Unsere Gefängnisse sind zu billig – Gastkommentar für den FALTER 22/2014

Um Geld zu sparen, kommen psychisch Kranke nicht ins Krankenhaus, sondern in Haft. Das gehört geändert.
Gastkommentar: Oliver Scheiber 
Ein Mann, um die 30, steht vor Gericht. Er kroch in einen
Flaschenrückgabeautomat eines Supermarkts. Detektive nahmen den Mann mit von
Scherben zerschnittenen Armen am Flaschenförderband fest. Er wollte zehn
Flaschen neuerlich durchlaufen lassen und sich mit dem ergaunerten Leergutbon
ein Abendessen kaufen. Die Staatsanwaltschaft hat den potenziellen Schaden auf
zehn Euro geschätzt und beantragt, dass der Mann seine bedingte Strafe vom
letzten Mal –  gewerbsmäßiger Diebstahl
von Leerflaschen  – absitzen soll. Der Mann hätte dann rund ein Jahr
Haft vor sich.
Er ist dann einer von mehr als 8.000 Insassen unserer
Haftanstalten. Die Zahl der Häftlinge steigt seit Jahren, während die
Kriminalität sinkt. In Österreich kommen auf 100.000
Einwohner 104 Häftlinge. In Deutschland sind es 87, in Norwegen, Schweden,
Dänemark und den Niederlanden um die 70 und in Finnland nur 61 Insassen. Die
Quote der unter 18-Jährigen Häftlinge zählt mit 1,6 Prozent aller Gefangenen zu
den höchsten innerhalb der EU. Die Haft soll aber wenig kosten: Schweden (260
Euro), Norwegen (330 Euro) und die Niederlande (215 Euro) wenden pro Tag und
Häftling mehr als das Doppelte auf als Österreich (108 Euro).
Auch die Zahl der psychisch kranken Häftlinge
stieg in den letzten 20 Jahren rasant an. Die Justiz hat Aufgaben des
Gesundheitssystems übernommen und ist darauf nicht vorbereitet.
Justizwachebeamte mit Taserwaffen betreuen nun psychisch Kranke.
Noch vor zwanzig Jahren haben Gerichte
psychisch kranke Menschen meist nur nach schweren Gewaltexzessen in den
Justiz-Maßnahmenvollzug eingewiesen. Heute reichen dafür oft schwere
Sachbeschädigungen. Die Zwangsanhaltung kann dann Jahre andauern. Länder und
Gemeinden ersparen sich psychiatrische Infrastruktur. Die Entlassung aus dem
Maßnahmenvollzug scheitert regelmäßig an den fehlenden
Nachbetreuungseinrichtungen.
Seit den 1980er-Jahren entwickelt sich
der Strafvollzug in die falsche Richtung. Der Anteil der Justizwachebeamten
stieg (nun rd. 80%), Sozialarbeiter, Psychologen, Juristen, Mediziner wurden
weniger und verloren intern an Einfluss. Die Justizwachegewerkschaft baute ihre
Macht immer weiter aus. An die Stelle des Resozialisierungsgedankens der
1970er-Jahre trat ein Sicherheitsdenken. Die Gerichte handhaben die bedingte
Entlassung oft sehr restriktiv. Das Führungspersonal des Strafvollzugs agiert
aus der Defensive heraus. Die Mienen vieler Verantwortlicher spiegeln
Ängstlichkeit und Resignation.
Die Bilder, die der Falter nun aus dem
Strafvollzug veröffentlicht, sind in ihrer Dramatik schockierend. Der Super-GAU
ist nicht mehr zu leugnen. Justizminister Brandstetter hat recht, wenn er von
strukturellen Missständen spricht und eine Totalreform fordert. Aber wie kann sie
aussehen?
Die Diagnose ist brutal: das
Gesamtsystem ist kollabiert. Grenzüberschreitungen sind zur Normalität
geworden. Quer durch die beteiligte Berufe hat sich Apathie breit gemacht. Wenn
einem Häftling der Fuß abfault, dann ist nicht ein einzelner Justizwachebeamter
schuld; dann gibt es keine funktionierende Sozialarbeit, keine angemessene
medizinische Versorgung, keine Aufsicht. Die oft behauptete Ressourcenknappheit
ist eine billige Ausrede. Das Problem ist die Kultur des Strafvollzugs: Wer dort
Missstände aufzeigt, wird gemobbt – wie etwa im Vorjahr bei den Skandalen in
der Justizanstalt Josefstadt. Die vielen engagierten Beamten werden zu
Außenseitern gemacht.
Notwendig ist zunächst die Halbierung
der Insassenzahlen – sie ist ohne jegliches Sicherheitsdefizit machbar. Durch
eine Beschleunigung der Ermittlungsverfahren ließe sich die Zahl der rund 1800
U-Häftlinge halbieren. Die psychisch kranken Insassen sollten im
Gesundheitssystem versorgt werden, soweit sie überhaupt eine stationäre
Unterbringung benötigen. Die meisten von ihnen kämen mit einer guten
individuellen ambulanten Betreuung aus. Die bedingte Entlassung muss zur Regel
werden, so wie es das Gesetz vorsieht; eine Klassenjustiz, die Menschen wie den
eingangs erwähnten Flaschendieb einsperrt, muss ein Ende finden. Mit diesen
Maßnahmen ließe sich rasch ein Häftlingsstand von knapp unter 6.000 erreichen –
es entspräche der Zahl des Jahres 1989.
Eine Reform hat nur dann eine Chance,
wenn die Regierungsspitze kraftvoll dahintersteht. Die Halbierung der
Haftzahlen und Überführung der Masse der psychisch kranken Häftlinge ins
Gesundheits- und Sozialsystems bedarf einer Ergänzung durch neue
Ausbildungsmodule nicht nur für die Justizwache, sondern auch für Richter und
Staatsanwälte. Massive Planstellenverschiebungen vom bewaffneten Personal hin
zu Sozialarbeit, Psychologie, Medizin sind nötig. Das gesamte System muss neu
aufgesetzt werden. Eine ernsthafte Reform wird Experten einbeziehen, die dem
System vor einigen Jahren zu unbequem geworden sind.
Die ersten Reformankündigungen des
Justizministers machen Hoffnung. Der Zorn des Ministers ist ein Weckruf – an
alle, die mit dem Strafvollzug zu tun haben, an Parlament und Regierung. Eine
Reform des Strafvollzugs wird auf viel Widerstand stoßen; die Reform nicht zu
versuchen wäre unverzeihlich.  
Der Autor ist Strafrichter und Lehrbeauftragter an der Universität
Wien. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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