„Wir sind so nicht“ – das waren die Worte des Bundespräsidenten nach Auftauchen des Ibiza-Videos im Mai 2019. Aber stimmen diese Worte uneingeschränkt? Ist Österreich die stabile Demokratie, der stabile Rechtsstaat, wie es lange unbestritten war?
Bei anderen Staaten haben wir einen kritischen Blick. Die Türkei, Polen und Ungarn waren in den letzten Jahren oft Thema juristischer Tagungen in Österreich. Besprochen wurde der Abbau von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit, die Anfänge solcher Prozesse und die Dammbrüche hin zu autoritären Regierungsformen. Nicht selten nahmen auch Gäste aus diesen Ländern an Diskussionen teil. Ihre Botschaft war meist: seid achtsam – es beginnt schleichend, autoritäre Umbrüche vollziehen sich schrittweise.
Am Beispiel Ungarns kann man das gut nachzeichnen. Ministerpräsident Orban war einst als liberaler Hoffnungsträger angetreten. Bald gab es Korruptionsvorwürfe, Orban erkannte Medien und Justiz frühzeitig als potenzielle Störfaktoren einer langen Regierungszeit. Er begann, das Personal der Justiz auszutauschen – älteren Richterinnen und Richtern wurde ein golden handshake für den vorzeitigen Pensionsantritt angeboten – viele nahmen das an, die Vielzahl freier Stellen konnte man mit regierungskonformen Personen nachbesetzen. Unabhängige Medien wurden drangsaliert, heute ist die Medienlandschaft Ungarns weitgehend geleichgeschaltet.
In Polen ging die Regierung rascher und brachialer gegen die Justiz vor. Das Verfassungsgericht wurde von der Regierung umbesetzt – rechtswidrig, wie der Europäische Gerichtshof feststellte. Mittlerweile laufen sowohl gegen Polen als auch Ungarn von der Europäischen Kommission eingeleitete Rechtsstaatlichkeitsverfahren.
Sensible Beobachterinnen und Beobachter vermeinen schon länger, autoritäre Tendenzen auch in Österreich auszumachen. Handelte es sich früher um Einzelmeinungen, so sprechen österreichische wie auch europäische Kommentatorinnen und Kommentatoren, Politikerinnen und Politiker immer öfter Parallelen der Entwicklungen in Österreich zu den östlichen Nachbarländern an. Der Politikzugang von Kanzler Kurz und seinen engen Vertrauten ist zunehmend von Institutionenfeindlichkeit sowie mangelnder Achtung der Gewaltenteilung von Gesetzgebung, Regierung und Justiz geprägt. Dabei spielen offenkundig die zahlreichen Strafverfahren gegen ÖVP-Politiker*innen bzw. ÖVP-nahe Personen eine Rolle. Viele dieser Strafverfahren betreffen Korruptionsverdachtsfälle.
Einiges deutet darauf hin, dass die Korruption in den letzten Jahren in Österreich zunimmt. Transparency International, maßgebliche NGO im Bereich Antikorruption, veröffentlichte im Juni dieses Jahres sein Korruptionsevaluierungssystem Global Corruption Barometer (GCB). Österreich fällt in dieser Evaluierung zurück und gehört nunmehr zu jenen Staaten, in denen mehr Korruption herrscht als im EU-Schnitt. Das Global Curroption Barometer erhebt, wie oft in einem Land für öffentliche Leistungen bestochen wird und wie oft „Freundschaftsdienste“ im öffentlichen Sektor geleistet werden.
Die Korruptionsfälle werden zu einem großen Teil von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) untersucht. Sie wurde vor mehr als zehn Jahren als Spezialbehörde geschaffen. Ihr erster Leiter, der renommierte Wirtschaftsstaatsanwalt Walter Geyer, setzte für Österreich neue Standards moderner Korruptionsbekämpfung. Die WKStA hatte rasch Ermittlungserfolge, Untersuchungen zu Kärntner Korruptionsfällen führten etwa zu zahlreichen Verurteilungen von Politikern und Managern. Korruptionsermittlungen tun Regierenden naturgemäß immer weh – vergleichbare Szenarien wie in Österreich finden wir in vielen Ländern, etwa in Frankreich. Der frühere Präsident Sarkoczy wurde dort kürzlich wegen Korruption verurteilt.
Das Ungewöhnliche in Österreich ist die Aggressivität, mit der die Regierungspartei ÖVP auf die Ermittlungen der Justiz reagierte. Der Kanzlei selbst lud Anfang 2020 Medien zu einem Hintergrundgespräch, in dem er die Kritik an der WKStA startete. Seither reissen die Angriffe der ÖVP auf die Justiz nicht mehr ab – zum Teil werden Staatsanwältinnen und Staatsanwälte persönlich attackiert. Und das tut dem Staat nicht gut – Demokratie und Rechtsstaat leben von der wechselseitigen Achtung der Amtsträgerinnen und Amtsträger vor den anderen Institutionen. Kritik an der Justiz oder an Parlamentsausschüssen ist legitim – sie soll von der Wissenschaft, von Medien und der Bevölkerung geübt werden. Wer als Amtsträger die Justiz als parteiisch darstellt, wer so wie die Tourismusministerin (und kurzzeitige Nationalratspräsidentin) Köstinger das Parlament mit einer Boulevardbühne vergleicht oder so wie Finanzminister Blümel im Parlamentsplenum in Socken auftritt, der schwächt das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen. Nicht wenn es einmal passiert, aber wiederholte Angriffe auf die Institutionen bereiten früher oder später den Boden für ein autoritäres Regime auf.
Die Regierung versucht in den letzten Monaten nachhaltig, die Staatsanwaltschaften in ihren Ermittlungsmöglichkeiten einzuschränken: im März 2020 präsentierte das Innenministerium den Vorschlag, Hausdurchsuchungen in Strafverfahren gegen Politiker und Politikerinnen und hohe Beamtinnen und Beamte de facto abzuschaffen. „Kopfschuss für den Rechtsstaat“ nannte das der führende Verfassungsrechtler Heinz Mayer. Der Entwurf wurde modifiziert, aber die Attacken gehen weiter: im Juli 2020 sprach Verfassungsministerin Edtstadler von einer nötigen Strafprozessreform, die Frage der Chats müsse man sich ansehen. Es ist klar worum es geht: Auswertungen von Chats von Politikerinnen und Politikern haben zu vielen Strafverfahren geführt, das soll für die Zukunft verhindert werden. Staatsanwaltschaften werden von der ÖVP als unberechenbare, parteiisch agierende Behörden dargestellt, die unkontrolliert agieren. Das Gegenteil ist der Fall: bei praktisch allen bedeutenden Ermittlungsschritten und Grundrechtseingriffen bedarf die Staatsanwaltschaft der Bewilligung durch ein unabhängiges Gericht. Das gilt gerade auch bei Hausdurchsuchungen. Vielsagend ist, dass kaum eine der Bewilligungen zur Hausdurchsuchung in den prominenten politischen Verfahren von den betroffenen Politikern mit dem zur Verfügung stehenden Rechtsmittel der Beschwerde bekämpft wurde. Normalbürgerinnen und Normalbürger erheben gegen eine Hausdurchsuchung Beschwerde, wenn sie sie für ungerechtfertigt halten – wenn Politikerinnen und Politiker auf die Anrufung der Gerichte verzichten, werden sie gute Gründe dafür haben; sie sollten dann aber nicht öffentlich über die Staatsanwaltschaften klagen. Diese Möglichkeit haben andere Bürgerinnen und Bürger auch nicht.
Besonders verstörend und erschreckend ist, dass die Behinderung staatsanwaltschaftlicher Arbeit durch hohe, der Regierung offenkundig verpflichtete Beamtinnen und Beamte erfolgt. Staatsanwaltschaften sind in Österreich nämlich nicht von der Politik unabhängig, sondern direkt der Justizministerin unterstellt. Alle bekannt gewordenen Fakten deuten darauf hin, dass einzelne hohe Beamte von Justizministerium bzw. Oberstaatsanwaltschaft mit Regierungsmitgliedern sympathisierten und die Korruptionsermittlungen der Staatsanwaltschaften zu behindern bzw. niederzuschlagen versuchten (diesbezügliche strafrechtliche Untersuchungen sind anhängig und es gilt für alle Beteiligten die Unschuldsvermutung). So wollte man etwa die WKStA von der Einleitung von Ermittlungen nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos abhalten und überlegte später sogar, lästige Staatsanwältinnen und Staatsanwälte anzuzeigen und ihre E-Mail-Accounts zu sichern. Die zentrale Oberstaatsanwältin der WKStA im Ibiza-Verfahren warf ob der persönlichen Drangsalierungen das Handtuch und sprach im parlamentarischen Untersuchungsausschuss davon, dass sie solche Eingriffe in die staatsanwaltschaftliche Arbeit nicht für mögliche gehalten hätte. Das Bild ist klar: einzelnen hohen Justizbeamten waren Strafverfahren gegen Politiker ein Dorn im Auge, sie wollten die Strafverfahren um jeden Preis abdrehen und jenen Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, die sich nicht fügten, etwas anhängen.
Die Regierung legt sich aber auch mit dem Parlament an und behindert dessen Kontrolltätigkeit im Untersuchungsausschuss. Finanzminister Blümel liefert angeforderte Akten mit monatelanger Verzögerung und auch erst dann, als der Verfassungsgerichtshof ein Exekutionsverfahren einleitet – ein beispielloser Vorgang in der Zweiten Republik. Die Regierung schlägt ernsthaft vor, die Wahrheitspflicht für Auskunftspersonen im Parlament aufzuheben und stattdessen eine Wahrheitspflicht für Fragesteller unter den Abgeordneten einzuführen. Auf diese Weise macht man Parlament und Demokratie lächerlich.
Dass die Regierung mit diesen Anmaßungen gegenüber Parlament und Justiz so lange durchkommt, liegt zu einem hohen Ausmaß an einer mit Geld ruhiggestellten Medienlandschaft. Die Rahmenbedingungen für unabhängigen Qualitätsjournalismus werden in Österreich immer schwieriger. Da ist zunächst die Praxis der letzten Regierungen, die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesministerien immer weiter auszubauen. Bundeskanzleramt und Innenministerium etwa haben bereits eine hohe zweistellige Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt – was einmal als Informationsarbeit angelegt war ist zur Propagandawalze verkommen. Wie Medienunternehmen fluten die Ressorts die Öffentlichkeit mit Inhalten, die wiederum oft Partei- statt Ressortinteressen wahrnehmen. Längst scheint dafür die Rechtsgrundlage zu fehlen – Ministerien sind von der Verfassung nicht als Medienunternehmen vorgesehen. Tatsächlich agieren einzelne Ministerien aber wie (Boulevard)Medien, die Stimmung im Land machen.
Die eigentliche Medienförderung ist völlig fehlgeleitet. Unabhängige Medien fungieren in der Demokratie als wichtige Kontrollinstanz, als public watchdog, wie es auch der Oberste Gerichtshof formuliert hat. Gerade in einem kleinen Land und damit einem kleinen Medienmarkt kommt Qualitätsjournalismus nicht ohne staatliche finanzielle Unterstützung aus. Österreichs Medienförderung orientiert sich aber nicht an der Qualität, sondern an der Auflage. Und die eigentliche Medienförderung erfolgt durch willkürlich vergebene Regierungsinserate. Unliebsamen Medien werden die Inserate gestrichen, oder anders gesagt: regierungsfreundliche Berichterstattung wird belohnt. Diese Form der Inseratenkorruption wurde schon vor Jahren begonnen, von der aktuellen Regierung aber quantitativ in schwindelerregende Höhen getrieben.
Zusammengefasst ergibt sich das Bild, dass die aktuelle Regierung immer stärkeren Druck auf Parlament und Justiz ausübt, wenn diese ihren verfassungsmäßigen Aufgaben nachgehen. Jüngste Gesetzesvorschläge deuten darauf hin, dass man Korruptionsermittlungen nun auch gesetzlich abdrehen will.
Das am 15. Juni präsentierte Rechtsstaats- & Antikorruptions-Volksbegehren setzt bei den beschriebenen Fehlentwicklungen an – in 72 Punkten wird vor allem eine Stärkung der Unabhängigkeit von Parlament, Justiz und Medien gefordert. Erreicht werden soll eine Verrechtlichung des politischen Handelns und ein massives Zurückdrängen der Korruption. Die Zusammensetzung der Gruppe der Initiatorinnen und Initiatoren lässt sich als Aufschrei aus dem Herzen von Justiz und Verwaltung verstehen und illustriert den Grad der Beunruhigung. Martin Kreutner etwa hat ab dem Jahr 2000 eine moderne Korruptionspolizei in Österreich aufgebaut. Walter Geyer war vor mehr als zehn Jahren der erste Leiter der neu gegründeten Korruptionsstaatsanwaltschaft, Christina Jilek hat als Oberstaatsanwältin der WKStA eine zentrale Rolle bei den Korruptionsermittlungen nach dem Bekanntwerden des Ibiza-Videos gespielt. Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss hat sie geschildert, wie sie von Oberstaatsanwaltschaft und Justizministerium so lange behindert und bedrängt wurde, bis sie den Job aufgab.
Das Volksbegehren gliedert sich in fünf Abschnitte mit insgesamt 72 Forderungen. Einige wichtige Forderungen werden in der folgenden Übersicht herausgehoben:
Thema 1: Anstand & Integrität in der Politik
Das erste Kapitel sieht unter anderem vor, dass die Nichtbefolgung von höchstgerichtlichen oder sonstigen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen durch höchste Organe des Staates einen Funktionsverlust nach sich ziehen soll und dass die Regelungen zur Parteienfinanzierung deutlich auszuweiten sind.
Thema 2: Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und damit des Wirtschaftsstandortes
Das Volksbegehren fordert, dass das Parlament in seiner Funktion als Gesetzgeber und Kontrollorgan gestärkt wird. Ausschreibungen und Bestellungen im öffentlichen Sektor sowie staatsnahen Unternehmen sollen – bei sonstiger Nichtigkeit und Schadenersatzpflicht – ausschließlich in transparenten Verfahren, nach objektivierbaren Kriterien und unbestrittener fachlicher Eignung erfolgen.
Thema 3: Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz (insbes. der WKStA) sowie der Ermittlungs- und Kontrollbehörden
In diesem Abschnitt findet sich ua die Forderung, die WKStA verfassungsrechtlich abzusichern und der WKStA eine eigene Polizeieinheit beizugeben. Ernennungsverfahren von Richterinnen und Richtern sowie von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten sollen künftig transparent und von der Politik unabhängig sein. Es findet sich auch die Forderung, weitere Ermittlungs- und Kontrollbehörden wie das Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK), den Rechnungshof (RH), die Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) und die Finanzmarktaufsicht (FMA) verfassungs- bzw. bundesgesetzlich in ihrer Unabhängigkeit und ihren Kontrollbefugnissen zu stärken.
Thema 4: Moderne, umfassende Antikorruptions- & Transparenz-Gesetzgebung
Das Volksbegehren fordert hier ua, die Kandidatenbestechung und -bestechlichkeit sowie den „Mandatskauf“ im Korruptionsstrafrecht zu verankern und bei öffentlichen Auftragsvergaben die Vertragsparteien – bei sonstiger Nichtigkeit und Pönale – zu verpflichten, weder Offshore-Firmen noch „Verkaufsberater“ einzuschalten („cutting out the middle-man“). Auch sollen strafrechtliche Verurteilungen wegen Korruption oder Amtsdelikten zum Ausschluss von öffentlichen Aufträgen führen.
Thema 5: Pressefreiheit, Medienförderung und Inseratenkorruption
Unter diesem Punkt findet sich die Forderung, die Inseratenkorruption abzustellen und die Medienförderung und Inseratenvergabe durch öffentliche Stellen, insbesondere nach Qualitätskriterien, zu objektivieren. Durch Gesetz sollen personelle und budgetäre Höchstgrenzen für die Öffentlichkeits- und Informationsarbeit der Bundesministerien geregelt werden.
Alle näheren Informationen zum Volksbegehren finden sich unter https://antikorruptionsbegehren.at/. Unterstützungserklärungen – sie sind notwendig, um eine bundesweite Eintragungswoche zu erreichen – kann man auch mittels Handysignatur von zu Hause aus abgeben. Die Eintragungswoche für das Volksbegehren wird vom Innenministerium festgesetzt werden und frühestens im Herbst 2021 liegen.
Dieser Text ist erstmals im Newsletter von ZIFF.at erschienen (Zentrum für interdisziplinäre Fortbildung im Familienrecht – ZIFF).