Kommentar für den Standard vom 18.3.2022
Untersuchungshaft für Prominente sorgt für Aufsehen, für Arme und Schwache scheinen wir sie zu akzeptieren. Das ist ein Missstand
Wir sollten über die Haft reden und auch Alternativen entwickeln, sagt Richter Oliver Scheiber im Gastkommentar.
Fabian Schmids Anstoß einer Diskussion über die Härte von Inhaftierungen (siehe „U-Haft für Karmasin: Zu streng, aber kein Einzelfall“) ist wichtig. Zu selten wird in Österreich Haft hinterfragt, es sei denn, Prominente sind betroffen. Die Verhängung der Untersuchungshaft über ein früheres Regierungsmitglied, wie im Fall Karmasin, erregt schon deshalb Aufsehen, weil das bisher so gut wie nie vorkam.
Eine Gesamtbetrachtung ergibt, dass Österreich im internationalen Vergleich bei einer sehr niedrigen Kriminalität hohe Häftlingszahlen hat. Die Justizanstalten haben wenig Ressourcen, die Haft hat bei den meisten Insassen wohl mehr negative als positive Wirkungen. Das kann nicht anders sein, wenn man auf wenig Platz sehr viele Menschen mit schweren Problemen ohne intensive Betreuung und mit wenig Beschäftigung zusammensperrt. Die Schwierigkeiten werden in diesem Umfeld tendenziell mehr, nicht weniger.
Gefängnis an sich bedeutet eine Härte, derer sich viele Menschen nicht bewusst sind. Auf einmal ist zum Beispiel das Handy auf Wochen, Monate oder Jahre weg. Die sozialen Verbindungen, die heute so stark über das Netz laufen, sind abgeschnitten – es gibt keine Möglichkeit mehr, mit Partnern, Kindern, Bekannten und Freunden über Facebook oder Instagram mitzuleben, keine Möglichkeit, zu chatten, zu surfen und sich im Netz zu bilden oder fortzubilden. In den verbreiteten Mehrpersonenzellen gibt es keine Privatsphäre und kein Alleinseinkönnen. Das Eingesperrtsein an sich ist schwer zu ertragen, wer das Fallen schwerer Eisentüren ins Schloss einmal gehört hat, vergisst es nie mehr, so bedrückend ist es.
Oft falsche Maßnahme
Blickt man auf die Häftlingspopulation in Österreichs Gefängnissen, so besteht für rund ein Drittel der Insassen derzeit noch keine gute Alternative zur Haft, wenn es darum geht, die Gesellschaft zu schützen. Bei etwa einem weiteren Drittel der Häftlinge findet man Argumente für und wider die Haft. Für ein weiteres Drittel, da stimmen viele in Wissenschaft und Praxis überein, ist sie offenkundig eine falsche Maßnahme. Ein gutes Beispiel für diese letzte Gruppe sind die in Deutschland in großer Zahl in Haft einsitzenden Schwarzfahrer.
In Deutschland wird, anders als in Österreich, Schwarzfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln als strafbares Delikt qualifiziert. Können erwischte Schwarzfahrer die Geldstrafe nicht bezahlen, sitzen diese Menschen dann wochen- oder monatelang in Ersatzhaft. Manche Städte wie Berlin kennen Haftanstalten, in denen hunderte Schwarzfahrer angehalten werden. Die individuelle und gesellschaftliche Sinnlosigkeit und Unverhältnismäßigkeit dieser Vorgangsweise bei einer Tat mit einem Schadensbetrag von zwei oder drei Euro ist evident. Ähnliche Deliktgruppen gibt es auch in anderen Staaten. Die harte Bestrafung der Schwarzfahrer ist nichts anderes als eine Demütigung von Vermögenslosen und eine Stigmatisierung der sozial schwächsten Schicht der Gesellschaft. Denn nur der völlig Vermögenslose und Hilflose nimmt für den Schadensbetrag von wenigen Euro mehrere Monate Ersatzfreiheitsstrafe in Kauf.
Das zeigt: Eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit und den Zweck von Gefängnissen, über hohe Haftzahlen und Alternativen zur Haft wäre wichtig. Die Diskussion sollte jedoch von prominenten Anlassfällen losgelöst werden. Am Beispiel Untersuchungshaft: In Österreich wird sie jeden Tag in vielen Fällen verhängt, es geht etwa um Verfahren, in denen jemand im Verdacht steht, einen Einbruch oder eine schwere Körperverletzung begangen oder mit Drogen gehandelt zu haben. Im Feld der schwersten Wirtschaftskriminalität und Korruption wird Untersuchungshaft dagegen nur ganz selten verhängt. Ob man das gut oder weniger gut begründet findet, das Faktum bleibt: Wirtschaftsverbrecher und die der Korruption Verdächtigten haben eine viel geringere Wahrscheinlichkeit, in Untersuchungshaft zu kommen, als die Verdächtigen anderer schwerer Straftaten.
Noch anschaulicher: Mit 1. März 2022 waren in Österreich 1650 Personen in Untersuchungshaft. Nicht nur für prominente U-Häftlinge, sondern für jede einzelne dieser 1650 Personen gilt: Sie leiden unter der Haft. Bei allen 1650 Menschen gerät das Familienleben aus den Fugen, Beziehungen zerbrechen, Kinder werden in der Schule gehänselt. Untersuchungshäftlinge, die einen Job haben, verlieren ihn meistens, wer keinen Job hatte, der hat bei der Arbeitssuche nach der Haft noch geringere Chancen. Egal ob Untersuchungshaft oder Haft als Strafe nach dem Urteil: Wir sollten die Haft stärker hinterfragen und mehr Alternativen entwickeln. Haft ist teuer und einer guten Einbettung in die Gesellschaft selten förderlich.
Ort der Schwachen?
Wir tun uns gefühlsmäßig offenbar schwerer, Menschen in Haft zu sehen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen kommen wie wir selbst. Doch wenn wir die Frage von Haft und Gefängnis nur bei Prominenten diskutieren, dann bedeutet das nichts anderes, als dass wir das Gefängnis für die Armen und Schwachen als guten Platz ansehen, aber als falschen Platz für Prominente, Reiche und Mächtige. Das Gefängnis als Ort der Schwachen mag die gesellschaftliche Praxis sein, es ist aber nicht das, was in der Verfassung und in den Gesetzen steht. Ein ähnlicher Mechanismus wirkt im Umgang mit Flüchtlingen: Auch hier entsteht mehr Empathie und Erschrecken angesichts der Flüchtlinge, die ähnlich wie wir leben und uns im Aussehen ähnlich sind, sehr viel weniger Empathie für Flüchtlinge anderer Hautfarbe, die in Schlauchbooten über das Meer kommen.
„La legge è uguale per tutti“ – „Das Gesetz ist für alle gleich“ oder, anders gesagt, „vor dem Recht sind alle gleich“ –, diese Schriftzeile ist in jedem Gerichtssaal Italiens angebracht. Der Grundsatz gilt in allen demokratischen Rechtsstaaten. Er gilt für alle Bereiche, auch für Fragen der Haft.
Das Gefängnis hat nicht Ort der Armen und Schwachen zu sein, sondern derer, die in schwerer Weise gegen das Gesetz verstoßen haben. Das ist der Anspruch, und an diesem Anspruch müssen wir, Justiz und Gesellschaft, arbeiten. Es geht darum, die Praxis des Rechtslebens an die Verfassung anzupassen, nicht die Verfassung an eine Praxis der Ungleichheit.
(Oliver Scheiber, 18.3.2022)