Ein Land in Geiselhaft

Text für den falter.at – 24.8.2022

Politisch bestellte Karrieristen am Ruder, die Beamtenschaft in der inneren Emigration und eine zusehends resignierte Zivilgesellschaft: Um Österreich ist es nicht gut bestellt. Was es nun zu tun gilt – ein Gastkommentar.

OLIVER SCHEIBER
24.08.2022

Illustration: Schorsch Feierfeil

Ende Juli schied die Allgemeinmedizinerin Lisa-Maria Kellermayr aus dem Leben. Die oberösterreichische Ärztin hatte sich mit viel Energie dem Kampf gegen Corona gewidmet. Sie wurde zum Opfer einer Hasskampagne radikaler Coronaleugner, die die Ärztin mit Drohungen und Hassnachrichten in den Tod trieben. Die Ärztin hatte sich mehrfach an die Medien gewandt. Die Unterstützung von öffentlichen Stellen war unzureichend, eine ernsthafte Strafverfolgung fand zu Lebzeiten Kellermayrs nicht statt.

Die Tage nach dem Tod Lisa-Maria Kellermayrs waren von einer eigentümlichen Stimmung gekennzeichnet, die symptomatisch für die Lage von Politik und Gesellschaft ist. Der Tod der Ärztin berührte viele Menschen. Gleichzeitig blieb die Polarisierung bestehen, die Hasswelle rollte weiter durch die sozialen Medien. Während der Fall Eingang in ausländische Medien fand, sich deutsche Regierungspolitiker äußerten, schwieg die österreichische Regierungsspitze über viele Tage, ebenso wie der oberösterreichische Landeshauptmann und die Behörden, die der Ärztin Geltungssucht unterstellt hatten. Sie waren sprachlos im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie über gar keine Sprache verfügen, die einer solchen Situation gerecht wird. Große Kundgebungen fanden statt, allerdings nicht initiiert von Ärztekammer oder der Gewerkschaft, sondern auf Initiative der Einzelperson Daniel Landau. Er hatte auf Social Media zu den Kundgebungen aufgerufen.

Erfolgreiche Staaten und starke Gesellschaften bauen in der Regel auf mehrere Pfeiler auf. Politik, Medien, Verwaltung, Wissenschaft, Unternehmen und Zivilgesellschaft spielen im besten Fall zusammen. Sind eine oder zwei dieser gesellschaftlichen Säulen vorübergehend schwächer, so schadet es nicht, wenn die anderen Sektoren stark sind und das ausgleichen. Ein solcher Ausgleich findet in Österreich seit Jahren nicht mehr statt. Zahlreiche wichtige Felder der Gesellschaft sind in einer schweren strukturellen Krise. Das Land scheint wie gelähmt, trotz des Potentials, das unter der Oberfläche schlummert, das oft spürbar ist und den Wohlstand vieler noch erhalten konnte.

Am sichtbarsten ist die Krise der Politik, manifest im häufigen personellen Wechsel in Bundeskanzleramt und Gesundheitsministerium. Auch nach dem Sturz des Populisten Sebastian Kurz orientieren sich nahezu alle maßgeblichen Kräfte an wöchentlichen Umfragen. Die Konzentration der Politik gilt der Produktion täglicher Instagram-Bilder oder Tik-Tok-Filmchen. Was zu Anfang des Jahres an dieser Stelle (Falter 4/22) festgestellt wurde, gilt unverändert: Markante Reden hielt in den letzten Jahren lediglich der Bundespräsident; aus der Regierung kommt seit fünf Jahren – die Beamtenregierung Bierlein/Jabloner ausgenommen – keine einzige Rede, die über die Stunde hinaus (positiv) in Erinnerung bleibt. Es gibt keinen Bundes- oder Landespolitiker, der eine Vision des Landes oder eine größere Idee der Zukunft artikuliert, niemanden, der die Jugend erreichen, geschweige denn ermutigen oder mitreißen könnte. Mit Bierzeltwitzen und provinziell sozialisierten Beratern lässt sich kein Land aus der Krise führen.

Die Verwaltung wiederum ist durch die jahrelange parteipolitische Besetzung von Spitzenposten mit unzureichend qualifiziertem und überfordertem Personal dysfunktional geworden, im Gesundheits- und Sicherheitsbereich besonders sichtbar. Nicht erst im Fall Kellermayr, bereits beim BVT oder vor dem Terroranschlag von Wien haben die Behörden versagt. Die Schwächen des Sicherheitsapparats sind Ergebnis eines ausgeuferten Nepotismus. Im Bereich der Sicherheitsverwaltung hat man – es wäre eine nette Anekdote, würde es nicht mittlerweile die Sicherheit des Landes gefährden – ein System von Hochschullehrgängen aufgezogen, die jedem universitären Standard spotten und nur dazu dienen, Parteisoldaten auf möglichst einfache Weise zu Diplomen zu verhelfen, die die formalen Voraussetzungen für hohe Verwaltungsposten liefern.

Hoch qualifizierte erfahrene Beamtinnen und Beamte haben bei Bewerbungen das Nachsehen, bzw bewerben sich gar nicht mehr, weil die Posten vorab verteilt sind. Der Organisationsexperte Wolfgang Gratz hat in einer brillanten Lageschreibung (Wiener Zeitung vom 17.7.2022) auf die gewaltige Dimension der Versorgungsposten hingewiesen – mittlerweile arbeiten in Ministerkabinetten rund 340 Personen und beschneiden, so Gratz, die Karrierechancen der anderen öffentlich Bediensteten, die das reguläre Ausbildungs- und Prüfungssystem des öffentlichen Diensts durchlaufen haben. Die Zahl der gegen ehemalige Regierungsmitglieder und hohe Beamte laufenden strafrechtlichen Ermittlungen hat aktuell eine für Österreich beispiellose Zahl erreicht.

Nahezu wöchentlich fliegen neue Skandale auf. Der jüngst berichtete Fall der Cofag (Falter 32/22) dokumentiert, wie staatliche Aufgaben an der Verwaltung vorbei erledigt werden. Die Regierung errichtet Gesellschaften, in denen parteinahe Personen zu obszönen Gehältern Aufgaben erledigen, die von der Beamtenschaft nach dem strengen Regulativ des öffentlichen Diensts zu vollziehen wären. Millionen werden an Beratungsfirmen ausgeschüttet, diese beantworten Fragen, für deren Lösung ohnedies spezialisierte staatliche Stellen wie Legislativabteilungen oder Finanzprokuratur bestünden. Die Politik lässt die Verwaltung verkommen und nimmt das dann als Grund für die Beauftragung parteinaher privater Auftraggeber. Am Ende werden Milliarden über schwer nachvollziehbare, intransparente Konstruktionen ausgeschüttet, bei denen allein die Form ihrer Errichtung und personellen Besetzung den Geruch der Korruption in sich trägt. Diese Zustände haben zu einer breiten Demotivation der Beamtenschaft geführt, die dem oft abstrusen Treiben von Politik und Verwaltungsspitze innerlich emigriert zusieht. Das Beamtenethos, einst wesentlicher Faktor für die hohe Qualität der Bundesverwaltung, wurde von der Politik zerstört.

Die Medien wiederum haben zu den autoritären Entwicklungen unter Sebastian Kurz maßgeblich beigetragen. Die Medienförderung im Wege willkürlicher Geldverteilung durch Inserate öffentlicher Stellen hat viele Medien zahm gemacht, Chefredakteure lassen eine gesunde Distanz zur Politik vermissen. Die hauptbetroffenen Medien haben es nach dem Abgang von Kurz als Kanzler versäumt, reinen Tisch zu machen und die Verhaberung von Chefredaktionen mit der Politik zu lösen. Mit dem politiknahen Führungspersonal macht man auch hier weiter wie bisher. Der parteipolitische Einfluss schwächt in ähnlicher Weise viele weitere Bereiche. Thomas König hat es kürzlich für den Universitätssektor näher beschrieben (Der Standard vom 19.7.2022).

Ob Politik oder Verwaltung, der Trend geht nach unten. Wichtige internationale Evaluierungssysteme, die den Standard der Pressefreiheit, der Korruptionsbekämpfung oder der Demokratiequalität messen, sprechen eine klare Sprache. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht. Jetzt schon schielen alle nach möglichen Koalitionsvarianten nach der nächsten Wahl, Inhalte und Programm sind da nicht nötig. Österreich ist in Geiselhaft einer Gruppe von einigen hundert Menschen, die sich den Staat aufteilen, die Spitzenposten in Verwaltung und staatsnahen Unternehmen, in Vorständen und Aufsichtsräten untereinander vergeben und das eigene Fortkommen und das Fortkommen ihrer Partei im Sinn haben, aber in keinem Moment das Wohl des Landes oder der Bevölkerung.

Die Zivilgesellschaft hat in Österreich in vielen Krisen die entscheidende, positive Rolle eingenommen. Nun scheint aber auch sie erschöpft vom jahrzehntelangen Kampf gegen Populismus und Fremdenfeindlichkeit. Mit wem man auch spricht, Resignation hat sich breitgemacht. Der Glaube an Reformen ist angesichts des überforderten, oft unqualifizierten Personals in Entscheidungsfunktionen in der Politik und in den Spitzenposten der Verwaltung verloren gegangen. Die österreichische Obrigkeitshörigkeit und eine verbreitete Feigheit tun das Übrige. Gerade in der labilen politischen Situation, in der sich monatlich alles ändern kann, lehnen sich viele lieber zurück und warten ab, statt sich für ihre Überzeugung oder eine Idee einzusetzen. Diese Lähmung besteht nun seit Jahren.

So sind in allen Bereichen einzelne Personen wie Leuchttürme verblieben, an denen sich Hoffnungen festmachen. Wer immer im Menschenrechtsbereich ein Anliegen an das Parlament hat, wendet sich seit Jahren an die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper. Ähnlich in der Zivilgesellschaft. Zwei große Kundgebungsserien mit (zig)tausenden Menschen gab es dieses Jahr, beide zentral dirigiert von der Einzelperson Daniel Landau unter dem Motto #yeswecare. Menschen wie Krisper und Landau sind herausragend und bemerkenswert und ihre Vorbildfunktion ist von unschätzbarem Wert, weil sie anderen Mut machen. Zugleich ist es ein Krankheitssymptom einer Gesellschaft, wenn Institutionen einbrechen und nur mehr einige wenige Einzelpersonen zur kraftvollen Aktion fähig sind.

Aus dieser breiten Krise wird es nicht so schnell einen Ausweg geben. Die wichtigen Regierungsprojekte wie Antikorruptionspaket, Transparenz für die Verwaltung oder Medienförderungsreform kommen nicht vom Fleck. Mit der offenkundigen Klimakatastrophe und den Folgen des Ukrainekriegs sind neue Herausforderungen entstanden, die für die aktuell Regierenden zu groß sind. Die an dieser Stelle (Falter 4/22) vorgeschlagenen Reformen, von Parlament bis Medien, zeichnen sich nicht ab. Im Gegenteil: die Coronapolitik zeigt die Selbstaufgabe von Regierung und Gesellschaft. Die Impfpflicht wurde eingeführt und gleich wieder abgeschafft, die zentrale Vorsichtsmaßnahme des Maskentragens aufgegeben, nach drei Jahren schaffen Politik und Verwaltung nicht einmal die Beschaffung von Luftfilteranlagen für die Schulen.

Österreich hat den letzten großen Modernisierungsschub und Aufbruch mit dem EU-Beitritt 1995 erfahren. Nun, bald dreißig Jahre später, warten alle auf einen neuen solchen Aufbruch – die meisten aktuellen Akteurinnen und Akteure in Spitzenpolitik und gehobener Verwaltung werden ihn nicht stemmen können.

Hoffnungslos? Nicht unbedingt. Die große Trauer nach dem Tod des Künstlers Willi Resetarits, die Anteilnahme am Ableben Lisa-Maria Kellermayrs zeigen die Sehnsucht nach integren Menschen, nach Engagement, Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Es wird Zeit, dass wir von neuen Ideen überrascht werden. Wann wenn nicht jetzt sollen unkonventionelle Projekte Erfolg haben. Etwa ein Zusammenschluss der jüngeren Abgeordneten aller Parteien zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Reformprogramms für die großen Fragen Klima, Energie, Bildung; oder gleich als Wahlbündnis für die kommende Wahl, als einmalige Aktion, um die starren Strukturen aufzubrechen. Die Klimafrage sollte die Jugend verbinden, nachdem die letzten Generationen versagt haben. Und ist die große Politikverdrossenheit nicht gleichsam eine Aufforderung an zivilgesellschaftliche Gruppen, sich zu einem einmaligen Wahlbündnis zusammentun, um die große Leere in der politischen Mitte zu füllen, um viele potentielle Nichtwählerinnen und Nichtwähler doch zur Wahl zu bringen und eine Alternative zur umfragegeleiteten Politik vorzuleben? Die Bevölkerung kann zu Recht erwarten, dass sich auch in Verwaltung und Medien all jene zusammenschließen, die sich zurückgezogen haben, die aber in sich den Wunsch und die Leidenschaft tragen, ihren Beruf zum Besten von Land und Gesellschaft auszuüben. Zuletzt wurden leidenschaftliche, initiative Menschen wie Lisa-Maria Kellermayr, die etwas bewegen und verändern wollten, auch von Behörden zu Narren gestempelt. Möge der Tod Lisa-Maria Kellermayrs bewirken, dass wir innehalten und den Neubeginn angehen. Man muss das Rad nicht neu erfinden – mit Österreich vergleichbare Länder wie Finnland zeigen in Politik und Verwaltung vor, wie es gehen kann. Fangen wir an.

***

Oliver Scheiber ist Jurist und einer der Proponenten des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens.

Beiträge per Email abonnieren