Laudatio anlässlich der Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst an Arno Pilgram, gehalten am 3.11.2021 im Justizministerium in Wien
Sehr geehrte Frau Bundesministerin!
Lieber Arno Pilgram!
Sehr geehrte Festgäste!
Wir sind heute hier in großem Kreis zusammengekommen, um eine außergewöhnliche Persönlichkeit und ihre Leistungen zu ehren. In Zeiten der Pandemie ist eine solche Zusammenkunft keine Selbstverständlichkeit und es ist schön, dass das heute möglich ist.
Die Pandemie hat uns gelehrt, wie wichtig es ist, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Gesellschaft zu tragen. Ganz ohne den Rahmen einer Pandemie ist es Arno Pilgram schon vor vielen Jahren gelungen, Forschungsergebnisse in die Gesellschaft, vor allem auch in die Praxis von Justiz, Polizei und Verwaltung einzubringen. Schon in den 1970er- und 1980er-Jahren ist Arno Pilgram zu der starken Stimme der Rechts- und Kriminalsoziologie in Österreich geworden; man hat nicht nur Arno Pilgram mit der Rechts- und Kriminalsoziologie verbunden, sondern umgekehrt immer auch die Rechts- und Kriminalsoziologie mit dem Namen Arno Pilgram assoziiert.
Die Rechts- und Kriminalsoziologie war in Österreich historisch viel weniger an Universitäten und im Bewusstsein von Justiz und Polizei verankert als etwa im benachbarten Deutschland. Dass wir in den letzten Jahrzehnten viel aufholen konnten ist zu einem guten Teil auch das Verdienst Arno Pilgrams; nicht nur seiner Forschung, sondern eben auch seines unermüdlichen Bemühens, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Rechtspraxis und Verwaltung, der Politik und Öffentlichkeit zu erklären – in Fachbeiträgen, in Zeitungskommentaren, in Interviews, in Initiativen und in unzähligen interdisziplinären Seminaren und Veranstaltungen.
Kriminalsoziologie beschäftigt sich mit Gesetzesverstößen und Verbrechen, letztlich also mit Unglück. Die kriminalsoziologische Arbeit Arno Pilgrams ist geprägt von der Einsicht, dass Kriminalität in weiten Bereichen nicht nur Unglück für die Opfer bedeutet, sondern regelmäßig aus unglücklichen Rahmenbedingungen in der Sphäre der Täter geboren ist. Daraus ergibt sich das Bestreben, die Verhältnisse so zu verändern, dass Kriminalität so weit wie nur möglich vermieden werden kann.
Das Ehrenkreuz, das heute verliehen wird, würdigt in erster Linie die wissenschaftlichen Leistungen Arno Pilgrams. Sie sind dokumentiert und objektiviert, die lange Publikationsliste zeichnet ein Bild von der Intensität und Breite der Forschungsarbeiten und legt auch Zeugnis einer ganz markanten Eigenschaft Arno Pilgrams: seiner Teamfähigkeit, seinem Interesse am Zusammenarbeiten, seiner Neugierde an anderen Menschen und benachbarten Disziplinen – denn ganz viele Werke sind in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen entstanden.
Die Publikationen zeigen auch die Breite des wissenschaftlichen Arbeitsfelds: zwar liegt ein Schwerpunkt in der Kriminalsoziologie mit Themen wie Prävention, Drogenpolitik und Sanktionen. Die wissenschaftliche Beschäftigung umfasst aber sehr weite soziologische Felder und hat unter anderem einen Fokus auf dem gesellschaftlich wichtigen Bereich des Erwachsenenschutzrechts, also der früheren Sachwalterschaft.
Lange vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union hat Arno Pilgram seine wissenschaftliche Laufbahn im Ausland begonnen, indem er sich 1982 in Frankfurt am Main im Fach Soziologie mit dem Schwerpunkt Rechts- und Kriminalsoziologie habilitierte. Dieser Schritt nach außen war damals noch lange nicht so selbstverständlich wie heute, er wird aber wohl prägend gewesen sein und den Blick auf das große Ganze miterklären, der das Werk und die Person Arno Pilgram kennzeichnet.
Die Wissenschaft ist für Arno Pilgram freilich nie Selbstzweck, sondern immer Mittel, gesellschaftliche Verbesserungen herbeizuführen. Und dieses Ziel, die Wissenschaft für Politik, Verwaltung Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist in Österreich wenigen Wissenschaftlern in einer solchen Breite und Dichte gelungen wie Arno Pilgram. Ich möchte das, weil es so markant ist, im Folgenden etwas ausführen:
Für die Polizeiarbeit und für die Strafjustiz ist die Verfügbarkeit von Datenmaterial ganz zentral. Will man Polizeiarbeit, Polizeistrategie, Strafrechtspolitik und Strafvollzug steuern und Kriminalität senken, dann muss man zunächst wissen, wieviel Kriminalität es gibt, wer kriminell wird, wie Sanktionen wirken, wie hoch Rückfallsraten sind, welche regionalen Unterschiede es bei Anzeigen, Strafen, Rückfällen gibt. Kriminalstatistik, Sicherheitsbericht, Rückfallsstatistik sind die Stichworte zu diesem Bereich. Arno Pilgram ist zum Synonym des Wissens in diesem Sektor in Österreich geworden. Er hat sich wie kein anderer um die Verbesserung von Datengrundlagen für die öffentliche Sicherheitsverwaltung verdient gemacht und sein Wissen laufend Polizei und Justiz zur Verfügung gestellt. Wo immer es in Diskussionen in Justiz oder Polizei um Zahlenmaterial zur Kriminalität oder zum Verständnis von Sicherheitsdaten geht, fällt bald der Satz: „Arno Pilgram fragen.“
Und so lassen sich ganz viele Verbesserungen des Datenmaterials in Sicherheitsfragen, aber auch inhaltliche Verbesserungen im System Polizei und Justiz auf Anregungen und Initiativen Arno Pilgrams zurückführen. Selbstkritisch muss man sagen: hätte man noch mehr auf Arno Pilgram gehört, dann hätten wir heute im Justizbereich einige Probleme weniger, die uns sehr belasten. Bereits im zentralen Werk „Der andere Sicherheitsbericht“ im Jahr 1991 zeigt Arno Pilgram mit Gerhard Hanak Wege zu einer anderen Strafrechtspolitik auf. Die Herausarbeitung regionaler Unterschiede in der Strafverfolgung hätte die Tür zum Abbau des Phänomens des Ost-West-Gefälles in der Strafpraxis österreichischer Gerichte aufgemacht. Eine mutigere und wissenschaftsorientiertere Strafrechtspolitik, die sich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Daten Arno Pilgrams ausgerichtet hätte, hätte uns die hohen Häftlingszahlen in österreichischen Justizanstalten erspart, die wir nun seit Jahrzehnten verwalten.
Aber wir wollen heute den Fokus auf das Positive richten, und da ist das Engagement von Arno Pilgram für alternative strafrechtliche Modelle wie den Tatausgleich hervorzuheben, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten erfolgreich in die österreichische Strafgerichtsbarkeit implementiert wurden.
Der Name Arno Pilgram ist nicht nur mit Inhalten verbunden, sondern auch mit Institutionen. Zunächst mit dem Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, das Arno Pilgram 1973 unter dem Namen Institut für Kriminalsoziologie mitbegründet hat, das er mit und nach Heinz Steinert geprägt und einige Jahre lang geleitet hat und dem er bis heute angehört. Als Mitorganisator des Heinz Steinert Symposiums hat Arno Pilgram im April dieses Jahres seinen großen Weggefährten gewürdigt und in der Begrüßung zugleich die interessanten Anfangsjahre des Instituts nachgezeichnet.
Nach vier Jahrzehnten der Unabhängigkeit wurde das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie im März dieses Jahres in die Universität Innsbruck eingegliedert. Als sich diese Eingliederung angebahnt hat und ich auf Grund meiner Funktion im Institut dafür mitverantwortlich war, war es für mich eine Schlüsselfrage, wie Arno Pilgram zu diesem Einschnitt in der Geschichte dieses, seines Instituts stehen würde.
Es war erleichternd und ermutigend, dass Arno Pilgram die Eingliederung mit Offenheit und Zuversicht unterstützt und die Chance auf einen dauernden Bestand der Forschungseinheit und auf eine Stärkung der Rechts- und Kriminalsoziologie innerhalb der österreichischen Universitätenlandschaft gesehen hat. Dank gilt an dieser Stelle auch der Universität Innsbruck, dem Wissenschafts- und Justizministerium, die die neue Lösung vorangetrieben und ermöglicht haben.
Der Name Arno Pilgram ist aber nicht nur mit dem Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie verbunden. Seit Jahrzehnten ist Arno Pilgram in Vorstand und Aufsichtsrat für den Verein Neustart aktiv, der im Laufe der Zeit zum ehemaligen Kernbereich Bewährungshilfe eine Vielzahl weiterer Aufgaben übernommen hat. Die enge Verbindung macht es möglich, Veränderungen in der Arbeit von Neustart wissenschaftlich zu analysieren, bzw umgekehrt, wissenschaftliche Erkenntnisse rasch in die Praxis von Bewährungshilfe oder in die so genannte Diversionsarbeit einzuspeisen. Es ist gleichsam der gelebte gesellschaftliche Auftrag der Wissenschaft.
Ebenso präsent war und ist Arno Pilgram in der Aus- und Fortbildung bei Polizei und Justiz. Auch die universitäre Lehre, schwerpunktmäßig an der Universität Wien, soll erwähnt werden.
Es zeichnet starke Persönlichkeiten aus, dass sie ihr Wissen weitergeben, dass sie es nicht monopolisieren, und dass sie der nachfolgenden Generation Raum lassen. All dies gelingt Arno Pilgram in beispielgebender Art und Weise. Dem Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie dient er immer noch als fachliches und persönliches Sicherheitsnetz, ohne zugleich die neuen Leitungspersonen an ihrer Entfaltung zu behindern.
Die lange Zugehörigkeit und Verbundenheit zu Institutionen weist auf wichtige persönliche Eigenschaften Arno Pilgrams hin: auf Loyalität, Verlässlichkeit, Konstanz und Treue. Ein Bild seiner Persönlichkeit wäre aber unvollständig ohne Hinweis auf das gesellschaftspolitische Engagement. Denn Arno Pilgram hat sein Wissen nicht nur institutionell in verschiedensten Foren eingebracht, er hat allein, aber vor allem gemeinsam mit anderen gewichtigen Stimmen immer wieder rechtspolitische Vorschläge in die öffentliche Diskussion eingeworfen. Aus der jüngeren Zeit ist da vor allem die Kriminalpolitische Initiative zu erwähnen, die wiederholt mit ganz konkreten Gesetzesvorschlägen an die Öffentlichkeit getreten ist.
Seine gesellschaftspolitischen Initiativen verfolgt Arno Pilgram immer mit größtem Engagement, aber zugleich nie mit unangemessenem Eifer, sondern immer in aller Ruhe und unter Hinweis auf Daten und Fakten. Das macht die Positionen unangreifbar.
Das heute zu verleihende Ehrenkreuz ehrt also eine herausragende wissenschaftliche Leistung. Es ehrt aber auch die herausragende Persönlichkeit Arno Pilgram, die wie eine Marke für Integrität und Unbeugsamkeit steht, für wissenschaftliches Engagement im Dienst von Mensch und Gesellschaft.
Lieber Arno, zwischen uns liegt kein allzu großer Altersunterschied – aber er war groß genug, dass ich Dich als junger Mensch in Radio- und Zeitungsinterviews hören und lesen konnte. Der damals entstandene Respekt lässt mir das in den letzten Jahren zwischen uns übliche „Du“ manchmal immer noch schwer über die Lippen kommen.
Dass ich heute diese Rede halten darf, ehrt mich. Ich freue mich, dass der Bundespräsident Dir das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen hat, gratuliere Dir dazu aus ganzem Herzen und wünsche Dir und Deiner Familie weiterhin alles Gute.