer und juristischer Prozessbegleitung für Opfer bestimmter Straftaten etabliert. Der Anwendungsbereich der Prozessbegleitung wurde in jüngerer Zeit vom Strafverfahren auf Zivilprozesse, die Opfer von Straftaten führen, ausgedehnt.
Das internationale Recht hat auch das so genannte Weltstrafrecht entwickelt, das es möglich machen soll, Strafverfahren wegen schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur im Land des Tatorts zu führen, sondern in jedem anderen Staat der Welt, ohne näheren Bezug zu den Taten. Das Weltstrafrecht könnte ein wesentliches Element für das weitere Zusammenwachsen der den Menschenrechten verpflichteten Staaten und der Solidarität der Weltgemeinschaft sein, hat aber bis heute wenig Bedeutung erlangt. Diese geringe Bedeutung geht auf viele Faktoren zurück, neben dem fehlenden politischen Willen auch auf mangelndes Wissen und die Vernachlässigung dieses Felds in Ausbildung und Praxis der Justiz. Dabei gäbe es herausragende Beispiele für das Funktionieren das Weltstrafrechts, etwa die vom spanischen Richter Garzon geführten Verfahren gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet. Garzon erließ 1998 einen internationalen Haftbefehl gegen den Exdiktator.
Für Österreich hervorzuheben sind die Bemühungen um die Verfolgung von Verdächtigen von Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen. Mit Beginn des Ukrainekriegs sind Stimmen laut geworden, die dort begangenen Verbrechen auch außerhalb der Ukraine (oder Russlands) strafrechtlich zu verfolgen.
In den nächsten Jahren wird die Internationalisierung des Rechts wohl im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen am deutlichsten werden. So wie der Klimawandel eine globale Katastrophe ist, die sich nur auf internationaler Ebene erfolgreich bekämpfen lässt, so sind auch Klimarechtsfragen naturgemäß international bestimmt. Anzunehmen ist, dass die wachsende Bedeutung des Klimarechts in Zukunft sowohl das internationale Recht als auch die nationalen Rechtsordnungen und Rechtsprechungen stark bestimmen wird. Das zeichnet sich schon heute ab, nicht nur bei Gericht, sondern auch an den Universitäten und bei Konferenzen. Die renommierte Frühjahrstagung der Österreichischen Juristenkommission etwa war 2022 ausschließlich dem Thema Klimarecht gewidmet,[7] an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz wurde vor kurzem ein Lehrstuhl für Klimarecht eingerichtet. Das ist naheliegend, denn die kommende Generation von Juristinnen und Juristen wird sich vielen Rechtsfragen in Verbindung mit Umwelt und Klima gegenüber sehen, die sich nur gut lösen lassen, wenn bereits in der juristischen Ausbildung ein Grundwissen über naturwissenschaftliche Fakten und über neuen Rechtsmaterien, etwa internationale Vereinbarungen zum Klimaschutz, vermittelt werden.
Am Beispiel der Bekämpfung der Umweltkriminalität lässt sich gut nachvollziehen, dass jedes Spezialgebiet Ressourcen und Wissen benötigt; das gilt für das Umwelt- genauso wie für das Klimarecht. Das Umweltstrafrecht etwa ist in Österreich wie den meisten anderen Staaten weitgehend totes Recht geblieben, weil im Vergleich zu anderen Deliktsgruppen Ressourcen und Know How, also spezialisierte Aus- und Fortbildungen, fehlen. Das ist besonders unbefriedigend, soll doch das Strafrecht die schwersten Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung, also insbesondere Bedrohungen von Leben und Gesundheit der Menschen, ahnden.[8] Umweltdelikte gefährden regelmäßig Leben und Gesundheit einer großen Zahl von Menschen, so dass die Strafrechtsordnungen und Justizsysteme eigentlich einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf diesen Bereich legen, ihr Personal entsprechend schulen und diesen Sektor mit entsprechenden Ressourcen ausstatten müssten. Das ist aber in kaum einem Land der Fall. Die Verbrechen, die in vielen Staaten der Welt durch illegale Rodungen, durch die Abholzung von Regenwäldern oder die Verseuchung von Grundwasser entstehen, bleiben so weitgehend ungesühnt. In Süditalien, in der Gegend von Neapel und Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmülldeponien angelegt. Haus- wie Sondermüll wurde und wird dort ungesichert ausgeschüttet. Sind die Deponien voll, werden sie mit Erde bedeckt und dienen als Gemüseplantagen. Die Folgen sind dramatisch: die Region hat heute die höchste Unfruchtbarkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfälle. Die Zahl der Tumorerkrankungen hat sich allein zwischen 2008 und 2012 mehr als verdreifacht, Ärzte berichten von einer regelrechten Epidemie von Schilddrüsenkrebs. Die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern steigt ungebremst an, die Lebenserwartung der Menschen der Region sinkt. Zu ernsthaften strafrechtlichen Maßnahmen kommt es praktisch nie. Ähnliches ließ sich in Ungarn beobachten: im westlichen Ungarn brach 2010 ein Deponiebecken der Aluminiumhütte MAL AG. Eine meterhohe ätzende Giftschlammflut wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben darin, 200 wurden verletzt. Der kontaminierte Schlamm verseuchte ein Gebiet in der Größe von 40 Quadratkilometern. Erst 2019 kam es im zweiten Rechtsgang zu erstinstanzlichen Urteilen mit einigen Schuldsprüchen.
Bemühungen, die Situation zu verbessern, sind nur in Ansätzen absehbar, wie etwa bei den Straf- und Zivilverfahren im Zusammenhang mit den Dieselmanipulationen von Autokonzernen. Doch Gesetze und Rechtsprechung sind in Bewegung. Anfang 2022 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zu den Lieferketten vorgelegt.[9] Es geht dabei darum sicherzustellen, dass in der Europäischen Union nur Produkte in den Handel kommen, die in ihrer gesamten Herstellungskette alle menschen- und umweltrechtlichen Standards erfüllen, auch wenn der Produktionsort außerhalb der Union oder außerhalb Europas liegt. Das Lieferkettenrecht wird in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen.
Das Klimarecht zählt bereits jetzt zu den dynamischsten Rechtsbereichen.[10] In Deutschland sind zwischenzeitig zahlreiche Urteile von Gerichten ergangen, in denen aus internationalen Klimaschutzvereinbarungen Fahrverbote oder Höchstgeschwindigkeiten für den Fahrzeugverkehr abgeleitet wurden. Solchen Entscheidungen liegen zumeist Klagen von Bürgerinnen und Bürgern zugrunde, die sich auf die Verletzung von Klimazielen aus internationalen Vereinbarungen berufen und anführen, dass ihre Gesundheit durch diese Nichteinhaltung von Klimazielen bzw durch das Fehlen von Klimaschutzmaßnahmen wie Fahrverboten (auch auf kommunaler oder regionaler Ebene) gefährdet sei.
Bei internationalen Gerichten sind Klimaklagen bereits ein starkes Thema. Spektakulär ist etwa die Klage von sechs portugiesischen Kindern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, die sich gegen 33 Staaten, darunter Österreich, wendet – nämlich gegen jene 33 europäischen Staaten, die derzeit die Ziele des Pariser Klimaschutzübereinkommens nicht erreichen.[11] Die Kläger führen aus, dass sie wegen der Nichterreichung des im Pariser Übereinkommen definierten Ziels der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius und in weiterer Folge der maßgeblichen Emissionsminderung in ihrem Recht auf Leben und auf Privatleben verletzt würden. Die Klimaerwärmung treffe besonders ihre Generation, der Klimawandel sei in ihrer Wohnregion verbunden mit einer zunehmenden Zahl von Waldbränden, Ausfällen in der Landwirtschaft, Allergien, Atemwegserkrankungen und Schulschließungen.
Die Kläger haben den EGMR im Hinblick auf die Dringlichkeit ihres Anliegens ersucht, ihnen nicht die Ausschöpfung aller Instanzen in den 33 Staaten aufzuerlegen, was ja an sich Voraussetzung für die Anrufung des Straßburger Gerichtshofs wäre. Der EGMR hat diesem Ersuchen stattgegeben und die Klage zugelassen. Nur ein Indiz für die Umwälzungen, die sich auch in der Rechtsprechung ankündigen und ein Beispiel, wie das Bewusstsein für Gefahren durch Eingriffe in Umwelt und Klima Rechtsprechung und Rechtsordnung verändern. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat die erste österreichische Klimaklage vor kurzem aus formellen Gründen zurückgewiesen,[12] was man angesichts der Bedeutung der hinter der Klage stehenden existenziellen Fragen mit guten Gründen kritisieren kann. Mittlerweile ist eine neue Klage anhängig und es ist anzunehmen, dass auch das österreichische Höchstgericht bald ähnlich dem EGMR neue Akzente setzen wird.
Internationale Trends werden künftig auch das Verfahrensrecht, also die konkreten Abläufe und das Setting von Zivil- und Strafverfahren stark mitbestimmen.[13] Das betrifft vor allem Fragen des Zugangs zum Recht. Eine bessere Verständlichkeit der gerichtlichen Kommunikation und ein Mehr an Informationen für die Verfahrensbeteiligten sind seit langem ein Anliegen des internationalen Rechts und des Europarechts. Das nationale Recht vollzieht hier in der Regel nach, was auf internationaler Ebene entwickelt und vorgegeben wird. Ein Beispiel dafür wäre die bessere rechtliche Stellung von Kindern vor Gericht. Es ist nicht lange her, dass ein Kind im familienrechtlichen Verfahren wie ein Objekt behandelt wurde; heute sind Kinder vor Gericht ganz selbstverständlich Rechtssubjekte, deren eigenem Wunsch in Obsorge- und Kontaktrechtsfragen zunehmend mehr Rechnung getragen wird. Die UN-Kinderrechtskonvention[14] oder die Leitlinien des Europarats für eine kindgerechte Justiz[15] werden auch für die österreichische Justiz zu den großen Herausforderungen der unmittelbaren Zukunft zählen. Dass für Österreich hier noch Nachholbedarf besteht hat die vom Justizministerium eingerichtete Kindeswohlkommission in ihrem Bericht im Jahr 2021 aufgezeigt.[16]
Die beschriebenen Entwicklungen sind für die kommende Generation von Juristinnen und Juristen eine Herausforderung, sie machen alle juristischen Berufe zugleich spannender und vielfältiger. Voraussetzung für erfolgreiche gesellschaftliche Prozesse wird sein, die Ausbildung an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten und die weiterführenden Ausbildungszeiten für Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte stärker neuen Entwicklungen und Gegebenheiten anzupassen. Gelingt das, dann haben Juristinnen und Juristen mehr denn je die Chance, zu einer Gesellschaft beizutragen, in der das Wohl der Menschen und der gleiche Zugang zum Recht das oberste Ziel sind.
Dr. Oliver Scheiber ist Richter und Publizist in Wien und Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der FHWien der WKW. Er ist Mitinitiator des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens und Vorstandsmitglied bei SOS Mitmensch und weiteren Menschenrechts-NGOs sowie Kunsteinrichtungen wie etwa der Alten Schmiede in Wien. Zuletzt erschienen: Mut zum Recht, 2. Aufl., falter-Verlag (2020).
[1] Zur Bedeutung der Zivilrechtsharmonisierung vgl etwa Scheiber, Zahlungsverzug-Richtlinie und Zivilrechtsharmonisierung, Saarbrücker Verlag für Rechtswissenschaften (2015).
[2] Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945. Piper Verlag (2015);
Weinke, Die Nürnberger Prozesse, 3. Aufl., C.H. Beck (2019); besonders bemerkenswert waren die Reden der Hauptankläger, näher dazu: Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg), Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger. Europäische Verlagsanstalt (2015).
[3] Herz, Ein Prozess – vier Sprachen, Peter Lang Verlag (2011).
[4] Diese Richtlinie – Richtlinie 2010/64/EU – war der erste Rechtsakt der Europäischen Union, den die Union anhand ihrer neu erlangten Kompetenz für Strafrechtsfragen erlassen hat: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2010:280:0001:0007:de:PDF#:~:text=(1)%20Diese%20Richtlinie%20regelt%20das,Voll%20streckung%20eines%20Europ%C3%A4ischen%20Haftbefehls (Stand4.6.2022).
[5] Näher dazu: Heinisch, Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. Berlin (2007).
[6] Richtlinie 2012/29/EU, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32012L0029&from=de (Stand: 4.6.2022).
[7] https://juristenkommission.at/events/fr%C3%BChjahrstagung-2022 (Stand: 4.6.2022).
[8] Zum gesellschaftlichen Auftrag des Strafrechts näher Scheiber, Mut zum Recht, 2. Aufl., falter-Verlag (2020), 118ff.
[9] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1145 (Stand: 4.6.2022).
[10] Klage, Urteil, Klimaschutz! Beitrag des ZDF vom 29.8.2021, https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-klage-urteil-klimaschutz-100.html (Stand: 4.6.2022).
[11] Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Other States, http://climatecasechart.com/non-us-case/youth-for-climate-justice-v-austria-et-al/ (Stand: 4.6.2022).
[12] VfGH-Beschluss G 144/2020 vom 30. September 2020.
[13] Zum Erfordernis einer neuen Kommunikation vor Gericht ausführlicher in Scheiber, Mut zum Recht, 2.Aufl., falter-Verlag (2020), 161ff.
[14] https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention
[15] https://rm.coe.int/16806ad0c3 (Stand: 4.6.2022).
[16] file:///Users/oliverscheiber/Downloads/Bericht%20der%20Kindeswohlkommission_13.%20Juli%202021%20(Langfassung).pdf (Stand: 4.6.2022).