Beitrag für den Sammelband „Virenregime – Wie die Coronakrise unsere Welt verändert. Befunde, Analysen, Anregungen.“ (Hrsg: Thomas Schmidinger, Josef Weidenholzer, bahoebooks, Wien, 2020).
- Die Welt vor Corona
Unsere Welt hat eine rasche neoliberale Wirtschaftsentwicklung erfahren. Diese Entwicklung geht bis zum Jahr 1989 zurück. Bis dahin standen sich zwei unterschiedliche Systeme gegenüber. Das Jahr 1989 markierte einen Umbruch: in der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Partnerstaaten fielen die kommunistischen Regierungen, die Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme dieser Staaten erlebten in der Folge eine radikale Veränderung. Im Kern steht 1989 vor allem für den Sturz autoritärer Regime. Nichtsdestotrotz wurde das Jahr 1989 in der Erzählung der westlichen Welt zum Versagen der sozialistischen Idee umgedeutet, fataler noch, als Scheitern der Idee der Solidarität interpretiert. Der Neoliberalismus mit seinen Protagonist*innen Thatcher, Blair, Schröder, Schüssel und Berlusconi brach sich die Bahn und unterwarf die Politik der Wirtschaft. Konzerne und eine kleine reiche Schicht machten sich Politik und Weltbevölkerung untertan. Social Media, Fernsehen, billige Kleidung und Smartphones lenken die Bevölkerung von der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen und von unfairen Lebensverhältnissen ab und lassen sie bei Wahlen gegen die eigenen Interessen stimmen, anders könnten Trump und Bolsonaro nicht in Ämter gelangen. Die vermehrt über Social Media geführten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen polarisieren zudem. Wenige Player produzieren viele Tweets und Postings, Hass im Netz entsteht. Vor allem Rechtsparteien agieren über eigene TV-Kanäle im Netz, sie diffamieren öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und seriöse Traditionsmedien.
Wenn man das Gesamtwohl der Gesellschaft berücksichtigt, zu dem gleiche Chancen aller Bürger*innen, eine faire Einkommensverteilung und ein verantwortungsvoller Umgang mit der Umwelt zählen, dann stand das westliche Modell schon 1989 nicht viel besser da als der Osten. Bis heute wurde das immer deutlicher. Die Klimakatastrophe ist für alle sichtbar geworden. Ohne rasche und radikale Maßnahmen steht die Vernichtung weiter Teile des Lebensraums Erde bevor. Dazu kommen die sozialen Ungleichheiten: die Monopolisierung unter den Konzernen schreitet voran. Globalisierung und Neoliberalismus laufen auf die Weltherrschaft weniger Akteure – Amazon, Google, Microsoft und einiger asiatischer Pendants – hinaus. Während die Konzerngewinne wachsen und unversteuert bleiben, sinken die Reallöhne der Massen. Das gesamtgesellschaftliche Vermögen steigt in vielen Teilen der Welt, die Propaganda eines Sparzwangs soll Pensionskürzungen und niedrige Lohnabschlüsse rechtfertigen. Exorbitante Managerboni oder Bankenrettungen illustrieren ein zunehmend wahnwitziges Szenario.
- Corona macht Ungleichheit transparent
Das Corona-Virus offenbarte die verheerenden Wirkungen eines ungezähmten Neoliberalismus. Für viele Menschen wurden in der Pandemie erstmals Entwicklungen erkennbar, die sie bis dahin wenig beachtet hatten. Der in Medien referierte Vergleich der Umweltwerte in der Zeit des Lockdowns mit normalen Zeiten etwa machte das Ausmaß der Verschmutzung von Luft und Wasser offenbar. Das Virus verschaffte auch jenen Stimmen mehr Raum, die seit langem davor warnen, dass die Veränderung von Lebensräumen – etwa die Abholzung der Regenwälder – die Ausbreitung von Viren befördern könnte. Krankheitscluster machten die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Menschen sichtbar: der Arbeiter*innen in den Schlachthöfen, der Zusteller*innen, der Erntehelfer*innen, der Menschen in Pflegeberufen, der in Lagern oder Massenquartieren angehaltenen Asylwerber*innen. Auf einmal waren die niedrigen Löhne in den Gesundheitsberufen und in Zustelldiensten ein Thema.
Vor allem aber offenbarte die Pandemie die fatalen Wirkungen einer allein nach kapitalistischer Logik ausgerichteten Gesellschaft. Obwohl alle Wirtschaftsbereiche weiterliefen, die die Grundbedürfnisse abdecken – Lebensmittelversorgung, Verkehrsmittel, Medien – brach die Wirtschaft binnen weniger Wochen völlig ein. Unser Wachstumsstreben bewirkt, das wurde offenkundig, dass ein Großteil der Wirtschaft Güter und Dienstleistungen produziert, die nicht unbedingt benötigt werden, die also Luxus im weiteren Sinn sind. Dieser Umstand ist an sich nicht verwerflich, bildet angesichts der damit verbunden Umwelt- und Klimazerstörung aber doch eine wichtige Erkenntnis.
Die Wirkungen einer rein gewinnorientierten Gesellschaftsgestaltung zeigten sich aber auch in den Statistiken über die Opfer der Pandemie. Das Virus fand besonders viele Todesopfer in Regionen, in denen Altenheime überwiegend privat geführt sind. Während in öffentlich geführten Altenheimen, von ganz armen Regionen abgesehen, eine medizinische Mindestversorgung im Haus selbstverständlich ist, haben private Heimbetreiber keinen Anreiz, eine medizinische Grundversorgung vorzusehen – solange ausreichend Nachfrage nach Heimplätzen besteht. Dies wurde vielen Bewohner*innen in der Corona-Zeit zum Verhängnis. Nach derselben Logik verzichten schon lange viele Privatkliniken auf Intensivstationen – man führt diverse lukrative operative Eingriffe durch, richtet aber keine kostenintensiven Intensivstationen ein. Kommt es zu Komplikationen, werden Patient*innen in öffentliche Krankenhäuser überstellt. Umgekehrt zeigte sich in der Pandemie die Stärke einer guten öffentlichen Gesundheitsvorsorge wie sie in Wien besteht: eine vergleichsweise hohe Zahl an Krankenhausbetten und eine breite Versorgung mit niedergelassenen Ärzten führten dazu, dass Wien eine der geringsten Opferzahlen der europäischen Millionenstädte aufweist. Die Grundgedanken des Roten Wien bestimmen bis heute die Organisation der Stadt. Sie führen Wien seit Jahren an die Spitze der globalen Rankings zur Lebensqualität. In der Zeit der Pandemie wurden Kraft und Stärke der Prinzipien des Roten Wien besonders gut sichtbar.
Mit dem Ausbruch der Pandemie versagten weltweit die privatwirtschaftlichen Systeme rasch, und von der Breite der Gesellschaft wurde Hilfe der staatlichen Stellen eingefordert – und das ist ja auch richtig so. Der Staat soll das Wohl aller sichern. Das ist eine zentrale Lehre aus Corona: Um das Wohl aller zu sichern, darf der Staat außerhalb von Krisenzeiten zentrale Instrumente nicht aus der Hand geben. Die Kernbereiche der Daseinsvorsorge, also alles, was für Gleichheit und Wohl der Menschen entscheidend ist, von Energieversorgung bis zu Gesundheitswesen, gehört einer starken staatlichen Regulierung unterworfen. Im Ergebnis belegt die Corona-Pandemie, dass der unkontrollierte Kapitalismus, der Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte, am Ende ist: er vernichtet die Lebensgrundlagen durch Umwelt- und Klimazerstörung, er schafft eine immer ungleichere Vermögensverteilung und versagt zudem in Krisenzeiten vollends. Kaum war die Krise da, schon ertönten, wie in der Finanzkrise, die Rufe großer Konzerne nach staatlichen Hilfsmilliarden.
- Besinnung auf das Gemeinwohl?
Die Corona-Pandemie hat gefiltert, welche Berufe für eine Gemeinschaft hohe Bedeutung haben: die Gesundheits- und Pflegeberufe etwa, die Beschäftigungen im Lebensmittelhandel, in der Kinderbetreuung usw. Es handelt sich vielfach um Berufe mit wenig Prestige und verhältnismäßig schlechter Bezahlung. Die Lohnpyramide steht also in keinem sinnvollen Verhältnis zur Bedeutung der einzelnen Jobs für die Gemeinschaft. Aus dieser Erkenntnis müssten sich für alle politischen Kräfte, die seit jeher auf Solidarität setzen, jede Menge Möglichkeiten ergeben: die Forderung nach der Erhöhung der Kollektivverträge für viele Berufe, nach einer Anhebung von Mindestlöhnen und von Pensionen, nach einer gerechten Besteuerung auch von Konzernen. Tatsächlich haben auch konservativ geführte Regierungen (wie die österreichische) in der Krise sozialdemokratische Positionen übernommen, etwa die (vernünftige) Absicht, die Wirtschaft ohne Rücksicht auf eine nötige Neuverschuldung anzukurbeln. In Spanien wurde mit den Stimmen aller Parteien ein Grundeinkommen eingeführt, in Italien hat die Regierung die Legalisierung aller im Land befindlichen Menschen angedacht. Portugal hat gleich am Beginn der Pandemie alle im Land befindlichen Menschen gleichgestellt, um einen guten Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen für alle Menschen zu garantieren.
Eine Umkehr hin zu Solidarität und mehr Chancengleichheit und Gemeinwohl ist dennoch nicht wahrscheinlich. Die Menschen vergessen schnell, mit der Lockerung der Pandemiemaßnahmen sind viele mit der Bewältigung des Alltags ausgelastet, Veränderungswünsche treten in den Hintergrund. Und dann ist da noch die sich abzeichnende Klimakatastrophe, die eine gewaltige globale Herausforderung darstellt: Millionen Menschen stehen vor dem Entzug der Lebensgrundlagen, weil Landwirtschaft durch Trockenheit oder Hitze nicht mehr möglich ist, weil Trinkwasser fehlt, weil Seen und Flüsse austrocken.
- Das Virus der Seelenlosigkeit
In den ersten Wochen der Pandemie gab es Einschätzungen, dass es jedenfalls zu größeren Änderungen unseres Gesellschaftssystems kommen könnte. Menschen applaudierten auf den Balkonen den Beschäftigten im Gesundheitssektor, Politikerinnen und Politiker aller Parteien lobten die Leistungen der Bediensteten der Supermärkte. Doch all das ist schon wieder Vergangenheit. Nicht Lohnerhöhungen sind das Thema, sondern Milliardenzahlungen ausgerechnet an die Luftfahrt, die die Klimaveränderungen maßgeblich mitverursacht, und für die Masse der Beschäftigten oder Erwerbslosen bleiben Einmalzahlungen, die wie Almosen verteilt werden.
Ein Politikwechsel, der den Namen verdient, wird im Vergleich zu früheren Zeiten durch eine Reihe von Faktoren erschwert. Da ist zunächst der Zynismus, der sich in den letzten Jahrzehnten in einem Zusammenspiel von Teilen von Politik und Medien breitgemacht hat und unsere Gesellschaft seelenlos macht. Eine Unkultur der organisierten Massenunterhaltung des Fernsehens und der kommerziellen Werbung sowie ein Verlust der Menschlichkeit in der modernen Konsumgesellschaft beherrschen unser aller Leben.
Waren es Fernsehen und Privatfernsehen, die die Konsumgesellschaft anschoben, so wurde die Entwicklung durch das Auftauchen der Social Media weiter verstärkt. Die Anziehungskraft des Smartphones hatte zwei zentrale Wirkungen: das Smartphone wurde zum modernen Opium des Volkes, es lenkt von allen Sorgen und Missständen ab. Und Smartphone und Social Media befördern einen nicht gekannten Narzissmus, der sich in der Flut an Selfies und dem Hunger nach Likes zeigt – diese Erscheinungen bestimmen das Verhalten von Politiker*innen ebenso wie jenes ihrer potenziellen Wähler*innen. Wie stark diese Phänomene das Leben dominieren und wie sehr sie einem Politikwechsel im Weg stehen, zeigt sich daran, dass Donald Trump mit seinem infantilen Verhältnis zu Social Media zum US-Präsidenten aufsteigen konnte. Der Herausgeber der österreichischen Zeitschrift falter, Armin Thurnher, hat das Dilemma kürzlich (falter 23/20) so formuliert: „Inwiefern ist Donald Trump nicht das schreckliche Zerrbild dessen, was Social Media aus unserer Kommunikation machen, sondern deren Idealbild? Ein Mensch, der seine Aktionen nur darauf abstellt, was ihn als Reaktionen erwartet, ein durch und durch narzisstischer Mensch, einer der sich den Mechanismen algorithmischer Steuerung lustvoll unterwirft, in der Illusion, sie zu beherrschen? Wenn er sie nicht beherrscht, herrscht er immerhin mit ihnen.“
Veränderungen in einer in Kommunikation und politischer Kultur so heruntergekommenen Gesellschaft sind schwer zu bewerkstelligen. Die Politik hat den Medien dadurch Macht genommen, dass sie in Regierungsstellen große Kommunikationsabteilungen aufbaut, die die Bevölkerung mit Bildern und Texten überfluten. Sowohl für die beschriebene Seelenlosigkeit als auch die alles bestimmende politische Inszenierung lieferte die österreichische Innenpolitik in der Zeit der Pandemie anschauliche Beispiele. „Mir war das Öffnen der Schulen ein tiefes Anliegen, damit es nicht zu einem Humankapitalverlust großen Ausmaßes kommt“, meinte – der von der Universität in die Politik eingestiegene – Bildungsminister Heinz Faßmann im österreichischen Radio im Mai 2020. Die Begriffswahl (Humankapitalverlust) in diesem Zusammenhang, nämlich der Frage, wann Kinder nach wochenlanger Schließung zurück in die Schulen dürfen, offenbart in ihrer Absurdität das Ergebnis eines jahrelangen neoliberal-kapitalistisch geprägten Diskurses. Arbeits- und Familienministerin Christine Aschbacher versandte im selben Monat anlässlich der Auszahlung des Familien-Härtefallfonds ein Foto, wie sie einer Familie mit zwei Kindern Geld übergibt. Auf dem Foto drückt die Ministerin einem Baby einen Hundert-Euro-Schein in die Hand. Die Ministerin neigt sich zwar zum Baby, steckt ihm aber, offenbar als Virus-Vorsichtsmaßnahme, den Geldschein mit einer Zange in die Finger. Nach Kritik am Bild äußerte die Ministerin, das Baby habe nach dem Geld gegriffen. Das Bild illustriert die Verbindung von zynischer Politikinszenierung mit einem abwertenden Menschenbild.
In Zeiten von Konsumgesellschaft und allgegenwärtigem Narzissmus läuft ruhige Sachpolitik Gefahr, als langweilig oder realitätsfremd hingestellt zu werden. In der Politik wie in anderen Lebensbereichen dominiert die Inszenierung, Marketing schlägt den Inhalt. Dazu kommen Kurzlebigkeit und Schnelligkeit der Social Media-Welt. Das Wegwischen am Smartphone wird zum Inbegriff unserer Zeit. Eine Info weggewischt, das nächste Foto ist da, in der Sekunde darauf überfliegt man eine Mailnachricht oder liest die Onlineschlagzeilen. Schwierige Voraussetzungen für eine nachhaltige, zukunftsorientierte Politik.
- Neue Allianzen als Gegenmittel
Auf der Suche nach Impfstoffen und Medikamenten gegen das COVID19-Virus haben viele Staaten und Pharmaunternehmen neue, breite Allianzen zur Finanzierung und Forschungskooperation geschlossen. Und vielleicht ist ja auch das das Mittel zum Politikwechsel: ganz neue Allianzen, die gemeinsam eine Politik anstreben, die Solidarität in den Mittelpunkt stellt, die die Herrschaft der Politik über die Wirtschaft wiederherstellt und so auch die Klimakatastrophe abwenden kann. Denn die Linke, die aus ihrer Ideologie heraus diesem Ziel verbunden wäre, hat weder in der Finanzkrise noch jetzt zu Zeiten der Pandemie kraftvolle Politikansätze erkennen lassen. Die klassischen politischen Lager, ob Konservative oder Sozialdemokratie, leiden an Zerfallserscheinungen. Die alten europäischen Volksparteien sind müde, in ihren Strukturen unbeweglich und von ähnlichen Krankheiten erfasst: Korrumpierbarkeit, Zynismus, Entfremdung vom Alltag der Bevölkerung. Linke und Grüne Parteichefs wechseln von der Politik in Konzernetagen und entsetzen viele Parteisympathisant*innen. Auf ähnliche Weise sind große Teile des traditionell konservativen Lagers vor den Kopf gestoßen von Auswüchsen des Raubtierkapitalismus, von Fremden- und Europafeindlichkeit und zynischer Politpropaganda ihrer Parteien. Der frühere Herausgeber der österreichischen Tageszeitung Kurier und nunmehrige Parlamentsabgeordnete für die Neos, Helmut Brandstätter, meinte unlängst, das Team um Österreichs konservativen Kanzler stelle „die Grundlagen der christlichen Soziallehre und damit auch die der ÖVP in vielen Punkten auf den Kopf.“
Vor allem der Klimawandel zwingt uns zu schnellem Handeln. Die Strategie dabei könnte es sein, kurz- und mittelfristig all jene zusammenzuführen, die sich zu einer solidarischen Gesellschaft, zum Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen Nationalismus und für die Rettung von Klima und Umwelt einsetzen. Es ginge dabei also nicht um eine langfristige konservative oder progressive Ausrichtung der Politik, sondern darum, die Würde des Menschen, die Achtung vor dem Menschen und solidarisches Denken zurück in den Mittelpunkt politischen Handelns zu holen. Das Ziel wären breite Wahlbewegungen, die sich aus unterschiedlichen früheren politischen Milieus zusammensetzen und sich an erfolgreichen globalen Protestbewegungen der letzten Jahre – Fridays for future, Me too, Black Lives Matter – orientieren. Eine so gedachte politische Wahlbewegung kann, wie die letzte österreichische Bundespräsidentenwahl gezeigt hat, mehrheitsfähig sein.