Allianz gegen die Gleichgültigkeit
Eine geringfügig gekürzte Version dieses Aufrufs erschien in der Zeitschrift
falter Nr. 15/2014Wir wiederholen unseren Aufruf zu Rassismus und Strafvollzug: Es ist Zeit,
Polizei und Justiz müssen handeln
Harsch kritisieren die Medien das Strafverfahren, das gegen Aktivisten der Refugee-
Bewegung in Wr. Neustadt wegen Schlepperei geführt wird. Zu Recht. Vor genau
einem Jahr (falter 14/2013) haben wir die Allianz gegen Gleichgültigkeit ins Leben
gerufen und an dieser Stelle begründet, warum Polizei und Justiz eine
Rassismusdebatte benötigen. Das Verfahren in Wr. Neustadt zeigt neuerlich die
Dringlichkeit des Anliegens. Viele Experten kritisierten die dünne Beweislage im
Neustädter Verfahren seit Beginn der Ermittlungen. Nun hat die zuständige Richterin
die Hauptverhandlung nach wenigen Tagen abgebrochen: mit diesem Aktenmaterial
könne sie nicht verhandeln. Die Staatsanwaltschaft zog den Haftantrag zurück,
nachdem die Verdächtigen acht (!) Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten.
Das Wiener Neustädter Verfahren wirft die Frage von institutionellem Rassismus neu
auf. Politisch missliebige Flüchtlinge, die eine Kirche besetzen, landen auf Zuruf der
wahlkämpfenden Innenministerin in Untersuchungshaft. Wir ziehen den Vergleich:
hätte eine ähnliche Drakonik auch Besitzer österreichischer Pässe getroffen? Legt man
denselben Maßstab, etwa was die Verhängung der Untersuchungshaft betrifft, in den
großen Wirtschaftsstrafsachen gegen Ex-Minister und Politiker an?
1999 startete mitten im Wahlkampf die „Operation Spring“, ein Großverfahren gegen
mutmaßliche Drogendealer, auf Zuruf des damaligen Innenministers. Am Ende stand
die Verurteilung von rund hundert Menschen dunkler Hautfarbe zu mehrjährigen
Haftstrafen. Bald war klar: man hatte keine Drogenbosse, sondern kleine Dealer
erwischt. Viele Verfahren strotzten vor Fehlern und Grundrechtsverstößen.
Dolmetscher hatten falsch übersetzt. Derselbe anonyme Zeuge machte in
Parallelverfahren unterschiedliche Angaben. Ein Großaufgebot der Polizei im
Gerichtsgebäude suggerierte der Öffentlichkeit die Gefährlichkeit der Angeklagten.
Die Strafen waren exzessiv. Der Film „Operation spring“ gibt anschauliche Einblicke.
Und nun die Wiederholung im Refugee-Verfahren: die Ermittlungen beginnen auf
Zuruf der Innenministerin kurz vor der Nationalratswahl. Fragliche Dolmetschungen
tauchen auf. Ein Dolmetscher habe etwa das Wort „Leute“ mit
„Schleppungsunwilligen“ übersetzt, berichten Medien. Ein solcher
Übersetzungsfehler passiert einem nicht einfach so.
Die Angeklagten haben nach der langen U-Haft weitere Zermürbung und enorme
Anwaltskosten vor sich. Die beabsichtigte Wirkung tritt ein: Einschüchterung der
Schwächsten der Gesellschaft. Und auch wer Flüchtlinge unterstützt, muss sich das
künftig drei Mal überlegen. Erst vor wenigen Wochen wurde eine Anklage gegen den
prominenten Flüchtlingshelfer Michael Genner von „Asyl in Not“ unmittelbar vor
Beginn der Hauptverhandlung zurückgezogen. Genners eindringliche Mahnung,
Fluchthelfer nicht a priori mit Verbrechern gleichzusetzen, hätte ihm beinahe eine
öffentliche Strafverhandlung wegen Gutheißens einer Straftat eingebracht.
Aus der Operation Spring hat man vor 15 Jahren keine ausreichenden Konsequenzen
gezogen. Der aktuelle Jahresbericht der Antirassismusinitiative „ZARA“ führt aus,
dass sich an der Rassimusproblematik in Polizei und Justiz „seit 15 Jahren offenbar
nichts Grundlegendes geändert“ hat und belegt dies mit Beispielen. Die Jahresberichte
von Amnesty International weisen regelmäßig auf strukturellen Rassismus hin. SOS
Mitmensch beklagt, dass der Verhetzungstatbestand bei verbalen Angriffen auf
Minderheiten nicht eingesetzt wird. Die laufende UN-Menschenrechtsprüfung
empfiehlt Österreich nachdrücklich, verstärkt Aktivitäten gegen Rassismus zu
unternehmen.
Nach wie vor verfügt die Justiz über keine strukturell angelegten Fehleranalysen, kein
Qualitätsmanagement, das nicht (überaus bremsend) rein auf disziplinäre
Konsequenzen abzielt, sondern – wesentlich produktiver – auf Systemverbesserungen
angelegt wäre. Polizei und Justiz benötigen dringender denn je eine andere
Fehlerkultur und professionelle Beratung zu Antirassismusstrategien und für den
Umgang mit Minderheiten und Schwachen. Es gibt dazu best practice-Modelle in
vielen Staaten und mit der Grundrechteagentur der EU Unterstützung direkt vor Ort in
Wien.
Zu einem solchen neuen Qualitätsmanagement sollte die richterliche Berufsvertretung
einen Beitrag leisten. Die Richtervereinigung hat zwar eine Ethikerklärung
verabschiedet. Allein, im Gerichtsalltag fehlt es immer wieder an der Umsetzung.
Eben erst wurde ein lange urgierter Workshop zum Thema „Institutioneller Rassismus
“ für das interne Seminar „Zukunft Justiz“ der Richtervereinigung abgelehnt. Man
versucht sich modern zu geben – und erstickt gleichzeitig internes kritisches
Engagement. Man vergibt die Chance, mit jungen ambitionierten Richterinnen und
Richtern neue Qualitätsstandards in Sachen Grundrechtsverständnis,
Kommunikationskompetenz und Europäisierung für eine multiethnische Gesellschaft
zu schaffen.
Vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle neben einer Rassismusdebatte auch eine
Reform des Strafvollzugs eingefordert. Kurz nach Erscheinen unseres Aufrufs wurde
der Fall der Vergewaltigung eines 14-jährigen Untersuchungshäftlings in der
Justizanstalt Josefstadt bekannt. Für den Jugendstrafvollzug wurde in der Folge ein
kluges Papier formuliert. Die Umsetzung liegt, von kleineren Änderungen im
Jugendstrafvollzug in Wien abgesehen, weiter auf Eis. Der Erwachsenenstrafvollzug
und im Besonderen der so genannte Maßnahmenvollzug für psychisch kranke
Menschen benötigen ganz dringend struktureller Reformen.
Die Allianz gegen die Gleichgültigkeit appelliert seit einem Jahr an das Parlament, an
die Ministerien und an die Vereinigungen der Rechtsberufe, im Feld „institutioneller
Rassismus in Polizei und Justiz“ und im Strafvollzug endlich (gesetzliche)
Maßnahmenpakete – und Tempo – zu entwickeln. Im Ernst: Es wird Zeit. Worauf
wird eigentlich gewartet?
Die UnterzeichnerInnen geben, soweit sie auch Funktionen ausüben, einzig ihre
persönliche Meinung wieder.
Mia Wittmann-Tiwald, Richterin, Co-Vorsitzende der Fachgruppe Grundrechte in der
RichterInnenvereinigung
Hannes Tretter ist Leiter des renommierten Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte in Wien
Maria Windhager ist Rechtsanwältin und eine der führenden Medienrechtlerinnen in Wien
Richard Soyer ist Rechtsanwalt, Universitätsprofessor für Strafrecht und Sprecher der
StrafverteidigerInnenvereinigung
Thomas Höhne ist Rechtsanwalt. Er ist Mitinitiator des Universitätslehrgangs
Informationsrecht an der Uni Wien
Barbara Helige, Richterin, Präsidentin der Österreichischen Liga für Menschenrechte
Alfred J. Noll, Rechtsanwalt und Universitätsprofessor in Wien, Mitglied im Ausschuss der
Rechtsanwaltskammer Wien
Manfred Nowak ist Universitätsprofessor für Verfassungsrecht. Er war UNSonderberichterstatter
gegen die Folter.
Alexia Stuefer ist Rechtsanwältin in Wien und Generalsekretärin der
StrafverteidigerInnenvereinigung.
Oliver Scheiber, Richter, Lehrbeauftragter an der Univ. Wien, Mitgründer der Fachgruppe
Grundrechte der RichterInnenvereinigung