Kommentar der Anderen für den Standard vom 21.12.2020
Ein banal klingendes Verhalten bringt eine psychisch kranke Frau in den Maßnahmenvollzug. Ihr Fall ist kein Einzelfall, sondern repräsentativ für die Zustände. Eine Reform des Maßnahmenvollzugs ist längst überfällig.
Oliver Scheiber
Maßnahmenvollzug bedeutet die zeitlich unbegrenzte Einweisung von psychisch kranken Menschen in eine Justizeinrichtung. Voraussetzung ist ein Anlassfall, ein strafbares Verhalten. Dieses Verhalten klingt in dem vom Falter jüngst öffentlich gemachten Fall von Brigitta P. banal. Die 63-jährigen Pensionistin leidet seit ihrer Jugend an paranoider Schizophrenie. Sie hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Diesen Sommer litt sie unter der Einsamkeit infolge der Corona-Maßnahmen. Eines Abends ruft sie am Balkon: „Holt’s die Feuerwehr, holt’s die Rettung oder ich zünd das Papier an und dann brennt das ganze Haus. Papier brennt, Papier brennt. Ruft’s die Feuerwehr. Hilfe, Hilfe!“. Das Gericht wertet das laut Falter als Nötigung und verfügt eine zeitlich unbegrenzte Einweisung in den Maßnahmenvollzug. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Taugt so etwas zum Justizskandal? Die Antwort muss lauten: der gesamte Maßnahmenvollzug ist dabei, zum fortgesetzten Menschenrechtsskandal zu werden. Das wissen die Insassen, die verantwortlichen Beamten und die Experten, die damit befasst sind.
Justizministerin Alma Zadić hat das Problem von ihren Vorgängern geerbt. Vor Jahrzehnten wurde der Maßnahmenvollzug als moderne Form der Anhaltung geschaffen. Gedacht für Täter von schwersten Straftaten, die psychisch erkrankt sind. Sie sollten nicht im Gefängnis verkommen, sondern geeignete Behandlungen und Therapien erhalten. Jährlich wird überprüft, wie sich die Gefährlichkeit eines Insassen entwickelt; bei einer günstigen psychiatrischen Einschätzung kommt es zur Entlassung.
Ab dem Jahr 2000 kollabiert das System. Die Gerichte nehmen immer geringere Straftaten zum Anlass, Menschen in den Maßnahmenvollzug einzuweisen. Und gleichzeitig wird es schwieriger, aus der Maßnahme herauszukommen. Die Entlassungsprüfung wird immer strenger.
Immer mehr Insassen
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 2000 waren 218 Menschen im Maßnahmenvollzug untergebracht, 2010 schon 370 und 2020 sind es nun 610. Allein der Sprung vom Jahr 2019 zu 2020 ist gewaltig: von 543 zu 610 Insassen. Somit fehlen auch Plätze; immer mehr eingewiesene, oft psychisch schwer kranke Personen, kommen in „normale“ Gefängnisse. Im Maßnahmenvollzugs herrschen seit Jahren Zustände, die man Missstände nennen kann.
Die Ursachen und Probleme sind vielschichtig: die psychiatrische Versorgung, vor allem am Land, ist unzureichend. Psychisch kranke Menschen bleiben oft lange unbehandelt, bis „etwas passiert“. Dann kann auch eine kleinere Tat zur zeitlich unbegrenzten Einweisung in den Maßnahmenvollzug führen. Aber auch Nachbetreuungseinrichtungen fehlen: so müssen viele Insassen in Haft bleiben, die bei guter ambulanter Betreuung in Freiheit leben könnten.
Schon vor Jahren hat der frühere Justizminister Wolfgang Brandstetter eine Reformkommission eingesetzt, es entstand der Entwurf eines Maßnahmenvollzugsgesetzes. Der Entwurf wurde überarbeitet, beschlossen wurde er nie.
Das System ist unmenschlich. Vor allem für die Insassen, aber auch für die Beamten, die im gegebenen Rahmen vor einer unlösbaren Aufgabe stehen. Eine Mitschuld trifft auch das Gerichtssystem, das sich immer mehr von Gefängnissen und Maßnahmenvollzug abkoppelt: Richterinnen begleiten den Fall bis zum Urteil, was danach kommt, interessiert wenig. Zuständig ist ja dann jemand anderer.
Den Insassen des Maßnahmenvollzugs fehlt ein guter Rechtsschutz. Lediglich einmal im Jahr muss eine Prüfung einer Entlassung stattfinden. Diese Anhörungen, auf die sich Insassen und ihre Angehörigen oft wochenlang vorbereiten, dauern häufig nur wenige Minuten. Es fehlt eine verpflichtende anwaltliche Vertretung und eine Pflicht zur ausführlichen Erörterung.
Mangelnde Ausbildung
Den Gerichten fehlen psychiatrische Sachverständige, es bilden sich Monopole. Es gibt in Österreich keinen einzigen Lehrstuhl für forensische Psychiatrie, deshalb auch der Mangel an qualifizierten Sachverständigen. Richter sind nicht ausreichend darin geschult, wie man die Qualität eines psychiatrischen Gutachtens prüfen kann.
Eine Reform ist überfällig. Sie sollte um eine Bestandsaufnahme ergänzt werden: alle derzeitigen Insassen sollten von interdisziplinären Kommissionen ausführlich begutachtet werden, um die nicht mehr gefährlichen Insassen rasch aus den Einrichtungen zu bekommen. Sie haben ein Recht auf Freiheit, und viele Ressourcen könnten besser genützt werden. Im neuen Maßnahmenvollzug sollte es mehr interdisziplinäre Teamentscheidungen geben. Derzeit fürchten Psychiater wie Richterinnen die Schlagzeilen, sollte einmal ein Entlassener rückfällig werden. Es gilt deshalb die Verantwortung auf mehr Schultern zu verteilen; die Erkenntnis, dass man Rückfälle nie ganz ausschließen kann, darf nicht dazu führen, hunderte Menschen „sicherheitshalber“ einzusperren.
Für alle Maßnahmeninsassen sollte eine verpflichtende anwaltliche Rechtsvertretung selbstverständlich sein, Anhörungen über die Entlassung sollten einen definierten Ablauf haben, der eine eingehende Prüfung garantiert. Die Anhörungen sollten audiovisuell aufgezeichnet werden. Gemeinsame Aufgabe von medizinischen Universitäten und Justiz wäre es, Lehrstühle für forensische Psychiatrie zu schaffen und eine neue Generation qualifizierter Sachverständiger auszubilden. Richter und Staatsanwältinnen sollten mehr in den Betrieb der Justiz- und Maßnahmenanstalten eingebunden werden, Sachverständigengutachten müssten vor Gericht kritischer hinterfragt werden.
Schließlich zeigt der Fall P.: nur Menschen mit gebildetem, sozial starkem Umfeld gelingt es überhaupt, auf fragwürdige Strukturen öffentlich aufmerksam zu machen. Auch das ist eine, weit über die Justiz hinausreichende Facette dieses Falles. Hinter P. stehen viele Schicksale, die nie öffentlich werden.
Oliver Scheiber ist Richter und Publizist. Zuletzt erschienen: „Mut zum Recht“.