Mit einer Oppositions-Wahlplattform zur „Van-der-Bellen-Mehrheit“ – derstandard.at/2000102489562/Mit-einer-Oppositions-Wahlplattform-zur-Van-der-Bellen-Mehrheit

Kommentar der Anderen für den STANDARD (Papierausgabe  4./5.5.2019)

Es braucht neue Mittel gegen autoritäre Tendenzen – auch eine ernsthafte Debatte über Minderheitsregierungen

Österreichs Oppositionsparteien erkennen die Gefahr der illiberalen Demokratie, machen aber den Fehler, nicht in großen Bahnen zu denken, findet Oliver Scheiber. Im Gastkommentar erklärt der Jurist und Publizist, warum bei der Europawahl im Mai eine Chance vergeben wurde.

Die Angriffe von Regierungspolitikern auf Journalisten und das öffentlich-rechtliche Fernsehen, der Umgang mit dem Verfassungsschutz, mit NGOs, mit Einrichtungen wie der Statistik Austria, die derben verbalen Ausritte von FPÖ-Politikern gegen politische Gegner machen klar: Es ist ein reales Szenario, dass sich Österreich in Richtung einer illiberalen Demokratie nach dem Muster Ungarns oder Polens entwickelt. Mehr noch: Es ist mittlerweile unklar, wie die ÖVP mit ihrem Regierungspartner eine solche Entwicklung vermeiden will. Das kürzlich bekannt gewordene Absinken Österreichs im Index der Pressefreiheit ist kein Zufall, es ist Ergebnis des Regierungshandelns. 

Alle österreichischen Oppositionsparteien – SPÖ, Neos, Jetzt und die derzeit nicht im Nationalrat vertretenen Grünen – haben die Gefahren für Rechtsstaat und Demokratie früh erkannt. In Parlamentssitzungen warnen ihre Abgeordneten regelmäßig und nachdrücklich vor autoritären Tendenzen. Aber das reicht nicht, und es ist nach allen Umfragen bisher auch ohne Wirkung auf die Wählerinnen und Wähler.

Gemeinsames Bündnis

Wenn wir über autoritäre Entwicklungen in Staaten wie Ungarn, Polen oder der Türkei sprechen, dann heißt es meistens: Die Opposition scheitert, denn sie ist nicht geeint. Österreichs Oppositionsparteien laufen Gefahr, in einer für das Land entscheidenden Stunde denselben Fehler zu machen: Sie denken nicht in großen Bahnen, marschieren getrennt, jagen sich wechselseitig Stimmen ab. Alle, die sich im Befund einig sind, dass Österreichs politische Situation ungewöhnlich ist, eben weil demokratische Strukturen abgebaut werden, müssten den logischen zweiten Schritt gehen: ungewöhnliche Mittel ergreifen.Das Mittel der Stunde wäre ein Zusammenwirken der Opposition in Form von Wahlplattformen oder Wahlbündnissen. SPÖ, Neos, Grüne, Jetzt sind sich in allen wichtigen demokratiepolitischen Fragen einig. Es wäre naheliegend gewesen, den Erhalt von Weltoffenheit, Demokratie, Pressefreiheit als gemeinsame Basis eines Wahlbündnisses bei der EU-Wahl zu nehmen.

Energieschub für Opposition 

Sichere Gewinner wären alle beteiligten Parteien gewesen. Die Listenplätze hätte man vorab aufgeteilt, gemeinsame Wahlkampfthemen hätten sich mit dem Ausbau der europäischen Integration, einer ernsthaften Klimapolitik oder etwa einer geänderten EU-Förderpolitik bei einigem guten Willen gefunden. Ergebnis wäre ein deutlich abgesicherter Platz eins am Wahlabend und ein starkes Signal für ein anderes, weltoffenes Österreich gewesen. Es hätte einen Energieschub für alle beteiligten Parteien bedeutet und die Botschaft des Miteinanders, des Nicht-spalten-Wollens, die alle Oppositionsparteien zu Recht vertreten, vom Schlagwort zum realen Beispiel erhoben. 

Der oft vorgebrachte Einwand, bei einem Wahlbündnis würden die Einzelparteien an Profil verlieren, überzeugt nicht. Wozu an diesem Profil weiterarbeiten, das keine politischen Erfolge zeitigt, wenn gleichzeitig der Umbau des Staates in Richtung illiberaler Demokratie fortschreitet? Es ist die staatspolitische Verantwortung der Oppositionsparteien, die interne Konkurrenz für einige Monate oder Jahre zurückzustellen, wenn es um die Absicherung von Demokratie und Rechtsstaat geht.

Eigenes Schattenkabinett

Blicken wir doch auf die Zahlen: Bei der Nationalratswahl 2017 erreichten die beiden aktuellen Regierungsparteien rund 57 Prozent der Stimmen, die aktuell im Parlament vertretenen Oppositionsparteien rund 40 Prozent. In Umfragen zur Nationalratswahl liegen ÖVP und FPÖ gemeinsam stabil bei etwa 56 Prozent, SPÖ, Neos, Jetzt und Grüne gemeinsam bei 40 bis 42 Prozent. Derzeit streiten die Oppositionsparteien also untereinander um das kleinere Kuchenstück, statt gemeinsam ihren Anteil am Kuchen entscheidend zu vergrößern. Wer die autoritären Tendenzen stoppen will, muss also danach trachten, den Anteil des Kuchens der derzeitigen Opposition auf mindestens 51 Prozent zu bringen. Dazu wäre ein Wahlbündnis mit drei, vier Leuchtturmprojekten, auf die man sich verständigen kann, vielleicht mit einem attraktiven alternativen, gemeinsam erstellten Schattenkabinett, ein neues Rezept.

Stärkung des Parlaments

Ein zweiter wichtiger Impuls neben Wahlbündnissen oder Wahlplattformen wäre eine ernsthafte Diskussion über Minderheitsregierungen – dies müsste auch im Interesse der ÖVP liegen. Der Kanzler stünde im Ansehen heute weit besser da, hätte er den Versuch einer Minderheitsregierung unternommen. Es war eine vergebene Chance, so wie schon im Fall der Amtsvorgänger Werner Faymann und Christian Kern. Das Modell der Minderheitsregierung erweitert die Zahl möglicher Regierungskonstellationen und beschränkt die Einflussmöglichkeiten populistischer Parteien. Es bedeutet ein schwierigeres Regieren, aber in einer erfahrenen Demokratie wie Österreich sollten die Parteien daran nicht scheitern. In Verbindung mit einer Lockerung des Klubzwangs könnten Minderheitsregierungen eine spürbare Belebung der parlamentarischen Demokratie und die wünschenswerte Stärkung des Parlaments bringen. Die autoritären Tendenzen im Land verpflichten zu entschlossenem Handeln für die Demokratie – und zwar nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition. 

(Oliver Scheiber, 5.5.2019) 

Oliver Scheiber ist Jurist und Publizist in Wien.
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