Gastkommentar für den falter.at: Die neue Regierung ist ein kleines Wunder. Und ein großer Auftrag.

Die Stärkung der Institutionen ist die zentrale Aufgabe der kommenden Jahre – daran sollten sich Viele beteiligen

von Oliver Scheiber
Dreier-Koalitionäre Andreas Babler (SPÖ), Beate Meinl-Reisinger (Neos), Christian Stocker (ÖVP) – v.l.n.r.© APA/Roland Schlager

 

Österreich hat eine neue Regierung, mit einem respektablen Programm und starken Persönlichkeiten. Das ist, in einer Phase, in der weltweit Demokratien kippen und autoritäre Bewegungen an die Macht kommen, ein kleines Wunder. In vielen Ländern befinden sich die konservativen wie auch sozialdemokratischen Traditionsparteien in der Krise, sind zum Teil bereits untergegangen oder unbedeutend geworden – Italien oder Frankreich sind Beispiele dafür. Es hat sich gezeigt, dass die Lücken hinter diesen Sammelparteien nicht von demokratischen Kräften gefüllt werden, sondern in der Regel von neuen Bewegungen, die zu autoritärem Agieren und Regieren neigen. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass sich das demokratische System aktuell nur dann stabilisieren lässt, wenn sich konservative wie sozialdemokratische Traditionsparteien erneuern.

Die letzten Wochen der österreichischen Innenpolitik Wochen lassen sich vorsichtig positiv beurteilen. Während sich in unmittelbarer Nachbarschaft – in Ungarn, Serbien und der Slowakei, in Italien ist die Lage noch widersprüchlich – zuletzt autoritäre oder zumindest autoritär gesinnte Regierungen etablieren konnten, schaffte Österreich doch die Wendung hin zur Regierung der Mitte.

Die Prozesse der letzten Wochen lassen sich auch als Resilienz des österreichischen demokratischen Systems lesen. Der Schock des radikalen Umbaus der USA ab dem Amtsantritt von Donald Trump hat die Bildung einer Mitte-Regierung sicher begünstigt. Trump hat der Welt vorgeführt, wie rasch sich zum Teil Jahrhunderte lang gewachsene demokratische Institutionen zerschlagen lassen. Zur Bildung der Mitte-Regierung in Österreich haben aber auch zivilgesellschaftliche Proteste und Initiativen gegen eine FPÖ-geführte Koalition beigetragen; die Warnungen und Positionierungen prominenter ehemaliger Politiker:innen, einzelne Zeichen wie der Appell am Titelblatt des Falter und starke Texte angesehener Kommentator:innen.

Die erfolgte Regierungsbildung ist aber auch eine Leistung der handelnden Akteure und Hinweis auf einen Erneuerungsprozesses von ÖVP und SPÖ. Nach vielen Volten wählte Christian Stocker im entscheidenden Moment doch den Kompromiss im Sinn der Werte der Zweiten Republik. Die Regierungserklärung Stockers vom 7. März hat durch die Bezugnahme auf die Gründung der Zweiten Republik und gemeinsame historische Erfolge von ÖVP und SPÖ, wie den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, die ÖVP wieder als staatstragende Partei der Mitte definiert. Die unaufgeregte Führung Stockers gibt der ÖVP die Chance, diese Periode auch zur Rückbesinnung auf ihre traditionellen Stärken zu nutzen, zu einer konstruktiven Europapolitik zurückzufinden und die Rolle der Sozialpartnerschaft neu wertzuschätzen.

Andreas Babler wiederum steht noch viel mehr für einen innerparteilichen Erneuerungsprozess. Babler hat die Partei unter anderem für Expertinnen und Experten im größten Umfang seit der Ära Kreisky geöffnet. In den Landeshauptstädten sind die Erfolge des sozialdemokratischen Erneuerungsprozesses bereits sichtbar. In Salzburg, Linz und Innsbruck sind neu gewählte, jüngere, moderne sozialdemokratische Politikerinnen erfolgreich. Damit steht Babler in der ersten Reihe europäischer Erneuerer der Sozialdemokratie; der österreichische Reformprozess ist mit jenem des italienischen Partito Democratico vergleichbar, den Elly Schlein einige Wochen vor Babler im März 2023 eingeleitet hat und die mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen hat wie Babler. In Bablers Regierungsteam finden sich Persönlichkeiten, die an prägende sozialdemokratische Politiker:innen der letzten Jahrzehnte anknüpfen. Das starke Regierungsteam ist im Übrigen eine Parallele zum Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der wohl einen erheblichen Anteil am Zustandekommen der aktuellen Regierung hat.

Die kleineren Parteien haben Ihren Anteil zur Stabilisierung des Landes ebenfalls geleistet. Die Neos durch ihren Regierungseintritt, die Grünen durch die offensive Unterstützung der Bildung einer Regierung, von der sie wussten, dass sie ihr wohl nicht angehören werden. Umso bemerkenswerter ist der leidenschaftliche Einsatz Werner Koglers für eine Mitte-Regierung in den letzten Wochen.

Die Bildung einer Regierung der Mitte verschafft dem Land eine Atempause, die sich viele andere Staaten wünschen würden. In der weltweiten Demokratiekrise erhält Österreich die Chance, das System der checks and balances, also der wechselseitigen Kontrolle staatlicher Institutionen und Akteure, zu verbessern. Die zentrale Aufgabe dieser Regierung muss es sein, jene Institutionen, die für Demokratie und Rechtsstaat entscheidend sind, zu stärken und gegen mögliche Angriffe autoritärer Bewegungen abzusichern.

Der von der Regierung vorgesehene Konvent bildet einen möglichen Rahmen für eine Verfassungsreform, die Parlament, Medien und Justiz stärken müsste. Das Parlament könnte durch den Aufbau eines großen Rechtsdiensts in seiner Unabhängigkeit gegenüber der Regierung gestärkt werden. Zur Stärkung der Medienvielfalt und des öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es in Österreich schon Ideen und Vorschläge von Expertenseite. Das gilt auch für Verwaltungsreformen und die geplante Jahrhundertreform der Einrichtung einer Bundesstaatsanwaltschaft, die die Staatsanwaltschaften endlich unabhängig von der jeweiligen Regierung macht.

Schließlich geht es um den Bestellmodus hoher Organe, etwa der Verfassungsrichter/innen. In den letzten Jahren hat zudem die Regierung hohe Funktionen, wie etwa die Leitung des Bundesverwaltungsgerichts oder der Bundeswettbewerbsbehörde, lange unbesetzt gelassen. Für diese Problematik des Untätigseins gilt es eine Lösung zu finden. Eine von mehreren denkbaren Varianten wäre es, dass in solchen Fällen der Bundespräsident an Stelle der Regierung mit der Auswahl einer Person aus den vorgeschriebenen Besetzungsvorschlägen betraut wird.

Der Erfolg der Regierung wird im Wesentlichen davon abhängen, ob Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger im Alltag schnell sichtbar werden. Im Justizbereich geht es etwa vor allem darum, den Zugang zum Recht einfacher zu machen. Österreich verfügt über moderne Gesetze, aber es ist oft zu kompliziert, zu teuer oder zu schwierig, die eigenen Rechte durchzusetzen. Moderne Servicecenter und die Möglichkeit, Anträge unkompliziert mündlich zu Protokoll zu geben, und die Ausdehnung der durch Verfahrenshilfe unterstützten anwaltlichen Vertretung können hier Abhilfe schaffen und für die Bevölkerung sichtbare Erleichterungen bringen.

Die Regierungsspitzen haben in ihren ersten Erklärungen oft die Worte „Zuversicht“ und „Konsens“ verwendet. Im Idealfall werden diese Begriffe am Ende eine taugliche Zusammenfassung der Regierungsperiode darstellen. Breite Beteiligungsprozesse und ein Zugehen der Regierung auf die Zivilgesellschaft sind ein Weg dahin. Viele Bürgerinnen und Bürger, die politisch interessiert sind und etwas einzubringen haben, sollten umgekehrt die Bemühungen der Politik der letzten Monate und die Leistung der Bildung einer Regierung der Mitte dadurch würdigen, dass sich ganz viele Menschen in gesellschaftliche und politische Prozesse einbringen – auf allen Ebenen: in der Gemeinde, am Arbeitsplatz, in den vielen Dienststellen der Verwaltung, nicht zuletzt auch durch temporäre oder dauerhafte Mitarbeit in Initiativen und in den konstruktiven politischen Kräften. Österreich hat in den letzten Monaten regelrecht um Demokratie und Gemeinsamkeit gerungen; dass dieses Ringen erfolgreich war, sollte dem ganzen Land Auftrieb geben.

Oliver Scheiber ist Richter und Publizist in Wien. Er war Mitinitiator von Antikorruptionsvolksbegehren und der Initiative „Bessere Verwaltung“.

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Portugal

Portugal ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Land. Die Lebensart ist angenehm, Lebensfreude und Melancholie sind richtig gemischt. 1974 wurde die lange Diktatur durch die gewaltfreie Nelkenrevolution beendet. In jüngerer Zeit dominiert meist eine sachliche, solidarische Politik, die Wirtschaft stabilisiert sich, eine liberale Drogenpolitik zeigt positive Ergebnisse, auf die Coronapandemie wurde mit kluger Sozialpolitik reagiert.

Die großen Städte Lissabon und Porto sind unprätentiös und edel zugleich. Hochkultur ist vorhanden, aber die Kultur durchzieht wie in vielen romanischen Ländern den Alltag der Menschen. Nationalfeiertag des Landes ist der Todestag des Nationaldichters Luis de Camoes (16. Jhdt). Seine Lyrik setzt die Fadosängerin Lina Cardoso Rodrigues in ihrem neuen Album ein. Das faszinierende Programm zeigte sie heute im Akzenttheater in Wien.

https://www.museudofado.pt/en/fado/persolanity/carolina-en

https://www.geo.de/wissen/weltgeschichte/50-jahre-nelkenrevolution–ein-bild-und-seine-geschichte-34653738.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Lu%C3%ADs_de_Cam%C3%B5es

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Unwirkliche Stunden

Es sind so unwirkliche politische Stunden wie zuletzt im Jahr 2000, als sich die Schwarz-blaue Regierung in Österreich bildete. Vor wenigen Tagen erst wurde eine Kundgebung für 9. Jänner  angekündigt, und heute sind zehntausende Menschen vor dem Bundeskanzleramt, 50.000 schätzen die Organisatoren, 25.000 melden die Behörden.

Das Wetter spielt mit, es bleibt trocken und ist nicht all zu kalt. Man geht durch die Menge und trifft alle paar Meter bekannte Gesichter. Im Bundeskanzleramt sind viele Lichter aufgedreht. Karl Nehammer wird morgen sein Amt zurücklegen. Vor seiner Haustür zehntausende besorgte und aufgebrachte Menschen. Einen solchen letzten Abend im Amt hat wohl bisher kein Kanzler erlebt. Dabei hat Nehammer den Bund mit der extremen Rechten konsequent abgelehnt, seine eigene Partei verweigerte ihm die Gefolgschaft in der politischen Integrität.

Ausgerechnet während der Kundgebung lässt die ÖVP ihre Bereitschaft zu Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ über die Agenturen laufen. Die Kundgebung endet gegen 20 Uhr bei ruhigem Wetter. Wenige Stunden später bricht starker Sturm über Wien herein.

Bericht im Standard

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Capodanno

Jahreswechsel in Palermo. Vor wenigen Wochen wurde in Siziliens Hauptstadt Italiens stellvertretender Ministerpräsident Salvini nach langer Strafverhandlung vom Vorwurf der Freiheitsberaubung und des Amtsmissbrauchs freigesprochen. Der Staatsanwalt von Palermo hatte Salvini angeklagt, nachdem dieser 2019 als damaliger Innenminister ein Rettungsschiff mit Flüchtlingen über Wochen nicht in einen italienischen Hafen einlaufen hatte lassen. Der Fall zeigt das Ringen um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, das für unsere Zeit so kennzeichnend ist. Nicht nur Politiker werden in Italien immer wieder wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt, sondern auch Flüchtlingshelfer:innen wegen Schlepperei. In Italiens Justiz sind unterschiedliche Zugänge vertreten, und das Land hat ein hohes Niveau an rechtswissenschaftlichem Diskurs und Strafrechtskultur. Das verschafft der Justiz gerade im Süden Ansehen in der Bevölkerung: der Flughafen von Palermo ist nach den 1992 ermordeten Mafiaermittlern Paolo Borsellino und Giovanni Falcone benannt. Fotografien der beiden Richter finden sich in den meisten Justizgebäuden Siziliens, an Hausmauern und in vielen Wohnungen. Seit einigen Jahren gibt es im Zentrum Palermos ein No-Mafia-Memorial mit angeschlossenem Museum. Eine zivilgesellschaftliche Initiative.

In Italien stehen Rechtsstaat und Demokratie aktuell auf der Probe. Die letzten Wahlen haben eine Mehrheit rechter und rechtsextremer Parteien gebracht. Ministerpräsidentin Meloni versucht nun, mit freundlicher Miene Richtung Brüssel, das Land autoritär umzubauen: durch gezielte Schwächungen der Justiz, des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, freier Medien und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und durch die bewusste Überschreitung menschenrechtlicher roter Linien.

So stark Italiens Institutionen sich in der Vergangenheit erwiesen haben, etwa im Widerstand gegen autoritäre Umbaupläne des früheren Ministerpräsidenten Berlusconi, zu Jahresbeginn 2025 befindet sich Österreich in der besseren politischen Situation. Mit dem eigenen Land ist man, auf Grund der emotionalen Bindung, meist kritischer als mit anderen Staaten. Mit ein bisschen Distanz wird der Blick milder. Ein „Wiener“ Neujahrskonzert am Politeama Garibaldi-Konzerthaus von Palermo trägt dazu bei. Am 1. Jänner leitet hier der Wiener Dirigent Peter Guth das Symphonieorchester Siziliens. So kann man am Neujahrstag in Palermo ua die Strauss-Polka „Im Krapfenwald`l“ hören und, zum Abschluss des Konzerts, den Donauwalzer. Das Konzert ist nicht nur Beleg des Erfolgs österreichischer Kultur, sondern auch des Zusammenwachsens Europas, des Entstehens einer europäischen Identität. Wenn so oft von Krisen die Rede ist, sollen wir das Positive nicht übersehen. Die europäische Einigung hat den beteiligten Ländern bereits 80 Jahre Frieden gebracht.

2025 feiert Österreich nicht nur 80 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus, sondern auch 30 Jahre Zugehörigkeit zur Europäischen Union. In 20 Jahren, so wollen wir hoffen, wird Österreich 100 Jahre durchgehender Demokratie begehen können und dann die Hälfte dieser Zeit eingebettet in ein gemeinsames Europa verbracht haben.

Die Errichtung der Zweiten Republik wie auch der Beitritt zur Europäischen Union war wesentlich von den beiden Traditionsparteien ÖVP und SPÖ getragen. Ihr Zusammenwirken hat Österreich diese lange Periode der Demokratie gesichert. Das sollte man in Zeiten, wo jedes Jahr mehrere Staaten vom demokratischen ins autoritäre Regime kippen, schätzen. Man konnte in der Vergangenheit einiges am politischen Kurs von Bundeskanzler Nehammer kritisieren; im entscheidenden Moment nach der Wahl vom September 2024 hat er eine unbeugsame demokratische Haltung bewiesen und der Versuchung einer einfachen Regierungsbildung mit der extremen Rechten widerstanden. Das verdient Respekt; dieselbe Wertschätzung gilt den weiteren Regierungsverhandlern Andreas Babler und Beate Meinl-Reisinger, die sich mit Nehammer um eine Regierung der politischen Mitte bemühen. Eine solche Koalition ist, von einer Minderheitsregierung abgesehen, die einzige verantwortungsvolle politische Option.

Das Weltgeschehen ist aktuell von oft skrupellosen Populisten bestimmt, die Frieden, Demokratie und Rechtsstaat gefährden, verspielen und nicht selten bewusst zerstören. Lange Regierungsverhandlungen sind da im Vergleich kein Unglück und langweilig wirkende Politik ist oft die bessere – Österreich sollte es nach den Erfahrungen mit seinen begabten Populisten wissen.  Die Hoffnung auf gute politische Jahre ist intakt, machen wir etwas daraus.

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Zum Jahreswechsel

Es gibt das Bild der Geburtslotterie: Wo wir geboren werden, suchen wir uns nicht aus, und man kann es gut oder weniger gut treffen. Es gibt Orte, an denen ist für die meisten Menschen ein hartes Leben vorgezeichnet. Und es gibt Orte, die zumindest eine recht gute Chance für ein glückliches Leben bieten.

Oft sind es kurze Begegnungen, die uns daran erinnern, wie ungleich Chancen und Glück verteilt sind. Letzte Woche bin ich mit einem jungen Mann, Enis, vielleicht an die 30, ins Gespräch gekommen. Er arbeitet in Wien in der Gastronomie. 2015 ist er mit seinem Bruder aus Syrien vor Krieg und Verfolgung nach Österreich geflüchtet, hat Asyl erhalten, arbeitet seit Jahren als Koch und Kellner. Die Eltern der beiden Brüder, die als Jugendliche nach Europa geflüchtet sind, blieben in Syrien zurück. Das Assad-Regime erlaubte Auslandssyrern, die 2015 geflüchtet waren, die Wiedereinreise nur gegen Bezahlung von 10.000 Euro. So konnte Enis seine Eltern auch nicht besuchen, nachdem er einen Daueraufenthaltstitel in Österreich erlangt hatte. Jahrelang sparte er, um auf der Konsularabteilung der syrischen Botschaft ein Einreisevisum kaufen zu können, wie er mir erzählt. Im Sommer 2024 hatte Enis endlich 10.000 Euro beisammen, ging auf die Botschaft Syriens, bezahlte 10.000 Euro und erhielt ein Visum, um seine Eltern in Syrien besuchen zu können. Sein Bruder hatte es nicht geschafft 10.000 Euro anzusparen, also flog Enis allein nach Syrien. Drei Wochen verbrachte er bei seinen Eltern, besuchte Freunde und Angehörige. „Meine Eltern und ich haben nahezu drei Wochen durchgehend geweint. Um die verlorenen Jahre, über das Wiedersehen, über die bevorstehende Trennung.“ Enis ist zurück in Wien, er arbeitet wieder.

Das Assad-Regime ist gefallen, die Zukunft des Landes ungewiss. Immerhin, das 10.000-Euro-Visum ist fürs Erste abgeschafft.

Menschen und Medien hier in Europa sprechen und schreiben vielfach von illegaler Migration, von Integrationsproblemen, von hohen Sozialleistungen. Oft haben sie wenig Ahnung von den tatsächlichen Lebensverhältnissen geflüchteter und zugewanderter Menschen. Von den traumatisierenden Gewalttaten in Herkunftsländern und auf der Flucht, vom Drama getrennter Familien, wo Kinder jahrelang ihre Eltern oder Geschwister nicht sehen, von den Enttäuschungen und Demütigungen, die Geflüchtete wie Zugewanderte in Europa mitunter erleben.

Im Grunde ist es einfach: geflüchtete und zugewanderte Menschen sind nicht bessere Menschen. Aber eben auch nicht schlechtere. Sehr oft verletzte und verletzliche Menschen und sehr oft jene, die die unbeliebtesten Jobs übernehmen und so unseren Wohlstand mittragen. Und ganz sicher sind sie nicht schuld an den existenziellen Problemen unseres Kontinents – an Klimawandel, Kriegen, Wohlstandsgefälle. Erst wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, kann Europa seine nach 1945 aufgebaute Stärke wiederfinden – als Kontinent, in dem Solidarität und Menschenrechte möglichst Vielen ein glückliches Leben schenken.

Bild: Josef Schützenhöfer – „71“

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