Die Zeit der Verdrängung der NS-Vergangenheit in Deutschland und Österreich geht zu Ende. An die Stelle der Leugner, Verdränger und Verharmloser treten nun all zu oft Vertreter einer neuen Geschichtslosigkeit. Entscheidungsträger, denen das Wissen und Bewusstsein über historische Entwicklungen und die Wirkung von Symbolen fehlen. Diese Form der mangelnden Bildung durchzieht alle Bereiche. In der Politik finden wir sie vor allem bei ehrgeizigen Aufsteigern. In Österreich bei jungen Nationalratsabgeordneten aller Fraktionen, die einen Vertreter der extremen Rechten ins Nationalratspräsidium wählen. In Deutschland gerne bei der FDP, gut repräsentiert durch Außenminister Westerwelle und durch den neuen (man darf wohl schon sagen: Übergangspartei-) Vorsitzenden Philipp Rösler. Nur mit Unkenntnis der Geschichte und Negierung der Bedeutung des gemeinsamen Europa als Friedensprojekt lässt sich erklären, dass einer wie Rösler so plump zur Lage in Griechenland schwadroniert.
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Ähnlich auch in der Justiz: das Urteil des Landgerichts Köln zur Beschneidung von Kindern wird zwar in seiner Bedeutung überschätzt – es ist eine Entscheidung einer unteren Instanz, von einem Höchstgericht nicht überprüft. Doch es ist repräsentativ für einen unpolitischen, Geschichte ausblendenen Zugang (treffend dazu zuletzt Sibylle Hamann in der PRESSE am 4.7.2012), dessen Gefährlichkeit nicht unterschätzt werden sollte. Das erstaunlich knappe Urteil wägt zwar Grundrechte (körperliche Unversehrtheit, Religionsfreiheit etc) kurz ab, doch es reflektiert die Folgen und die Symbolik der Entscheidung mit keinem Satz. Man kann und sollte sich eine weitere Säkularisierung Europas wünschen, die vielen archaischen Dummheiten und Botschaften aller Religionen haben sich längst überlebt. Und dennoch: es ist eine Angst machende Unsensibilität und Blindheit, wenn gerade ein deutsches Gericht eine einzelne religiöse Handlung herausgreift, die neben den Angehörigen des Islam auch die jüdische Religionsgemeinschaft massiv betrifft. Eine solche Entscheidung erfordert die ausführliche Auseinandersetzung – auch innerhalb des Urteils – mit der Frage, ob ein solcher Eingriff im Lichte der Verantwortung Deutschlands (und auch Österreichs) für den Holocaust möglich ist. Die Antwort wird wohl lauten müssen: nein, derzeit noch nicht. Ganz sicher aber nicht als Einzelentscheidung; wenn, dann kann ein solcher – grundsätzlich positiver – Paradigmenwechsel zur Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlicher gegenüber der Macht der Religionen nur breit angelegt erfolgen, die vielen verschiedenen Eingriffe aller Religionen umfassend. Die reduzierte Begründung ist der wesentliche Mangel des Kölner Urteils. Das mögen die Richter gespürt haben: sie stellen zwar die Rechtswidrigkeit der Beschneidung fest, gelangen aber doch zu einem Freispruch. Juristisch wird das durch den Kunstgriff eines Verbotsirrtums möglich; eine Rechtsfigur, die sonst kaum Anwendung finder.