„Wir Richter müssen politische Menschen sein“
Die Justiz stirbt den leisen Tod, klagt der Justizminister. Der Strafrichter Oliver Scheiber stimmt zu. Ein Gespräch über Klassenjustiz und die Ohnmacht der Bürger vor Gericht
FLORIAN KLENK
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Politik,
FALTER 48/19
vom 27.11.2019
Es gibt nicht viele Strafrichter, die sich auch als Citoyens verstehen und öffentlich das Wort ergreifen. Der Leiter des Bezirksgerichts Meidling, Oliver Scheiber, ist so einer. Im Falter Verlag hat der schillernde Jurist soeben seine Streitschrift „Mut zum Recht!“ vorgelegt. Das Buch wird am 2. Dezember in der Bartensteingasse 9 präsentiert. Ein Gespräch über die notwendigen Reformen bei Gerichten und in Gefängnissen und den Wert von Literatur für Juristen.
Falter: Herr Scheiber, in Ihrem neuen Buch beklagen Sie, die Strafjustiz habe es vor allem auf kleine Kriminelle abgesehen, von denen am wenigsten Widerstand zu erwarten sei. Nun haben vorvergangene Woche Hausdurchsuchungen bei zwei ehemaligen Finanzministern, beim Generalanwalt von Raiffeisen, beim ehemaligen Vizekanzler und beim Ex-Finanzstaatssekretär stattgefunden, sowie bei zwei Bossen der Glücksspielindustrie – ist die scharfe Klassenjustiz-These Ihres Buches überholt?
Oliver Scheiber: Ganz und gar nicht. Mein Buch wirft einen Blick auf das System Strafrecht, nicht auf einzelne Fälle oder Prozesse. Praktisch in allen Staaten der Erde haben Strafgerichte und Anklagebehörden eher die kleinen Delinquenten im Auge, während die Verfolgung der großen Verbrechen schleppend, wenn überhaupt erfolgt. Das ist eine Schieflage, über die wir sprechen müssen.
Wir erleben derzeit weitreichende Ermittlungen in den Schaltzentralen der früheren Regierung. Macht Ihnen das Hoffnung?
Scheiber: Die Ermittlungen, die wir derzeit erleben, sind in der Geschwindigkeit und Effizienz tatsächlich auffällig. Die politische Lage hat sich in Österreich seit Ibiza und seit dem Misstrauensantrag gegen die Regierung Kurz/Strache aber auch völlig neu gemischt. Wir beobachten Entwicklungen, die wir so noch nicht kennen. Dass die Wirtschafts-und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) so entschlossen vorgeht, so schnell Beweise sichert und weiter sucht, ist auf jeden Fall bemerkenswert. Und dass das gerade unter einer parteipolitisch unabhängigen Beamtenregierung passiert, dieser Zusammenhang fällt jedem auf, der diese Systeme seit langem beobachtet.
Gerade noch stand die WKStA unter enormem Beschuss. Sie habe sich, so der Vorwurf, in der Affäre rund um die Razzia des Bundesamts für Verfassungsschutz (BVT) von FPÖ-Innenminister Herbert Kickl antreiben lassen und sich in der Eurofighter-Affäre in einen medial ausgeschlachteten Kleinkrieg mit dem Justizministerium verwickelt.
Scheiber: Die jüngste Bilanz der WKStA ist durchwachsen. Aber sie ist eine enorm wichtige Institution. Die Gründungsidee anno 2008/09 war, den Forderungen von Wissenschaft und Europarat nachzukommen. SPÖ-Justizministerin Maria Berger, bei der ich im Kabinett arbeitete, wollte damals eine von Weisungen des Ministeriums unabhängige Anklagebehörde schaffen. Das war politisch nicht durchzusetzen. Strafbar gestellt wurde das sogenannte Anfüttern und mit Walter Geyer …
…. dem ehemaligen grünen Justizsprecher und Wirtschaftsstaatsanwalt, der heute im grünen Verhandlungsteam sitzt …
Scheiber: … hatte die Behörde eine über alle Parteigrenzen hinweg akzeptierte fachlich herausragende Persönlichkeit an der Spitze.
Blicken wir nun nach unten. Sie haben als Bezirksrichter rund 15.000 Verfahren abgewickelt, in Ihrem Buch schildern Sie einige sehr verstörende Fälle, wo Kranke, Arme, Traumatisierte und Suchtkranke mit der vollen Wucht des Gesetzes rechnen müssen. Eine junge, drogenkranke Frau sei wegen eines Schadens von 3000 Euro mehr als drei Jahre gesessen.
Scheiber: Dieser Fall berührt mich heute noch. Die Frau war sehr lange drogensüchtig, also psychisch erkrankt, und wurde immer wieder rückfällig, um die Sucht zu finanzieren. Sie stahl Kosmetika. Ihre Vorstrafen wurden schlagend und irgendwann musste sie drei Jahre absitzen, weil man Gewerbsmäßigkeit angenommen hat. Das ist völlig unangemessen.
Einer Ihrer Vorwürfe lautet zugespitzt: Das Schwert des Strafrechts trifft die Armen. Wörtlich schreiben Sie: „So entsteht eine zynische Klassenjustiz.“ Das ist ein harter Vorwurf.
Scheiber: Ehe jetzt die Empörung losbricht: Der Vorwurf richtet sich gegen das System, nicht gegen einzelne Richter und Ankläger. Die Frage ist immer, wen man sich vorknöpft, wo man überhaupt sucht, wer ins Gefängnis kommt und wer nicht, bei wem Hausdurchsuchungen gemacht werden und bei wem nicht, bei wem Telefonüberwachungen gemacht werden und bei wem nicht. Setzen wir unsere Instrumentarien gleich ein? Das beste Beispiel ist für mich die Umweltkriminalität.
Die Kriminalstatistik registriert anno 2017 nur eine einstellige Zahl an Verurteilungen wegen Umweltdelikten.
Scheiber: Das ist sicher unangemessen. Es gibt derartig viele offenkundige Umweltvergehen -man braucht nur ans Görschitztal denken -, wo die Strafrechtspraxis zahnlos ist. Stellen wir uns nun vor, wir hätten eine Sonderbehörde für Umweltkriminalität mit 20 Sonderstaatsanwälten. Wir haben ja auch Sondereinheiten für Drogenkriminalität, für Straßenkriminalität oder für Einbruchsdiebstähle.
Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass sich Richter aus einer recht homogenen Gruppe rekrutieren und zu sehr eine sich selbst rekrutierende Klasse bilden.
Scheiber: Ja , wir sind immer noch zu wenig „bunt“. Unsere Richterschaft ist zum Beispiel sehr jung, die Biografien sind üblicherweise Gymnasium, Universität, der Eintritt in den Justizdienst, Ruhestand. Ich glaube aber, dass es sehr wichtig wäre, den Beruf aufzumachen für Leute mit anderen Berufserfahrungen. Rechtsanwälte, aber auch Leute, die zehn Jahre in der Privatwirtschaft oder in der Sozialarbeit waren und dann völlig quereinsteigen wollen, sollten Richter werden können. Wir haben in den letzten Jahren aber schon sehr viele Leute mit Doppelstudien -Wirtschaft vor allem -aufgenommen. Aber mehr Doppelausbildungen aus dem Bereich Psychologie, Soziologie und Ähnlichem würden uns guttun.
Eines der stärksten Kapitel Ihres Buches kreist um die Frage, was Richter aus Literatur und Kunst lernen können. Sie zitieren ausführlich Anatol Frances Justiz-Drama „Crainquebille“. Warum ist das Schicksal dieses Mannes für Sie heute noch so wichtig?
Scheiber: Weil es die Ohnmacht gut zeigt, in die Beschuldigte fallen; die schwierige Lage, in der jeder ist, der vor Gericht steht. Es geht um einen kleinen Gemüsehändler, dem zu Unrecht ein Mini-Delikt vorgeworden wird – die Beleidigung eines Polizisten. Er weiß, dass er unschuldig ist. Aber der Übermacht von Polizei und Justiz, die ihm da etwas vorwirft, was er nicht getan hat, steht er machtlos gegenüber. Denn der Richter glaubt dem Polizisten nur deshalb, weil er Polizist ist. So kommt es binnen kürzester Zeit dazu, dass sich der Unschuldige selbst schuldig fühlt und nun darüber nachdenkt, wie er seine Schuld tilgen kann, die gar nicht existiert. Es gibt einen Stummfilm zu diesem Roman, wo die Richter überlebensgroß werden. Auch unsere Rituale, die Sprache, in alten Gebäuden auch die Architektur wirken auf Beschuldigte monströs.
Der Justizpalast ist immer noch eine Kathedrale des Rechts, in der der Untertan wie ein Winzling wirkt. Im Grauen Haus fühlt sich der Bürger sofort verschluckt wie bei Kafka. Die Richterbank ist erhöht, der Angeklagte sitzt auf der knarzenden Beschuldigtenbank und hat nicht einmal Platz, seine Akten vor sich auszubreiten.
Scheiber: Langsam ändert sich die Architektur. Gerichtsneubauten sind völlig anders. Das neu sanierte Gericht in Salzburg zum Beispiel ist ein transparenter Bau geworden. Die Richter kommunizieren auf Augenhöhe.
Aber ist das nicht auch wieder nur ein Schein? Ein Richter übt ja tatsächlich Gewalt aus. Er ist kein Case-Manager und kein Sozialarbeiter, er kann die Bürger fesseln lassen.
Scheiber: Richtig. Ich will auch nicht den Anschein erwecken, als hätte der Richter keine Macht. Das soll von Beginn an klar sein. Aber das kann man auf verschiedene Weise kommunizieren. Das muss ich nicht durch Kreuze oder Riesenadler oder Talare zeigen. Das kann ich auch durch ein Gespräch kommunizieren.
Die Sprache der Gerichte ist für Bürgerinnen und Bürger oft komplett unverständlich. Ist das eine Machtdemonstration?
Scheiber: Bei den wenigen Erhebungen, die wir dazu machen, wie die Justiz ankommt in der Bevölkerung, ist die Verständlichkeit immer der Hauptkritikpunkt. Wir müssen Verständlichkeit von Urteilen als Wert erkennen. Eine komplizierte Sprache hindert den Zugang zum Recht, verhindert Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Wenn Richterinnen und Richter gut arbeiten und dann das Urteil so verschachtelt formulieren, dass auch Maturanten nicht auf den ersten Blick sehen können, wer den Prozess gewonnen hat, dann ist viel der guten Arbeit umsonst. Was sich aber im Strafrecht noch immer hält, ist eine gewisse Brutalität der Sprache, ein sprachlicher Popanz, der sich auch bei kleinen Ganoven so liest, als wäre eine Bagatelle das schwerste Verbrechen. Es geht das Augenmaß verloren: Okay, da hat einer ein Problem, er hat was Falsches gemacht, aber es waren nur 250 Euro.
Es zieht sich durch das Buch, dass es Alltagsfälle gibt -Raufereien in Parks, kleine Dramen in Familien, Notfälle, Kinder, die ihre Eltern verlieren und durchdrehen -, die mit einer unglaublichen Empathielosigkeit abgehandelt werden. Warum ist das so?
Scheiber: Weil wir auch eine Bürokratiemaschine sind, die alle Fälle ablaufmäßig gleich behandelt und die nicht darauf trainiert ist, dem einzelnen Menschen sehr viel Zeit zu widmen. Das ist eine Tradition unseres österreichischen Strafrechts, dass wir sehr stark auf die Tat schauen -was ist da passiert, hat der das tatsächlich begangen oder nicht? – und sehr wenig auf die Persönlichkeiten. Die Schweiz macht das anders. Die widmet sehr viel Zeit und Aktenteile der Täterpersönlichkeit. Ich glaube auch, dass unsere juristische Ausbildung sehr technokratisch ist, berechtigterweise sehr stark den Gesetzestext oder die juristischen Details, Verfahrensordnungen, Formalpunkte im Auge hat, daneben aber viel zu wenig den Menschen, gesellschaftliche Zusammenhänge und Kommunikation.
In Ihrem Buch findet sich der Satz: „Die alten Nazis prägten mit ihrer autoritären und menschenverachtenden Haltung die Strafjustiz sehr lange. Die Nachwirkungen dieses Weltbilds waren vor allem an den Strafgerichten bis in die 1990er-Jahre spürbar.“ Und die Staatsanwaltschaft Graz schrieb kürzlich: „Es ist nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte (…), da sich unter den Inhaftierten (unbestritten) Rechtsbrecher befanden.“ Hat die Justiz heute auch noch ein NS-Problem?
Scheiber: Nein, der Satz ist nicht repräsentativ für die österreichische Justiz und das Ministerium hat sofort reagiert. Es hat uns trotzdem enorm getroffen. Das Problem liegt woanders: Dort, wo es reine Strafgerichtshöfe gibt, in Wien und Graz, verändern sich auch die Juristinnen und Juristen. Es ist menschlich, soziologisch und psychologisch nachvollziehbar, dass, wenn Menschen Jahrzehnte mit Verbrechen zu tun haben, deren Weltbild ein anderes ist, als wenn sie sich einmal mit einem familienrechtlichen Problem und einmal mit einem aktienrechtlichen Problem beschäftigen. Da entsteht eine Art Tunnelblick. Richter sollten deshalb durch verschiedene Arbeitsbereiche rotieren und nicht ein Leben lang nur Strafrecht oder nur Familienrecht machen.
Einen großen Teil des Buches widmen Sie auch den Gefängnissen, die voll sind wie nie.
Scheiber: Die ungefährlichen Leute müssen endlich anders „bestraft“ werden. Gefängnisse sollten gefährlichen Leuten vorbehalten sein, Leuten, die jemandem an den Kragen gehen, die Körperverletzungsdelikte in wiederholtem oder schwerem Ausmaß begehen und die von einer schweren Vermögenskriminalität nicht abzuhalten sind. Gefängnisse sollten nicht da sein für Leute, die, aus welchen Gründen auch immer, immer wieder kleinere Vermögensdelikte begehen.
Sie kritisieren in Ihrem Buch die sogenannten „Salzburger Beschlüsse“, mit denen sich die Richterschaft parteipolitische Distanz auferlegt. Sie schreiben, dies führe zu einer „Verdammung alles Politischen“. Es sei „ein unnötiger atmosphärischer Graben“ entstanden. Sollen Richter wieder politischere Menschen werden?
Scheiber: Mir geht es nicht um Parteipolitik. Richter sollen Distanz zur Parteipolitik halten. Aber Richter müssen politische Menschen sein in dem Sinne, dass sie die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in allen Dimensionen wahrnehmen. Ich plädiere für eine gemeinsame gesellschaftliche Zusammenarbeit von Politik und Rechtsberufen, die im Moment zu wenig stattfindet. Fehlender Diskurs erschwert die Verbesserung des Systems. Das mag zum Teil an der Politik liegen, aber ich kann mich an Zeiten erinnern, wo der Justizausschuss im Parlament ein wirklich spannendes Gremium war, weil dort leidenschaftliche Juristen drinnen waren und es gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit mit Vertretern der Richterschaft gegeben hat.
Das heißt, die Politik verliert das Interesse an der Justiz und umgekehrt? Ist das der Grund für den stillen Tod der Justiz?
Scheiber: Es gibt eine wechselseitige Entfremdung. Und wir sehen in den Nachbarstaaten, wo autoritäre Tendenzen greifen, wie wichtig der Rechtsstaat für eine Demokratie ist. Die Polizei geht offensiv in die Medien, meiner Meinung nach schon zu offensiv. Wir haben heute Fernsehsendungen, wo Fernsehteams Polizisten begleiten, wie sie an Wohnungstüren läuten und den Leuten Vorhaltungen machen und fragen, ob sie in die Wohnung schauen dürfen. Das kann nicht der Weg der Justiz sein. Der Weg der Justiz wäre eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, wo man die Tätigkeit erklärt. Das würde ich mir wünschen. Ich sehe auch die Gefahr, dass sich der öffentliche Dienst gar nicht mehr zu Wort meldet, wenn Grundrechte verletzt oder bedroht werden. Wir müssen uns zum Beispiel eingestehen, dass uns beim Asylrecht wirklich der Rechtsstaat wegrutscht. Gewichtige Stimmen aus der Rechtsanwaltschaft bestätigen das.
Und warum schweigt die Beamtenschaft? Aus Feigheit oder aus parteipolitischer Enthaltsamkeit?
Scheiber: Wir haben traditionell eine stark obrigkeitsstaatliche Haltung. Ich glaube, dass auch die Befristung der höheren Beamten mitspielt. Die Befristung der Sektionschefs hat dazu geführt, dass das Josephinische Beamtenverständnis unter die Räder kommt. Leute, die sich keiner Partei, sondern nur der Republik und nur dem Recht verpflichtet fühlen, sind unter Druck geraten. Das zieht sich durch bis unten, weil auch der Sachbearbeiter seine Karriere gefährdet, wenn er sagt: „Ich finde das Schild Ausreisezentrum nicht okay in Traiskirchen.“
Die letzte Seite Ihres Buches ist der Klappentext: Da steht geschrieben, seit Christian Broda -das war der letzte sozialdemokratische Justizreformer – habe es ein solches progressives Plädoyer für die Erneuerung der Justiz nicht gegeben. Herr Scheiber, wollen Sie in die Politik wechseln?
Scheiber: (Lacht.) Nein.
Oliver Scheiber
geboren 1968, ist Jurist, Strafrichter und Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling. 1999-2000 leitete er die Justizabteilung an der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU in Brüssel. Er arbeitete im Kabinett von Justizministerin Maria Berger (SPÖ) und ist Vorstandsvorsitzender des Instituts für Rechts-und Kriminalsoziologie